Im Kino

Wagnis und Übertretung

Die Filmkolumne. Von Sebastian Markt, Nikolaus Perneczky
08.09.2022. Yuri Ancarani singt in "Atlantide" mit ausgestellter Künstlichkeit von jungen braunen Körpern und schnellen Booten in der Lagune Venedigs. Das Berliner Arsenal Kino eröffnet am Freitag seine Reihe "Women Make Film" mit Tang Shu Shuens Debütfilm "Dong Fu Ren" von 1970: ein historisches Melodram um eine Witwe, deren gesellschaftlich verlangte Selbstentsagung durch einen vorbeireitenden Armeekommandanten gefährdet ist.


Den Anfang dominiert eine ausgelassene Langsamkeit. Das Licht fällt gleißend über die Lagune und die Farben leuchten surreal: Wasser und Himmel, Badeanzüge, Bootsrümpfe und die verstreuten Dinge eines zeitlos wirkenden Nachmittags am Wasser. Gebräunte junge Körper, die sich in der Sonne strecken, durchs glitzernde Wasser gleiten, ein ausrangiertes Vaporetto als Badeinsel nutzen. Sant'Erasmo, die Heimat dieser Jugendlichen, ist eine Insel in der Lagune von Venedig, nordöstlich des Lido, abseits der touristisch überlaufenen Pfade. Der jüngste Film des italienischen Filmemachers und Videokünstlers Yuri Ancarani hatte bei den Filmfestspielen von Venedig Premiere und spielt von Anfang an mit dem Moment der Schatten- und Unterseite eines allzu vertrauten Bildes. Ein Gegenbild, das seine Fallhöhe aus anderen Bildern zieht, von denen es sich absetzt.

Der Star von "Atlantide" ist Daniele, ein junger Mann, den man anfangs bei der Tageslöhnerei auf einer Artischockenplantage sieht, mit nacktem Oberkörper und schwitzend. Die karge Verdientsmöglichkeit ist einer der wenigen Momente, in denen der Blick auf die ökonomischen Realitäten gelenkt wird. Der Modus des Films bleibt mehrheitlich schwelgend. Danieles Leidenschaft gilt - typisch für die männliche Jugend des venezianischen Umlands, so suggeriert der Film - seinem aufgemotzten Barchino, einem liebevoll bis besessen mit Lichtorgel, Schalensitzen, Schriftzügen in Neonpastell und Musikanlage ausgestatteten, hochmotorisierten Boot: als schlichtes Mittel der Mobilität, und als eigenster Raum, als Vehikel eines maskulin-adoleszenten Ritters, bei Rennen, deren Geschwindigkeitsrekorde in die Pfähle der Wasserwege eingeritzt werden.



Auf und mit diesem Boot spielen die meisten Szenen des Films, schaukelnd, und immer wieder rasend, die Kamera fest mit dem Schiffsrumpf verbunden, während das Boot über die Wellen brettert. Der surreale Glanz der Farben und die schwarz leuchtende Nacht, der mit Fetischisierung kokettierende Blick auf die jugendlichen Körper und das kinetische Bild, das die Geschwindigkeit in sich aufnimmt: Die vorherrschende Erzählhaltung des Films ist ein fasziniertes, überschießendes Ausstellen, ein sich-Einverleiben eines Lebensgefühls.

Neben und zwischen den Ritualen von Männlichkeit stehen die Szene zwischen Daniele und seiner Freundin Maila (nach der sein Rennboot benannt ist), in denen eine Zartheit und Verletzlichkeit steckt, die den oft dialoglosen Rest des Films konturiert. Eine der faszinierendsten der wenigen Szenen, die sich von Boot und Geschwindigkeit lösen, gehört ihr ganz allein: Ein Gespräch bei der Maniküre, das Bild fokussiert auf Mailas zu gestaltende Hände und die Hände der Frau, die ihre Fingernägel bearbeitet, aus dem Off im Plauderton ein Gespräch, in dem sich ein anderes Bild vermittelt, von jugendlichen Realtitäten, von engen Perspektiven, Ängsten und Träumen.

