Im Kino

Der heilige Wal

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
26.04.2023. Darren Aronofsky inszeniert Brendan Fraser in "The Whale" in beschwörenden Großaufnahmen als todgeweihten Wal auf dem Trockenen. Aber der Film interessiert sich weniger für den körperlichen Verfall als für das gesprochene Wort. Mit teils absurd überzeichneten Figuren erinnert der Film eher an eine Sitcom, die allerdings unverschämt nahe am Wasser gebaut ist.

Ein Film, der einem in seiner konzentrierten, entfärbten Gleichförmigkeit Raum gibt zum Nachdenken, zum Abschweifen. Zum Beispiel beginne ich irgendwann, mir Gedanken über die Redewendung "schwer übergewichtig" zu machen … was für eine sonderbare Dopplung: Das "schwer" meint grammatikalisch schließlich nicht das Körpergewicht, sondern bezieht sich verstärkend auf "übergewichtig" (wie in "schwer krank"), schleicht sich gewissermaßen heimlich, fast hinterlistig in die Formulierung ein. Wer so bezeichnet wird, hat eine doppelte Last zu tragen: übergewichtig und dann auch noch schwer.

Die Last trägt in "The Whale" der Englischlehrer Charlie (Brendan Fraser). Aufgequollen und kaum noch mobil verbringt er seine Zeit im tristen Halbdunkel seines Apartments, zumeist sitzt er auf dem Sofa, unterhält sich per Skype (anstatt wie heute per Zoom) mit Student:innen über ihre Essays oder schaut fern. Es laufen die Primaries vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen des Jahres 2016. Die einigermaßen exakte zeitliche Datierung rückt die Handlung vier Jahre näher an die Gegenwart heran als das gleichnamige Bühnenstück von Samuel D. Hunter es tat, welches Darren Aronofskys neuer Film ansonsten weitgehend werktreu adaptiert. In gewisser Weise handelt es sich dennoch eher um eine negative denn um einen positive Verortung, da sie gleich zwei naheliegende Zeitbezüge ausschließt: Was wir sehen, ist (noch) nicht (ganz) das Trump-Amerika und auch nicht das Corona-Amerika. Vielmehr ein Amerika des ewigen, zeitlosen Dahindämmerns, dem nur zufällig das Label "2016" angeheftet wird.

Aber das ist schon wieder eine Abschweifung. Bleiben wir, wie der Film fast durchgängig, bei Charlie. Hilflos fläzt er sich auf dem Sofa, wie ein Walfisch auf dem Trockenen (wo Wale länger überleben können als andere Fische; die titelgebende Metapher hat mindestens einen doppelten, vermutlich eher einen dreifachen Boden - primär bezieht sie sich ohnehin nicht auf Charlie, sondern auf Melvilles Moby Dick), stopft Süßigkeiten und Pizza in sich hinein, masturbiert zu schwuler Pornografie. Seine Pflegerin Liz (Hong Chau) stellt früh im Film klar, was uns erwartet: die Chronik eines angekündigten Todes. Charlies Blutdruck sprengt alle Skalen, und da er sich weigert, ein Krankenhaus aufzusuchen, bleiben ihm nur wenige Tage zu leben.

Der nahende Tod ist freilich nicht das Thema des Films. Mehr noch: Der körperliche Verfall Charlies, so spektakulär, effektbewußt und bisweilen exploitativ er auch inszeniert sein mag, bleibt letztlich ebenfalls Oberflächenphänomen. Nicht umsonst zählen zu den spektakulärsten Szenen des Films jene, in denen Brendan Fraser sich, von Rob Simonsens majestätisch aufbrausendem Score kongenial unter die Arme gegriffen, doch aufrichtet, zu voller Größe (1,91 Meter), seine künstliche, genialen Maskeneffekten zu verdankende Leibesfülle gleichzeitig ausstellt und überwindet. Kein todgeweihtes Wrack sehen wir in diesen Momenten vor uns, sondern ein den Sphären des Menschlichen bereits enthobenes Wesen. Der groteske Körper wird zum erhabenen, zum heiligen Wal.


