Im Kino

Diktator mit Dachschaden

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
28.03.2018. Armando Iannuccis "The Death of Stalin" hat keinen Begriff von Geschichte, aber dafür ein hervoragendes Darstellerensemble. Als Wiederaufführung gelangt Robert Sigls "Laurin" in die Kinos - ein faszinierendes Sumpfblumengewächs jenseits aller Moden.


"Don't worry, nobody's gonna get killed", ruft der Dirigent eines Radioorchesters den Musikern und auch dem Saalpublikum zu, während seine Mitarbeiter die Türen verschließen. Die Aufführung eines Mozart-Konzertes unmittelbar vorher war zwar landesweit live versendet, aber nicht aufgezeichnet worden. Und weil Josef Stalin eben eine solche Aufzeichnung erbeten hat, muss nun die ganze Veranstaltung wiederholt werden. Getötet wird zwar erst einmal niemand, aber selbstverständlich ist der Satz des Dirigenten trotzdem nicht einfach nur so daher gesagt. Genauer gesagt besteht der Witz darin, dass er sich wie einfach nur so daher gesagt anhört, aber gleichzeitig trotzdem auf die Schrecknisse verweist, die draussen vor der Tür des Konzertsaals toben.

In gewisser Weise macht Armando Iannuccis "The Death of Stalin" nichts anderes, als diese Pointe immer wieder neu zu variieren. Der Film spielt im Jahr 1953, kurz vor und kurz nach dem Tod Stalins. Vor allem geht es um den Machtkampf, der unmittelbar nach dem Tod des Diktators ausbricht. Und der, wenn man dem Film glauben möchte, nicht etwa von abgebrühten Politprofis, sondern von einer Gruppe ausgemachter Witzfiguren ausgefochten wird.

Bekannt wurde Iannucci durch politsatirische Fernsehserien: "The Thick of It" und "Veep" präsentieren die politischen Systeme Großbritanniens beziehungsweise der USA als weitgehend dysfunktionale, von Eitelkeiten, Eifersüchterleien und manchmal schlichtweg der Verfahrensordnung lahmgelegte Systeme, denen es mehr schlecht als recht gelingt, immerhin ihr eigenes Weiterbestehen zu managen. "The Death of Stalin" ist weniger als eine eigenständige historische Investigation zu betrachten, denn als eine Fortführung und Intensivierung dieses Projekts. Es geht also nicht darum, die Mechanismen eines totalitären Staates nachfühlbar zu machen, sondern darum, den homo politicus endgültig als jenen windelweichen, chronisch überforderten Wendehals zu enttarnen, der er in Iannuccis Schaffen schon immer war. Das zynische Fazit steht bei allen Arbeiten Iannuccis von Anfang an fest. Sein Blick ist kein politischer, sondern ein anthropologischer. Die politische Sphäre interessiert ihn nicht, weil in ihr die Gesellschaft lesbar wird, sondern weil sie das Individuum auf eine spezielle Weise exponiert und unter Druck setzt.

Daraus folgt auch: Iannuccis Schaffen abstrahiert von Geschichte. Was sich schon daran zeigt, dass seine Methode, im Übergang von "Veep" zu "The Death of Stalin", kein Instrumentarium dafür bereit stellt, die Differenz zwischen einer aus dem Ruder laufende Mediendemokratie und einer paranoiden Diktatur zu denken. In diesem Fall heißt das vor allem, dass die konkrete historische Realität des Stalinismus den Film herzlich wenig interessiert. Die sogenannte "Ärzteverschwörung" zum Beispiel, tatsächlich eine konzertierte antisemitische Staatsterroraktion, wird in "The Death of Stalin" zur willkürlichen Laune eines Diktators mit Dachschaden. Tatsächlich braucht der Film diese historische Episode nur für eine weitere, in diesem Fall ziemlich lahme ironische Pointe: Weil die guten Ärzte alle in Sibirien sind, wird Stalin nach seinem eigenen Herzinfarkt von rasch zusammengetriebenen Quacksalbern umsorgt. Unangenehm aufgefallen ist mir diese Sequenz auch, weil in ihr das allzu schlichte stilistische Repertoire des in visueller Hinsicht weitgehend und inbesondere im fahlen, grüngräulichen Farbschema der Fernsehkonvention entsprechenden Films deutlich wird: Wenn's hart auf hart kommt ereignet sich Geschichte bei Iannucci stets in hektischen Reißschwenks. Zumindest erwähnt sei an dieser Stelle Aleksei Germans dieselbe historische Periode bearbeitender vorletzter Film "Khrustalyov, My Car!", ein Meisterwerk des polithistorischen Kinos, dessen bloße Existenz Iannuccis Fingerübung in einem kategorischen Sinne überflüssig macht.



