Im Kino

Insistenz auf das Übermenschliche

Die Filmkolumne. Von Jonas Nestroy
01.03.2023. Die Dirigentin Lydia Tár ist ein Genie. Oder doch nicht. Vielleicht muss der Genie-Begriff in seiner Monstrosität abgeschafft werden? Regisseur Todd Field scheint dieser Ansicht, aber sein eigener Film ist durchdrungen von einer Atmosphäre der Hochkultur, wie sie die Filme Weerasethakuls, Tarkowskis, Hanekes oder Kubricks prägt.


Lydia Tár (Cate Blanchett) ist immer schon bigger than life: ein Wunderkind, Ausbildung in Musikethnologie mit Schwerpunkt indigener Musiken, trotzdem Expertin für die Symphonien Gustav Mahlers, Dirigentin der großen Orchester in Cleveland, Philadelphia, Chicago, Boston, New York und nun Berlin, als erste Frau. Es dauert ein bisschen, bis die Stationen ihres Lebens am Beginn von "TÁR" vom Journalisten Adam Gropnik während eines Live-Interviews genannt sind. Assistentin Francesca (Noémie Merlant) spricht Backstage leise mit, die Vorstellung ist lange geprobt, muss sitzen. Genau wie die Antworten Társ im Interview zu den Anforderungen des Dirigierens und zu Mahler. Effizient ist diese Einführung der Protagonistin: Társ Stand in der Welt der klassischen Musik, genauso wie ihr Drang zur makellosen Selbstinszenierung verdichten sich zur übermenschlichen Größe. Field löst sie später im Film erneut ein, als Tár das erste mal in diesem Film ein Orchester anführt: Florian Hoffmeister Kamera schaut auf sie wie auf eine kolossale Statue, Monika Willis' Schnitt sucht einen ruhigen Ausgangspunkt in Társ Leben, um direkt darauf mit der Katharsis der Symphonie und dem Blanchett-Körper in höchster Anspannung zu antworten.

Natürlich kippt soviel Insistenz auf das Übermenschliche - noch die drei großen Buchstaben im Titel des Films assoziieren das Biopic-Monumentale - in spürbarem Argwohn um. Baut sich Lydia Tár von Anfang an als ihr eigenes Denkmal auf, entdeckt Field die Risse in der Fassade, zieht hier und da an dem imposanten Gebilde, um zu sehen, wo es nachgibt. Schon die fehlenden Grenzen zwischen Privatleben und Öffentlichkeit sind enthüllend: Gemeinsam mit Geigerin Sharon (Nina Hoss) hat sie die kleine Petra adoptiert. Wenn die in der Grundschule gehänselt wird, ist das für Tár nur eine weitere Situation, die persönlich (und in diesem Fall auch: bedrohlich) dirigiert, orchestriert, kontrolliert werden muss. Genau wie der eigene Körper für den großen Auftritt in Form gejoggt wird oder eben der alte musikalische Leiter, der mit seinen Ansichten im Weg steht, bürokratisch korrekt ausgemerzt werden will.



Die architektonischen Assoziationen zur Figur Lydia Tár sind kein Zufall. Die Rauminszenierung Fields schultert mehr als andere Stilmittel die epische Größe dieser Erzählung. Manchmal wird nach New York geflogen, meist steht Berlin im Mittelpunkt. In der städtischen Architektur spielt sich schon das ganze Drama dieses Films ab. Darin und in der ein bisschen furchteinflößenden Mimik Cate Blanchetts, die sich immer wieder zum 'sympathischen' Lächeln verspannt.

