Im Kino

Der Slow Dance hält selten, was er verspricht

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
09.02.2023. Kateryna Gornostai erzählt in "Stop-Zemlia" vom coming of age dreier ukrainischer Jugendlicher. Ein Film über reine Adoleszenz, ganz ohne Krieg. Wichtig ist nur eins: Den richtigen Abstand zueinander und zur Welt zu finden.


"Stop-Zemlia" könnte man mit "Halte die Erde an!" übersetzen. So wie das Feature-Debüt der ukrainischen Regisseurin Kateryna Gornostai heißt auch ein Spiel, das die Hauptfiguren ziemlich genau in der Mitte des Films spielen. Es ähnelt dem deutschen "Blinde Kuh": Ein Spieler stolpert mit verbundenen Augen durch die Gegend, alle anderen versuchen einerseits, nicht "gefangen" zu werden, ziehen aber andererseits durch allerlei Schabernack die Aufmerksamkeit der Blinden Kuh auf sich, was dazu führt, dass sie früher oder später eben doch ertastet werden.

Es geht in dem Spiel, anders ausgedrückt, gleichzeitig um das Verlangen, berührt zu werden und um das Verlangen, nicht berührt zu werden. Noch genauer geht es um die eigene Unsicherheit darüber, ob man nun berührt werden möchte oder nicht; beziehungsweise natürlich ebenso um die Unsicherheit darüber, ob man selbst jemand anderen berühren möchte oder nicht. All das und insbesondere das Letztere ist wenn auch nicht das Thema, so zumindest eine zentrale innere Antriebskraft des Films "Stop-Zemlia", der sich also in der "Blinde Kuh"-Szene selbst figuriert; auf eine angenehm unaufdringliche Weise einerseits, wobei Gornostais Coming-of-Age-Erzählung andererseits möglicherweise noch überzeugender geraten wäre, hätte sie auf diese und einige andere vom Konzept anstatt von den Figuren her gedachte Szenen verzichtet.

Die große Stärke von "Stop-Zemlia" liegt jedenfalls in der Arbeit mit Figuren, beziehungsweise Schauspielern - zwei Konzepte, die auch in diesem Fall nicht ganz identisch sind, aber doch mehr in eins fallen als in den allermeisten fiktionalen Filmen. Besetzt ist "Stop-Zemlia" mit Laien, die Versionen ihrer selbst spielen. Fast durchweg sind sie  Teenager - Erwachsene tauchen in dem Film kaum auf. Lehrer wie Eltern bleiben weitgehend abwesend, beziehungsweise werden, wenn sie doch einmal im Bild rumstehen, als ein absolutes Außen der Welt der Adoleszenz markiert. Wie überhaupt, bei einem ukrainischen Film, der kurz vor dem russischen Überfall Premiere feierte, ist das erwähnenswert, die adoleszente Welt sich noch ganz selbst genügen darf. Einmal Training an der Waffe als Teil des schulischen Alltags, ein angedeutetes Bürgerkriegstrauma - das ist auch schon alles, was die jugendliche Lebenswelt in "Stop-Zemlia" von ihrem deutschen Pendant abhebt.



Eindrücklich, wie dem Film Ensembleszenen gelingen, im Klassenzimmer, auf dem Schulhof, auf der Tanzfläche der Schuldisco. Oft agieren zehn, fünfzehn junge Menschen gleichzeitig im Bild, ohne dass der Eindruck des Choreografierten aufkommt. Die Menge macht nicht gleich, sondern forciert Identität, weil sie einen dazu zwingt, sich zur eigenen Umgebung zu verhalten. Einige Nebenfiguren wie der Klassnenclown Maus oder das Energiebündel Oksana tauchen fast nur in solchen Gruppenszenen auf und hinterlassen dennoch bleibenden Eindruck.

Den richtigen Abstand zueinander und zur Welt zu finden: Darum geht es auch in den intimeren Szenen, die sich um eine Freundesgruppe, bestehend aus zwei Mädchen und einem Jungen, entspinnen. Masha (Maria Fedorchenko), Yana (Yana Isaienko) und Senia (Arsenii Markov) liegen gemeinsam im Bett, reichen einander Küsse weiter, oder auch den Glitter auf ihren Schläfen. Dass darunter und daneben andere Begehren mitschwingen, wird vom Film mal im-, mal explizit artikuliert, jedoch kaum dramaturgisch ausgebeutet. Letztlich lassen sich Gefühle nicht einfach als Handlung oder Kommunikation entäußern. Manchmal muss man etwas wagen, klar, aber der Slow Dance hält selten, was er verspricht.

Nicht ganz so gelungen sind, wie bereits angedeutet, einige "konzeptionelle" beziehungsweise stilisierte Elemente. Eine überfrachtete Badmintonmetapher, einige wie bloß mechanische Einschübe wirkende, von Blubberelektro untermalte Montagesequenzen … allzu schwer ins Gewicht fällt das nicht. Quasidokumentarische Einschübe, in denen die Hauptfiguren isoliert, vor monochromem Hintergrund, die Handlung kommentieren, wirken zwar gleichfalls etwas bemüht, sind aber gleichzeitig charmant. Und zwar, weil sie retrospektiv angelegt sind: Masha, Yana und Senia blicken auf ihre eigene Vergangenheit zurück - und schauen tatsächlich ein bisschen anders aus als in den Spielszenen. Bei Licht betrachtet waren sie allerdings nur zwischendrin beim Friseur, sonst hat sich nichts geändert. Kaum mehr als ein paar Wochen älter sind sie geworden und doch umflort sie plötzlich eine Aura der Lebensweisheit. Weil in der Jugend ein paar Wochen eben noch einen Unterschied ums Ganze machen können. Zumindest aus der Innenperspektive und eine andere kennt dieser schöne Film nicht.

Lukas Foerster

Stop-Zemlia - Regie: Kateryna Gornostai - Darsteller: Maria Fedorchenko, Arsenii Markov, Yana Isaienko, Oleksandr Ivanov, Andrii Abalmazov, Rubin Abukhatap, Oksana Babych - Ukraine 2022 - Laufzeit: 122 Minuten.