Auch der von der Kritik hier und da beschworene Erkenntnisgewinn für die trumpistische Gegenwart hält sich in Grenzen (der Putinismus immerhin fühlt sich scheinbar ertappt). Die oft im Sekundentakt wechselnden "situativen Wahrheiten", mit denen sich Stalins Schergen herumschlagen müssen, mögen an Kellyann Conways "alternative facts" erinnern (oder auch, epistemologisch interessanter, an Donald Rumsfelds "unknown unknowns"); aber die Devaluation des Wahrheitswerts ist für den Film eben kein systemisches Problem, sondern lediglich ein Anlass für eine psychologische Freakshow. Was "The Death of Stalin" natürlich, andererseits, doch wieder ganz und gar zu einem Kind seiner Zeit macht; schließlich haben auch weite Teile der Medien großen Spaß daran, Trump zu pathologisieren. (Und sie halten das, das ist das größere Problem, bereits für Kritik.)

Wenn "The Death of Stalin" dennoch weniger schematisch und vor allem unterhaltsamer geraten ist, als man zunächst meinen könnte, dann liegt das am Schauspielerensemble, beziehungsweise an Iannuccis Fähigkeit, es effektiv einzusetzen. Am besten funktioniert das bei jenen Darstellern, die wie er Fernsehprofis sind: Steve Buscemi ("Boardwalk Empire") verkörpert Nikita Chruschtschow zunächst wunderbar leisetreterisch, als einen gedemütigten, nach oben buckelnden Kleinbürger, hinter dessen passiver Aggressivität alsbald ein genuiner Wille zur Macht zum Vorschein kommt. Oder Jeffrey Tambor ("Arrested Developmen") als Ministerratsvorsitzender Georgi Malenkow, die erbärmlichste Witzfigur des Films: Sein Gesicht ist ein einziger, fleischgewordener Anpassungsdruck, die Versuche, bei jeder Äußerung die Reaktionen seiner Kontrahenten zu antizipieren, verwandeln ihn Schritt für Schitt in seine eigene Wachsfigur. Für die gröbere Komik ist hingegen Rupert Friend ("Homeland") zuständig, der Stalins Sohn Wassili als eine kaum drei Schritte geradeaus laufen könnende Fuchtelmaschine anlegt.

Die schönste Szene des Films zeigt, wie sich alle Hauptfiguren um den am Boden im eigenen Urin liegenden Diktator versammeln. Gestandene Männer, die keine Ahnung haben, wie sie sich in dieser Situation verhalten sollen, die sich gegenseitig argwöhnisch beäugen und ungelenk umarmen, die dramatische Gesten ausprobieren und im gleichen Moment wieder zurückzunehmen versuchen, die zu großen Reden ansetzen, ohne zu wissen, was sie eigentlich sagen möchten. Als politische Groteske ist "The Death of Stalin" in diesem Moment an einem faszinierenden Nullpunkt angelangt: Selbst im unmittelbaren Angesicht des weltpolitischen Umbruchs bleibt den Akteuren keine andere Wahl, als sich in ihre gewohnte Politperformance zu flüchten. Der gleichzeitig das Objekt abhanden gekommen ist und die sich deshalb im Leerlauf, quasi zombiehaft, vollzieht.