Solch verdächtige Makellosigkeit spiegelt sich wieder in dem stilsicheren Designer-Betonbau, den Tár mit Sharon bewohnt, im modernen Konzertsaal mit Hans-Scharoun-Gedächtnisarchitektur, in dem sie Mahler aufnimmt, im Berliner Kulturforum mit Mies van der Rohes gläserner Nationalgalerie, die in einer entscheidenden Szene den Hintergrund gibt. Die makellose Architektur verschwimmt in der Unschärfe, während Tár über rechtliche Schritte gegen sie informiert wird, weil eine ihrer ehemaligen Musikerinnen (und wahrscheinlich auch mehr) Suizid begangen hat. Es ist die Zuspitzung eines Konflikts, der während des Films langsam außer Kontrolle gerät. Der Dreck des Erfolgs, der großen Kunst, eben das, was unter den Fassaden der Genialität wartet, synkopiert Field in die selbstkomponierte Symphonie, die Lydia Társ Leben sein soll. Auch das Schmutzige erhält seine Architektur, wenn Tár sich in den heruntergekommenen Hinterhof einer alten, unsanierten Mietskaserne verirrt, durch einen vollgelaufenen Keller watet, als wäre es "Stalker".



Wobei der Regisseur kein ästhetisches Gegenprogramm bietet, denn die Atmosphäre der Hochkultur, die Ideale von Perfektion, Virtuosität, Meisterschaft durchdringen die filmische Sprache regelrecht. Dass die Inszenierung von "TÁR" etwas Schwerfälliges hat, liegt vor allem hieran. Die exakten Kadrierungen, die glatten Kamerabewegungen, überhaupt die Plansequenzen sind hoffnungslos davon affiziert. Wie Tár vor Mahler, verbeugt sich auch Field vor jenen, die als Meister der Filmkunst gelten, macht sie immer wieder für kurze Zeit zur unverkennbaren Dominante: einmal das Spirituelle Apichatpong Weerasethakuls, manchmal eben das Faunische eines Andrei Tarkowski, das Unheimliche Michael Hanekes und immer wieder die erhabene Räumlichkeit Stanley Kubricks.

Dass Field dem augenscheinlich nicht entkommt, worauf er kritisch blickt, zeigt an: Ganz so einfach will es sich "TÁR" mit seinem Angriff auf ein scheinbar überholtes Projekt nicht machen. Lydia Társ Ungeheuerlichkeit versteht Field explizit nicht als Problem einer alten, weißen Männlichkeit, sondern als gesellschaftliche Notwendigkeit beim Weg nach oben. Der Kulturkampf verläuft in einer exemplarischen Szene zwischen Lydia Tár als lesbischer Dirigentin und ihrem Studierenden Max (Zethphan Smith-Gneist), der sich "BIPoC und pangender" identifiziert. Max will Bach nicht spielen, weil der Frauenfeind gewesen sei und Tár stellt Max dafür vor versammeltem Publikum nach allen Regeln der Kunst bloß.

Aber der scheinbare Widerspruch ist trügerisch. Die Szene markiert den Beginn einer Diskussion und setzt dafür eine andere als schon beendet voraus: glasklar für das Monster Lydia Tár, dass aus Max nichts werden soll; glasklar für Todd Fields Film, dass es dem monströsen 'Genie'-Begriff ähnlich ergehen soll. Dabei ist das Genie ja nicht identisch mit der Erscheinung, die es durch die Geschichte hindurch immer wieder hatte: der unangreifbaren künstlerischen, intellektuellen Autorität eines einzelnen, meist männlichen Schöpfertums, das sich Kraft seiner 'objektiven' Genialität über alles und jeden erhebt. Kritisch mit dem Genie umzugehen hieße, die Realität mit seinem Begriff zu konfrontieren. Zu retten wäre die Idee einer freien, spontanen, individuellen Subjektivität, die sich im Genie-Begriff versteckt, und die im historischen Projekt der Moderne ursprünglich allen zukommen sollte, weil sie nur in gesellschaftlicher Kooperation verwirklicht werden kann. Auch wenn Todd Field dieses Kind mit dem Bade ausschüttet, kündet die Existenz der virtuosen Zusammenarbeit der Filmgewerke in "TÁR" von der Möglichkeit, es doch noch zu retten.

Jonas Nestroy

TÁR - USA 2022 - Regie: Todd Field - Darsteller: Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie Kauer u.a. - Laufzeit: 158 Minuten.