Im Kino

Kino zwischen allen Orten

Die Filmkolumne. Von Jochen Werner
02.02.2023. In Helena Wittmanns "Human Flowers of Flesh" driftet eine kleine Schiffscrew unter Kapitänin Ida langsam von Marseille ins algerische Sidi bel Abbès. Fast ohne dass man es merkt, schreiben sich eine Kolonialgeschichte und ihre Ablagerungen in der Gegenwart  in den Film ein. Es ist ein ortloses Kino, oder ein Kino zwischen allen Orten.


"Human Flowers of Flesh" ist vom Meer her erzählt, aber zunächst blicken wir aufs Festland. Ein Close-up auf die Felsen, die die Küste markieren und die See und das Land voneinander scheiden, dann, irgendwann, ein Fuß, der ins Bild tritt, gefolgt von weiteren, eine Reihe Küstenwanderer, die durch die Einstellung schreiten. Im Hintergrund das Meeresrauschen, die Konstante, die sich durch diesen traumschön-sinnlichen Film zieht.

Vier Männer und eine Frau werden uns fortan durch "Human Flowers of Flesh" begleiten, eine vierköpfige, multiethnische Crew, die auf dem Segelschiff von Kapitänin Ida (Angeliki Papoulia) anheuert. Zu unklarer Mission, denn was genau Zweck und Ziel ihrer Reise sind, werden wir nie erfahren. Stattdessen wohnen wir den Protagonist*innen bei allerlei Zeitvertreib bei. Die so unterschiedlichen Männer schlafen, schwimmen, tauchen, lesen einander philosophische und poetische Texte vor oder pressen Blätter zwischen den Buchseiten. Auch der Film selbst lässt sich gern und jederzeit ablenken, auf weitschweifige Abwege oder zu Beobachtungen verführen, die für sich stehen und ohnehin stets viel faszinierender sind als alles, was einem da erzählt werden könnte, wenn man es denn wollen würde.

Denn es geschieht so allerlei in diesem Film, an dessen Oberfläche es oft wirkt, als würde nichts passieren, als würde alles stillstehen. Im Grunde ist alles in Bewegung, steht nichts je wirklich still. Wir sehen nur teilweise durchschaubare manuelle Arbeitsprozesse an Bord, beobachten Insekten und noch viel kleinere, nur mikroskopisch zu erfassende Lebewesen, wir erblicken Fallschirmspringer wie gigantische Pilzformationen am Himmel und tauchen hinab zu einem versunkenen Schiffswrack auf dem Meeresgrund. Und dann ist da noch die Fremdenlegion. Die schleicht sich zunächst über Fragemente von Erzählungen, über Aufzeichnungen, Erinnerungen und Anekdoten in den Film hinein - über Geschichten, die die Figuren einander erzählen, abends, in Hafenbars, oder tags, unter der Sonne, an Deck. Und dann, irgendwann, ist da ein Lied, wie vom Wind in den Film hineingeweht. "Adieu, gutes altes Europa, möge der Teufel dich holen", singt ein Männerchor, während Ida vor einem Zaun steht und gebannt zuhört. "Wir brauchen Sonne und Weite, um uns neuen Glanz zu verleihen. Wir, die Verwundeten aller Kriege, voller Trübsal und mit wehem Herz. Die Wüste ist für uns, was das Meer für die Matrosen."



Es ist natürlich weit mehr als diese Handvoll Verse aus einer anderen Zeit, was hier in Helena Wittmanns Film hineinweht. Zunächst einmal wird eine räumliche Bewegung offenbar, eine Reise, die derart zwischen den Zeilen, zwischen den Bildern vollzogen wird, dass man sie glatt übersehen könnte. Von Marseille aus ins algerische Sidi bel Abbès führt uns dieses Driften durch den Raum und den Film, zum ehemaligen Hauptquartier der Fremdenlegion. Eine Kolonialgeschichte und ihre Ablagerungen in der Gegenwart schreiben sich in den Film ein, und auch ein cinephiler Horizont spannt sich auf - der zum Ende hin, durch einen Auftritt von Denis Lavant in seiner ikonischen Rolle als Fremdenlegionär Galoup, gar zu einer Art Fortschreibung von Claire Denis' modernem Klassiker "Beau Travail" wird.

Was genau aus diesen disparaten Versatzstücken entsteht, lässt Helena Wittmann offen - jedenfalls ist es kein größeres Ganzes, nichts, mit dem man abschließen, das man als das zentrale, das eigentliche Thema von "Human Flowers of Flesh" festmachen könnte. Mehr noch als Wittmanns Langfilmdebüt "Drift" - noch so ein maritimer Film, ein Film, der sich verströmt, der über lange Passagen im stetigen, endlosen Wellentreiben verloren geht, um dann am Ende an einem Hamburger Küchentisch wieder anzukommen, der durch den neuen und weit geöffneten Horizont vielleicht ein klein wenig prosaischer wirkt als zuvor - wagt es "Human Flowers of Flesh", alle Verbindungen offen liegen zu lassen. Alles, was darin zu sehen ist, meint sich zunächst einmal selbst, und alles hat miteinander zu tun, ergibt aber kein Mosaik, das vom aufmerksamen Zuschauerblick zuvorderst zusammenzusetzen wäre.

Nein, zuallererst ist Helena Wittmanns Kino ein durch und durch sinnliches, mit historischen wie cinephilen Sinnangeboten zwar überreich ausgestattet - aber eben kein Kino, das um jeden Preis decodiert werden will. Ein ortloses Kino, oder ein Kino zwischen allen Orten, ein Kino, das sich treiben lässt, ein Blick, der schweifen darf. Auf Sinn trifft er dabei allerorten, auch wenn der sich nicht zwingend aus den Dingen, den Menschen, den Geschichten ergibt, an denen er temporär haften bleibt. Eine Schule des Sehens, nicht nur fürs Kino, für die Welt.

Jochen Werner

Human Flowers of Flesh - Deutschland 2022 - Regie: Helena Wittmann - Darsteller: Angeliki Papoulia, Steffen Danek, Gustavo Jahn, Ingo Martens, Ferhat Mouhali, Denis Lavant - Laufzeit: 106 Minuten.