Im Kino

Die Unruhe selbst

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
16.04.2008. Irrungen, Wirrungen einer Theaterschauspielerin: In "Actrices", ihrem zweiten Film als Regisseurin bringt Valeria Bruni-Tedeschi Leben und Bühne aufs Tragikomischste durcheinander. Gerd Kroske hat für "Kehraus, wieder" ein drittes Mal die Protagonisten seines Straßenkehrer-Films "Kehraus" aufgesucht - die Lebenden und die Toten.


Schauspielerin zu sein ist für Marcelline (Valeria Bruni-Tedeschi) mehr als ein Job. Und umgekehrt ist ihr Leben nur ein - von hysterischen Momenten nicht freies - Spiel. Mit einem Wort: Marcelline laboriert an einem vertrauten Syndrom des Theater- und Schauspielerfilms. Die eigene Identität wird unklar, die Grenze zwischen Realität und Imagination verschwimmt. Auf der Bühne, weil Marcelline, indem sie spielt, nicht nur mit der Figur, sondern auch mit sich selbst konfrontiert ist und deshalb nicht nur über die Figur, sondern auch über sich selbst viel erfährt. Und Widerstände entwickelt, gegen die Figur - hier: Natalja Petrowna aus Turgenjews "Ein Monat auf dem Lande" - , gegen sich selbst, gegen den Regisseur (Mathieu Amalric), der ihr abverlangt, Kleider zu tragen, die ihr (als Privatperson) nicht stehen. Und im Leben, wo Marcelline in eine existenzielle Krise gerät, weil sie vierzig wird und unter einer dominanten Mutter (gespielt, auch das noch, von Bruni-Tedeschis richtiger Mutter Marisa Borini) leidet, keine feste Beziehung hat und keine eigene Familie. Es kommt so weit, dass ihr nicht nur ihr Vater (Maurice Garrel) erscheint, der tot ist, sondern auch Natalja Petrowna, die es nie gab.

Übertragungen, wohin man sieht. Der junge Darsteller verliebt sich in Natalja Petrowna bzw. in Marcelline, die hier wie so oft nicht weiß, wie ihr geschieht. Was sie tut, mit wem sie spricht, wohin sie geht: Sie ist die Unruhe selbst. Zum Ausgleich geht sie schwimmen, aber auch da gibt es immerzu Gegenverkehr. Marcelline ist eine Frau auf dem Weg zum Nervenzusammenbruch, eine Verwandte zu ungefähr gleichen Teilen der Myrtle aus John Cassavetes' Theaterfilmklassiker "Opening Night" und der Nathalie aus "Oublie moi", die Bruni-Tedeschi einst selbst gespielt hat. Unter der Regie übrigens von Noemie Lvovsky, die nun in "Actrices ... oder Der Traum aus der Nacht davor" unter dem Figurennamen Nathalie die wichtigste Nebenrolle spielt - fast wäre es eine zweite Hauptrolle, könnte es neben jemandem wie Marcelline etwas anderes als Nebenrollen geben. Nathalie ist zunächst eine Art Gegenmodell zur Exzentrikerin Marcelline, sie hat nicht die Karriere, sondern die Familie gewählt, ist Mutter, in einer festen Beziehung - allerdings kommt diese Stabilität, kaum ist Nathalie in die Einflusssphäre Marcellines (oder des Theaters) geraten, schnell arg ins Wanken. Und Marcelline gibt, ohne zu wissen warum, aber zu allem entschlossen, Nathalies Kind die Brust.


"Actrices" erzählt aus dem Leben Marcellines. Viel von den Proben, auf denen die Unsicherheit mal für mal ihren Ausdruck findet, etwa wenn sie auf der Bühne vor einer Tür steht und sich partout nicht entscheiden kann, ob sie sie nun mit der linken oder der rechten Hand öffnen soll. (Am Ende tritt sie sie ein.) Viel aus dem Leben, in dem sie zur Jungfrau Maria betet und tags darauf nimmt sie ihr Gebet wieder zurück. "Actrices" ist, auch wenn es vielleicht nicht so klingt, eine Komödie, allerdings eine, die das, worüber sie lachen lässt, nicht zu leicht nimmt. Man lacht, weil es immer noch besser ist, all die Irrungen, Wirrungen lustig zu finden als sie sich zu sehr zu Herzen zu nehmen. Man lacht, um die Tragödie, die jederzeit möglich scheint, abzuwenden. Und weil der Film allerlei Durcheinander in Herz und Verstand seiner Figuren zulässt, ist er zwar einerseits selbst ein bisschen sprunghaft, aber eben darum auch so springlebendig, dass es eine Lust ist. Und wenn Marcelline dann am Ende tatsächlich springt, von einer Brücke in einen Fluss, dann ist das auch wieder etwas anderes als das, wonach es aussieht.