Die meiste Zeit nimmt sich der Film, um von nichts zu handeln und stattdessen unter einem hypnotischen, Hip-Hop, Techno und Symphonischeres amalgamierenden Soundtrack Momente auszubreiten, die im Querschnitt erzählen. Gegen Ende spitzt "Atlantide" sich zu einer Art Geschichte zu, die ein tragisches Ausrufezeichen unter ein schillerndes Bild setzt, das halb aus der Zeit gehoben scheint.

"Atlantide" ist ein hybrides Werk: ohne Drehbuch, und ohne echten Plot, über lange Zeit hinweg gemeinsam mit den Laiendarstellern entwickelt, aus deren Leben schöpfend, und zugleich von einer ausgestellten Künstlichkeit, die dem Ansinnen, aus einer Lebenswelt zu berichten weniger entgegensteht, als sie dessen Mittel der Wahl ist: ein fantasierendes Durchdringen einer spezifischen Jugendlichkeit. Atlantide: Bewohner*innen eines untergegangenen Kontinents, ein mythisches Bild.

Sebastian Markt

Atlantide - Italien 2021 - Regie: Yuri Ancarani - Darsteller: u.a. Daniele Barison, Maila Dabala, Bianka Berenyi - Laufzeit: 100 Minuten.

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Im Berliner Arsenal läuft ab Freitag (und noch bis zum 18. Dezember) die Reihe "Women Make Film", die ausgehend von Mark Cousins gleichnamigem Kompilationsfilm (2018) das Werk von insgesamt dreizehn bislang weniger bekannten Regisseurinnen aus aller Welt präsentiert. Gleich zur Eröffnung ist Tang Shu Shuens wunderschöner Debütfilm "Dong Fu Ren" (englischer Verleihtitel "The Arch") aus dem Jahr 1970 zu sehen.

Dong Fu Ren ist die Protagonistin dieses historischen Melodrams, die Witwe eines Lehrers im ländlichen China des 17. Jahrhunderts, in deren Herzen ein stiller Kampf mit den herrschenden Sitten tobt. Zentrale Metapher des Films ist ein im Entstehen begriffenes Denkmal, ein Ruhmesbogen, der am Rand des Dorfs zu Ehren von Dong Fu Ren errichtet werden soll, um ihre Verdienste um die Gemeinschaft und ihren vorbildlichen Lebenswandel zu würdigen. Der Kaiser persönlich muss den Bau eines solchen Bogens genehmigen, außerdem steht den derart Geehrten eine kaiserliche Rente in Silberstücken zu. Eine unermessliche Ehre für die Witwe also und eigentlich ein feierlicher Anlass, doch wird der Bogen nach und nach zum Zeichen ihrer fortschreitenden Versteinerung: ein Mahnmal der Selbstentsagung und Einsamkeit.

Dabei war eben noch neues Begehren ins Leben der Witwe getreten. Als der Armeekommandant Wang, entsandt, den Landstrich zu befrieden, in ihrem Hof einquartiert wird, regt sich in Dong Fu Ren ein tief verschüttetes Verlangen. Auch Wang entbrennt in keuscher Liebe zur aparten Witwe, widmet ihr ein Gedicht, das er in einem Schulbuch auf ihrem Lehrerpult versteckt. Ein Liebesgeständnis: "Hilflos bewundert er ihre hoheitsvolle Anmut / verehrt er ihre stete Würde." Doch mehr als Blicke, Gesten, eine zufällige Berührung beim Versuch, eine Grille einzufangen, ist nicht erlaubt. Ihre gesellschaftliche Stellung macht es Dong Fu Ren unmöglich, Wangs Zuneigung zu erwidern. Zugleich macht ihre aufmüpfige Tochter Wei-Ling dem Kommandanten schöne Augen. Ausgehend von diesem Dreieck nimmt das Verhängnis seinen Lauf.