Lukas Foerster

The Death of Stalin - GB 2017 - Regie: Armando Iannucci - Darsteller: Jeffrey Tabor, Steve Buscemi, Simon Russell Beale, Rupert Friend, Olga Kurylenko, Adrian McLoughlin, Michael Palin - Laufzeit: 107 Minuten.


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1989 herrschte gute Laune in den deutschen Kinosälen: "Otto - Der Außerfriesische" möbelte als erfolgreichste hiesige Produktion die Betriebsbilanz auf, daneben machte das deutsche Publikum gerne Bekanntschaft mit einem Fisch namens Wanda, hatte Spaß an geschrumpften Kindern und verkloppte im obligatorischen Asterix-Film des Jahres munter Römer, während Frank Trebbin erstmals seine nackte Kanone zückte, wozu Meg Ryan einen Orgasmus simulierte. Beim Deutschen Filmpreis prämierte man Loriot und Arthaus, manches davon ist längst vergessen und der verbliebene, in Ehren ergraute Rest nichts, was einen unbedingt zur baldmöglichsten Wiedersichtung treibt. Die verlässlich widerständig Guten - Graf, Lemke, Thome - drehten allesamt eher leichte Komödien abseits der großen Markierungen in den Geschichtsbüchern. Und Roland Klick war eh seit Jahren von der Bildfläche verschwunden.

Und dann gab es in diesem Wendejahr der guten Laune noch das Langdebüt des Filmhochschulabsolventen Robert Sigl: "Laurin", ein gotisch angehauchtes Horrordrama, ein "slow burner", der sich behutsam aufbaut, gedreht in Ungarn mit ungarischen Schauspielern, finanziert - man glaubt es kaum - vom SWR. Bei den (für den Nachwuchs wichtigen) Hofer Filmtagen passierte der Film den Flaschenhals der Auswahlkommission nicht (man wolle den Regisseur vor sich selbst schützen, hieß es begütigend), schließlich folgte, auch dank Eckhart Schmidts Einsatz, die Ehrenrettung durch den Bayerischen Filmpreis und immerhin eine anerkennende Besprechung im guten, alten Filmdienst, der dem Horrorgenre sonst meist nicht gewogen war. "Auf Robert Sigls nächsten Film kann man gespannt sein", lautete der letzte Satz.

Dessen Autor, Rolf-Ruediger Hamacher, dürfte beim Gespannt-Sein mittlerweile schwarz geworden sein: Zumindest, was das Kino betrifft, blieb es für Sigl bei "Laurin". Zwar folgten verstreute Arbeiten: Fernsehepisoden, TV-Krimis, Beiträge zu "Aktenzeichen XY" - Brotjobs, denen Sigl, geschult an der düsteren Ästhetik des Phantastischen, zwar immer wieder sein Gepräge mit auf den Weg gab, die jedoch wenig Renommée und Profilierung abwerfen. Ein Verlust fürs deutsche Kino, das in seiner oft so bräsigen Trantütigkeit auch im Fall dieses Sumpfblumengewächses mal wieder überfordert war.

Eine Küstenort, Anfang des 20. Jahrhunderts - eine welke, überalterte Welt in herbstlich- diesigen Farben. Eine Welt, in die die glatte Haut und die staunend in die Welt blickenden Augen eines Kindes im Grunde genommen gar nicht passen - und doch dreht sich alles um die kleine Laurin (Dóra Szinetár), deren Vater oft auf hoher See weilt und deren Mutter unter rätselhaften Bedingungen ums Leben gekommen ist. Sie erfährt eine schroffe Welt, in der es geradezu gespenstisch ums Verlassen-Sein, Verlassen-Werden, ums Verschwinden geht. Auch Kinder verschwinden - wenn der Mann mit dem schwarzen Hund und dem schwarzen Herrenrock in Nebelnächten umgeht. Heimgesucht von Visionen, macht sich Laurin auf die Suche nach dem schwarzen Mann.