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Die Frau auf dem Friedhof klappt den Zollstock aus, misst nach auf dem Gras, geht ein paar Schritte und bleibt dann stehen: Hier muss er liegen, in einem nicht nur namenlosen, sondern als solches überhaupt nicht erkennbaren, unsichtbaren Armengrab. Es ist im Tod wie im Leben. Monatelang lag Stefan Seide tot in seiner Wohnung, niemand hat ihn vermisst, kein Verwandter, kein Freund war da, ihn zu beerdigen. Es gab kein Geld, keine Dokumente, es gibt niemanden, der etwas über diese letzten Jahren weiß. Das Leben des Stefan Seide: eine beinahe unbezeugte Existenz.

Beinahe nur, denn: Im Jahr 1989 drehte der Dokumentarfilmer Gerd Kroske "Kehraus", einen dreißigminütigen Film über drei Straßenkehrer in Leipzig - Gabi, Henry und Stefan. Eine Langzeitbeobachtung war ursprünglich nicht geplant, aber im Jahr 1996 kehrte er zurück für "Kehrein, Kehraus", um nachzusehen, wie es seinen Protagonisten von damals ergangen war. Nicht gut, ihre Jobs hatten die meisten von ihnen verloren. Zehn Jahre später hat Kroske erneut in Leipzig gedreht, suchte die Straßenkehrer von einst und musste erfahren, dass einer von ihnen nicht mehr am Leben war: Stefan Seide, auch seine damalige Freundin Marlen ist tot. "Kehraus, wieder" belässt es nun nicht dabei, sondern rekonstruiert die letzten Jahre der beiden, sucht und findet die wenigen Spuren, die bleiben in den Akten von Ämtern und den Erinnerungen von Menschen, die Marlen und Stefan begegnet sind. Zugleich dokumentiert er den Alltag von Henry und Gabi. "Kehraus, wieder" erzählt, als wären sie gleichberechtigt, von den Lebenden und den Toten.

Die Lebenden: Gaby, die von Hartz IV lebt und zwei Kinder hat; mit der Tochter gab es jahrelang keinen Kontakt, sie wurde, wie sie nun dem Dokumentarfilmer erzählt, jahrelang vom damaligen Partner der Mutter missbraucht. Henry, der, vor allem, weil sich offline wenig tut, ständig online unterwegs ist, chattet und spielt, dreiundfünfzig Stunden am Stück, erzählt er, ist sein Rekord.


Die Toten: Marlen, an die sich der Leiter einer Entgiftungsklinik nicht mehr erinnern kann, an die sich die aber, die sie kannten, erinnern als einen immer positiven Menschen. Und eben Stefan, der einfach verschwunden ist noch aus den paar Leben, die er überhaupt noch tangierte. In der Pathologie gibt es ein Foto, identfizierbar ist Stefan am Tattoo. Eine dürre Akte noch zum Todesfall, aus vergilbten Registern gezogen, und eben das Armengrab.

"Kehraus, wieder" ist ein nüchterner Film, der seine Empathie ganz ins Suchen und Zeigen und Wissenwollen legt. Gerd Kroske urteilt nicht explizit, weder über die Menschen, die ihre Nischen am untersten Ende der Gegenwartsgesellschaft gefunden haben, noch über eine Gesellschaft, die an die - mitunter auch aus eigener Schuld - Deklassierten das Hartz-IV-Existenzminimum rüberreicht, ohne ihnen weitere Teilhabechancen zu eröffnen. Aber gerade indem er dem Zuschauer nicht vorschreibt, was er über das, was zu sehen ist, denken soll, lässt er Gabi und Henry und Marlen und Stefan, den Lebenden und den Toten, ihre Würde.

Actrices ... oder der Traum aus der Nacht davor. Frankreich 2007 - Originaltitel: Le reve de la nuit d'avant - Regie: Valeria Bruni Tedeschi - Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi, Louis Garrel, Noemie Lvovsky, Valeria Golino, Mathieu Amalric, Maurice Garrel, Marisa Borini

Kehraus, wieder. Deutschland 2006 - Regie: Gerd Kroske - Darsteller: (Mitwirkende) Gabriele Koch, Marion Richter, Henry Radny, Marlen Dietze, Stefan Seide, Caterina Koch, Ingo Koch, Peggy Ranfeld, Dieter Tinibel, Annelies Herbert, Werner Hartkopf
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