Tang Shu Shuen findet Mittel und Wege, das unausgesprochene, unaussprechliche Begehren ihrer Protagonistin sichtbar zu machen. Das eigentliche Geschehen ereignet sich unterhalb der gesprochenen Rede in einem Blickreigen, der zwischen den Charakteren vermittelt und ihre Beziehung beschreibt. Wei-Lings kecker Blick wirkt stets wie durch den Türspalt erspäht, ist ganz Wagnis und Übertretung. Der Blick von Dong Fu Ren ist meist gesenkt, in Demut, Scham oder nobler Zurückhaltung, der des Kommandanten verlegen bis suchend. Man könnte diesem Spiel der Blicke auch stumm folgen, doch wird es durch das pointierte Tondesign nur noch wirkungsvoller. Aus dem realistischen Setting herauspräparierte einzelne Geräusche werden, durchaus antinaturalistisch, zur akustischen Interpunktion eingesetzt, während die zum Zerreißen gespannten Saiten eines Zupfinstruments das Bild unter Hochspannung setzen.



Kamera führte Subatra Mitra, der DOP von Satyajit Rays Apu-Trilogie und von anderen Filmen des westbengalischen Meisters. Mitras kontrastreiches Schwarzweiß fügt sich stimmig in die reduzierte Palette des Films. Einzig in den Naturaufnahmen, wenn Wei-Ling mit dem Kommandanten durch den Wald tollt oder sie zusammen durch Flussschnellen waten, springt das Bild in ein anderes Register: Das wuchernde, überschäumende Leben macht eine Auffächerung der Valeurs erforderlich. Auch der Schnitt, besorgt vom amerikanischen Dokumentaristen Les Blank, changiert zwischen Nüchternheit und Delirium. Mehrfachüberblendungen machen innerliche Aufwühlung greifbar und schaffen einen geteilten Bezugsraum, in dem die Begehren sich kreuzen oder verschieben. Freeze frames isolieren prägnante Momente und greifen der finalen Erstarrung voraus.

Am Anfang des Films steigt das Dorf aus dem Nebel, am Ende kehrt es in den Nebel zurück, aber diese mythisierende Rahmung täuscht. Unmittelbar geht es um den engen Möglichkeitshorizont einer verwitweten Frau im kaiserlichen China, im weiteren Sinn um Anmut und Würde (also ebenjene Qualitäten, die Kommandant Wang in seinem Lobgedicht pries) als spezifisch weibliche Bürde, wie sie Frauen auch außerhalb dieses historischen Settings obliegt. Der adrette Kommandant ist zuletzt nur ein Anlass, an dem die verinnerlichte Selbstentsagung greifbar wird. Der letzte Akt gehört dem Ruhmesbogen als erstarrtes Inbild patriarchaler Sittlichkeit.

Nach dem gediegenen Melo versuchte sich Tang Shu Shuens in den Siebzigerjahren an zwei populären Komödien, die leider nicht von Kassenerfolg gekrönt waren. Eine davon, "Hongkong Tycoon" aka "The Boss", gibt es seit Kurzem auf YouTube. Dazwischen drehte Tang den Spielfilm "China Behind", eine finstere historische Erzählung über die Flucht vor der Kulturrevolution. Danach war ihre Karriere als Filmemacherin zu Ende. Höchste Zeit, dieses kleine, aber eindrückliche Werk wieder zu entdecken.

Nikolaus Perneczky

The Arch - Hongkong 1968 - OT: Dong fu ren - Regie: Tong Shu Shuen - Darsteller: u.a. Lisa Lu, Roy Chiao, Hilda Chow Hsuan - Laufzeit: 94 Minuten. Mehr Informationen zur Reihe "Women Make Film" auf der Website des Arsenal.