"Laurin" ist ein Film, der keinen Moden folgt, sondern geprägt ist von der aufrichtigen Leidenschaft seines Machers für das Genre, dessen Stoffe und Mythen: Ein Film, der damit zwar einerseits aus seiner Zeit fällt, andererseits aber auch zeitlosen Charakter besitzt - was nicht zuletzt an der erwachsenen Reife des Films liegt: "Laurin" wirkt wie ein Spätausläufer jenes phantastischen Kinos der 70er, als die alten Monster endgültig in die Mottenkiste gelegt wurden und die Zeit gekommen schien für einen Spagat zwischen Autorenfilm, ästhetischer Sensibilität und der latenten Unbehaglichkeit guter Kino-Phantastik. Sigls literarische Wurzeln liegen in den dunklen Märchen und Schauernovellen des 19. Jahrhunderts. Filmisch orientiert er sich an der spröden Lakonie osteuropäischer Filmkunst, mit Spitzen allerdings in die expressive Drastik des italienischen Genrekinos - mitunter entsendet er liebe Grüße an Mario Bava oder Dario Argento, etwa wenn Laurin in sattes, glühendes Rot getaucht wird.

Postmoderner Zitaterummel ist Sigls Sache nicht - es geht um Form-, um Traditionsbewusstsein, um die Aufrichtigkeit des ästhetischen Ausdrucks, um einen atmosphärisch dichten Spaziergang in seelische Abgründe, die zwar ins Phantastische aufgelöst werden, sich aber aus der Realität nähren. Wohl auch deshalb war der Film von Betrieb und Publikum geschmäht: Weil er um Themen kreist, auf die man hierzulande im Kino lieber nicht gestoßen werden möchte, es sei denn, die Filme sind von der Filmgeschichtsschreibung als Klassiker vorgeschrieben, wie etwa "M - Eine Stadt sucht einen Mörder". Wie Fritz Langs Klassiker kreist auch Sigls FIlm um das Thema des Kindesmissbrauchs und -mords, um die Abgründe der Pädophilie. Wobei Sigl seine Geschichte aus der Perspektive eines Kindes schildert, das seinerseits als Mensch mit eigenem Begehren ernst genommen wird (ohne allerdings - hier zeigt sich der sensible Filmemacher - in seinem Seelenleben entblößt zu werden). Etwa, wenn Laurin den Vater überraschend nackt sieht oder oder sich zu ihrem Lehrer (Karoly Eperjes) hingezogen fühlt.

Nicht zuletzt aufgrund der spröde-kalten, im Verfall befindlichen Erzählwelt - man war gut beraten, in Ungarn zu drehen - ist "Laurin" ein schwarzromantisches Film-Gedicht von hohem atmosphärischem Reiz. Es zeigt sich einmal mehr: Die wirklich interessanten Filme findet man hierzulande meist nur an den ausgefransten Rändern der Produktion. Als Schauerfilm abseits der Fettnäpfchen infantiler Geisterbahnen ist "Laurin" ein kleiner Ausblick darauf, was für ein Kino in Deutschland möglich (gewesen) wäre - würde man die Beamtenmentalität der etablierten Strukturen hinter sich lassen und die Filmkünstler tun lassen, was der innere Drang sie zu tun treibt. Das führt vielleicht nicht immer zu guter Laune im Kinosaal, aber zu Filmen, die wohltuend verstören, die langfristig bleiben, die man auch bald 30 Jahre nach ihrem Entstehen - Idealisten wie dem Kölner Label Bildstörung und dem genossenschaftlichen Filmverleih Drop Out sei Dank - noch immer unangestaubt wiederaufführen kann, um sie das Publikum an jenem Ort wiederentdecken zu lassen, für den sie einst geschaffen wurden: In den dunkelsten Kammern unseres Begehrens, im Kino, wo die Lichter spielen.

Thomas Groh

Laurin - BRD 1989 - Regie: Robert Sigl - Darsteller: Dóra Szinetár, Brgitte Karner, Károly Eperjes, Hédi Temessy, Barnabás Tóth - Laufzeit: 84 Minuten.