Im Kino

Nach dem Sozialismus

Die Filmkolumne. Von Jonas Nestroy
04.01.2023. Wenn die politischen Utopien zerfallen, bleibt nur noch zwischenmenschliche Solidarität und Heilung durch Fürsorge. Und wer könnte das schöner zeigen als Charlotte Gainsbourg, Emmanuele Béart und Noée Abita, die als "Passagiere der Nacht" Mikhaël Hers Film erleuchten. 


Anfangen müsste man wohl, auch weil Mikhaël Hers' "Passagiere der Nacht" es tut, beim Gesicht Noée Abitas. Bei der leicht nach oben gekrümmten Nase, den kugelrunden Rehaugen, dem blutroten Schmollmund, eben jener Physiognomie, die das französische Kino das erste Mal in Lea Mysius' "Ava" erblickte. Da gab Abita ein erblindendes Mädchen mitten in einer bunten, von sommerlichem Licht durchfluteten Strandwelt à la Éric Rohmers "Pauline am Strand". Bei Hers spielt sie Talulah, ein Mädchen von der Straße: viel zu schön um wahr zu sein, mit langen, dunklen, lockigen, lose zusammengebundenen Haaren wie einst Pascale Ogier in Rohmers "Vollmondnächte". Talulah wird dieser Ogier tatsächlich irgendwann gebannt im Kino zuschauen, denn es ist 1984 und Frankreich fühlt sich nicht mehr nach Sommer und Sonne an, eher nach Nacht und Mondschein. Dieses Gefühl treibt "Passagiere der Nacht" an: ein Gefühl der Ernüchterung, der Ohnmacht, der tiefen Melancholie. Der Prolog beschwört zwar noch einmal den Freudentaumel bei der Wahl François Mitterands, als zig rote Fahnen in den Straßen von Paris geschwenkt wurden, doch Hers ergeht sich nicht in diesem Moment, gewinnt Abstand zu ihm. Die elegische Filmmusik Anton Sankos markiert schon das Bewusstsein für die kommenden Jahre, macht diesen Film zu einem Rückblick auf eine der vielen politischen und persönlichen Enttäuschungen, die mit dem Wort "Sozialismus" verbunden sind.

Die soziale Kälte verkörpert sich in der winterlichen Nacht. Das spürt vor allem Elisabeth (Charlotte Gainsbourg), wenn sie wieder einmal nicht schlafen kann und stattdessen geisterhaft durch die Pariser Straßen wandert. Das ganze Eheleben lang hat sie sich um die Kinder gekümmert, nun ist der Mann weg und Elisabeth ohne Job in einem Hochhausappartement im 15. Arrondissement mit dem bald erwachsenen Nachwuchs Judith (Megan Northam) und Matthias (Quito Rayon-Richter). Die Nacht ist es, die Elisabeth bei der Radiosendung "Passagers de la nuit" anheuern lässt, wo Moderatorin Vanda Dorval (Emmanuelle Béart) sich den Geschichten all derer annimmt, denen es ähnlich geht. Deren Anrufe als eine Art Sekretärin entgegenzunehmen und durchzustellen, erfordert keine berufliche Ausbildung, wohl aber Fähigkeiten wie Mitgefühl und Menschenkenntnis, die die jahrelange Erfahrung bei der Kindererziehung vermittelt hat. Auch Talulah wird in das Studio geschwemmt, um von sich zu reden; und dann wird sie in die dreiköpfige Familie geschwemmt, die sie aufnimmt, sie rausholt aus den kalten Farben der Nacht, hinein in die warmen der Pariser Wohnung.



Manchmal klingt solche Wärme auch in der somnambulen Musik durch. Am Ende des Films wird sie ganz eingelöst, als ein neuer Tag anbricht, der allerdings nicht mehr in der Hoffnung auf Politik besteht, vielmehr in zwischenmenschlicher Solidarität. Hers entwirft einen Film der heilenden Fürsorge: Nicht nur im Bild zwischen den Figuren, sondern auch zwischen Kino und der französischen Gesellschaft nach Mitterand. Zu diesem Gestus will Hers, wenn die Krisen zwar permanent an der Tür klopfen, aber konsequent von der Erzählung ausgeschlossen bleiben. Wenn Löcher im Arm und der Stoff, der durch sie fließt, nicht gefilmt werden wollen. Wenn Konflikte immer wieder sanft aus dem Bild geschoben werden: Der Ex-Mann ist weg, klar, aber nie ist er von Elisabeths Seite gewichen, als sie krank war. Das gibt sie ihren Kindern mit auf den Weg. Ein Kollege bricht die neue Beziehung nach dem ersten Sex direkt ab, später tanzt man auf einer Firmenfeier trotzdem wieder miteinander. Ein Neuer, und diesmal wohl der Richtige, wird vor den Kindern verheimlicht, aber das Schweigen wird nicht im Streit gebrochen, sondern im neckischen Familienmiteinander.

Dass das alles nicht so naiv wirkt, wie es klingt, liegt daran, wie bewusst Hers ein Kino aus der Vergangenheit, eine filmische Fiktion heraufbeschwört. Besuche im Filmtheater sind so groß, dass man sich lieber hereinschleicht, bevor man etwas verpasst, weil fünf Minuten nach Vorstellungsbeginn kein Einlass mehr ist. Als Matthias und Talulah selbst als Statisten anheuern, wird das Filmische verdoppelt und die junge Innigkeit im Hintergrund der Szene zum Mittelpunkt. Man spürt in "Passagiere der Nacht", wie sehr das Kino und seine Mittel das prekäre Leben der Figuren vergrößern. Weil die Mittel bekannt sind und trotzdem ihre Wirkung nicht verfehlen: die romantische Geschichte zwischen Matthias und Talulah, die Fahrt durch die Großstadt mit dem Moped und den Haaren im Wind, abermals die großartige Musik und eingestreute Zelluloidfilme vom alten Paris, die schwelgerisch vor sich hin flimmern.

Vielleicht ist dies nicht nur ein Film der Heilung geworden, sondern sogar einer, der schon über diesen Status reflektiert. "Passagiere der Nacht" weiß, dass die künstlerische Konzentration auf Heilung und Sorge kein progressiver Aufbruch ist, sondern Rückzug nach einer vernichtenden Niederlage, die die Linke sich, wie so oft, selbst zugefügt hat. Man muss die starke Betonung der Künstlichkeit der Filmwelt ernster nehmen als sie unmittelbar erscheinen kann: Denn dass Heroin-Junkies wie Noée Abita, alleinerziehende, prekär lebende Frauen wie Charlotte Gainsbourg aussehen und persönliche Solidarität problemlos die politische ersetzt, das kann wohl wirklich nur im Kino wahr werden.

Jonas Nestroy

Passagiere der Nacht  - Frankreich 2022 - OT: Les passagers de la nuit - Regie: Mikhaël Hers - Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon Richter, Noée Abita, Megan Northam, Emmanuelle Béart - Laufzeit: 111 Minuten.