Ein paar Mal begibt Charlie sich sogar vor die Tür, auf die Veranda. Wie der Wal, wenn er aus den Tiefen des Meeres an die Wasseroberfläche taucht. Da steht er dann, auf seinen Rollator gebeugt, schnappt ein paar Züge Frischluft und verschwindet wieder in seiner Höhle. Von der Außenwelt zeigt "The Whale" in diesen Szenen gerade genug, um klarzumachen, dass sie keine Rolle spielt. Amerikanisches Vorstadtnirgendwo, die reine Kontingenz, nichts, was einem auch nur irgendeinen Halt bieten könnte. Kein Wunder, dass Charlie nicht mehr nach draußen will. Wir wollen es irgendwann auch nicht mehr.

Wir bleiben gern mit Charlie in der Höhle. Mit Charlie und mit den Menschen, die Charlie besuchen, die an seiner Welt teilhaben. Tatsächlich steht das, und nicht etwa das einsame Dahinsiechen, im Zentrum der meisten Szenen: die Gespräche zwischen Charlie und seinen Besuchern, insbesondere mit Liz, die versucht, Charlie zu retten; mit seiner Tochter Ellie (Sadie Sink), einer verzogenen Göre, die zu retten sich wiederum Charlie als ein letztes Lebensziel gesetzt hat; sowie mit Thomas (Ty Simpkins), einem jungen Mann, der Charlie für Gott gewinnen möchte.

Die Serie der Auf- und Abtritte und die Konzentration auf das gesprochene Wort rücken den Film in die Nähe des Theaters, aber auch in die Nähe gewisser eher altmodischer Spielarten des Fernsehens. Tatsächlich erinnern sowohl der exakt definierte Schauplatz als auch das Figurenensemble an klassische Sitcoms. Die Verbindung von szenischem Minimalismus im klassischen 4:3-Format, teils absurd überzeichneten Figuren und einem dezent ins wahnwitzige abgleitenden Plot (sowie außerdem die Obsession mit Sprache, insbesondere in Form ominöser, mit Bedeutung überfrachteter Essays) ist nicht ganz weit weg von einer Serie wie "Seinfeld". Tatsächlich ist "The Whale" letztlich genau wie "Seinfeld" die Chronik einer Selbsteinschließung.

Nur dass diese Selbsteinschließung in der "Seinfeld" mit einer fundamentalen Unerlösbarkeit der Eingeschlossenen einhergeht. Während "The Whale" sich ganz im Gegenteil die Aufgabe stellt, möglichst das ganze Personal, ganz unbedingt jedoch seine Hauptfigur zu erlösen, koste es, was es wolle. Eben deshalb zielt Aronofsky auf ganz andere, nämlich hochgradig sentimentale affektive Register. Geradezu unverschämt, wie nah der Film am Wasser gebaut ist. Manches, insbesondere die komplett an den Haaren herbeigezogene Storyline um Thomas, ist wirklich ein wenig too much. In den häufig, fast beschwörend wiederkehrenden Großaufnahmen seiner Hauptfigur findet "The Whale" jedoch stets einen Anker. Am Ende bleiben diesem in artifiziellen Fettpolstern gebetteten Gesicht auch die um ihn herum sich entfaltenden zwischenmenschlichen Dramen äußerlich. Nichts als das Kino kann diesen Menschen erretten. Die Erlösung, die der Film Charlie und auch uns am Ende gönnt, ist ein bloßer, ins Filmische übersetzte Bühnentrick. Und eben darin wahrhaftig.

Lukas Foerster

The Whale - USA 2022 - Regie: Darren Aronofsky - Darsteller: Brendan Fraser, Sadie Sink, Hong Chau, Ty Simpkins, Samantha Morton - Laufzeit: 117 Minuten.