Im Kino

Dunklere Präsenz

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Jochen Werner
08.06.2022. Bruno Dumont versucht mit seiner Mediensatire "France" (und Lea Seydoux) den Fernsehjournalismus als Passion neu zu erfinden. Mamoru Hosodas Anime "Belle" zeigt das Dasein in einem Netzwerk, das von unsichtbaren Algorithmen wie scheinbar allmächtigen Polizeikräften vorgegeben wird.


Bruno Dumont ist mit Filmen bekannt geworden, die extreme Gewaltausübung und extreme Leidenserfahrung verbinden, oft in ein und derselben Figur. "La vie de Jésus" (1997), "L'Humanité" (1999), "Twentynine Palms" (2003) und "Flandres" (2006) sind verstörende Werke, nicht weil die Brutalität darin exzessiv und ihre Darstellung sehr direkt ist, sondern weil sie Gewalt, Brutalität, Leid, Erniedrigung und Erlösung in unmittelbarer Verkettung existieren lassen. In bestimmtem Sinne gilt dies auch für "Hadewijch" (2009), in dem das Handeln der Protagonistin noch einmal ausdrücklich religiös grundiert wird, und für "Camille Claudel 1915" (2013), der die institutionalisierte Religiosität selbst als einen gewaltvollen Kontext begreift und die Idee der Erlösung schon vor Beginn verabschiedet hat.

Dass Dumont sich für Frauenfiguren interessiert, steht außer Frage. Dass seine Beziehung zu diesen Figuren sich die längste Zeit irritierend gestaltet hat, ebenfalls. Die Vergewaltigung ist ein wiederkehrendes Motiv in den ersten fünf oder sechs Filmen dieses Œuvres, oft verknüpft mit dem des vergewaltigten und ermordeten Mädchens; dasselbe gilt für den Missbrauch, die Erniedrigung, was umso verstörender erscheint, als in den entsprechenden Narrative fast immer ein unbestimmtes Moment der Schuldzuweisung auszumachen ist, genauer: eine nicht explizierte, aber unübersehbare Tendenz, die weibliche Figur als konstitutiv schuldhaft zu begreifen. "France", der bislang letzte Film des Regisseurs (ein weiterer, "L'Empire", ist für 2023 angekündigt) hält an dieser Perspektive fest; allerdings erscheint die Leiderfahrung hier aktualisiert und den Koordinaten einer sehr gegenwärtigen Medienkultur angepasst.

Der Status von "France" im Werk Dumonts wird erst retrospektiv zu bestimmen sein. Nach der nächsten Volte, dem nächsten Twist, von denen es in den letzten Jahren eine ganze Reihe gegeben hat, die unter anderem zu der ziemlich unterhaltsamen Groteske "Ma Loute" geführt haben (Missbrauch, Inzest, Gewaltausübung indes auch hier), vor und nach "Ma Loute" zu den Mini-Serien "P'tit Quinquin" (2014) und "Coincoin et les Z'inhumains" (2018), mit denen Dumont neue Standards in der Konzeption des Absurden gesetzt hat, und in den allerletzten Jahren zu den beiden hinreißenden Filmen über die Figur der Jeanne d'Arc, die darin, hors catégorie, als eine ebenso irdische wie exzeptionelle Erscheinung in Szene gesetzt worden ist.



Mit "Jeannette, l'enfance de Jeanne d'Arc" (2017) und "Jeanne" (2019) verbindet "France" auf den ersten Blick nicht mehr als die metonymische Verschränkung der jeweiligen Protagonistin mit La France, dieser Grande Nation im angezählten Zustand, die viel Übung darin hat, sich ihre Vergangenheit und ihre Galionsfiguren nach Maßgabe neu zu erfinden. Einfache Regel: je ambivalenter die Figur, desto ambivalenter das Tableau, das in "France", 2021, eine telefixierte, über Social Media gesteuerte, affekt- und event-getriggerte Gesellschaft in Szene setzt, in der die Moderatorin France de Meurs (Léa Seydoux), unterstützt von ihrer Assistentin Lou (zum Niederknien: Blanche Gardin) über eine Reportage- und Debattenshow regiert, die vom Publikum geliebt wird und zum journalistischen Ethos ein eher entspanntes Verhältnis pflegt.

Dumont etabliert dieses Tableau in den ersten Minuten, um dann eine Erosion einzuleiten, die knapp zwei Stunden in Anspruch nimmt und weder als Demontage der Figur noch als Läuterung zu beschreiben ist, sondern als ein langgezogener Prozess, in dem das, was einmal wie ein ziemlich geiler Job aussah, alle Farbe und Attraktivität verliert. Der Modus der Mise en scène ist der des Melodrams: viel stummes Spiel, viele Zooms auf das Gesicht der Hauptfigur; erstarrter Körper, eingefrorene Mimik und ein Szenario, in dem die wesentlichen Veränderungen unterhalb des Sichtbaren stattfinden (von einer ausführlich inszenierten Unfallszene gegen Ende des Films abgesehen). Irgendwann geht es nicht mehr mit der Show, irgendwann wird die Aufmerksamkeit zu viel, die Malaise zu groß, irgendwann drehen sie dann trotzdem wieder; und wenn an diesem Film irgendetwas erstaunt, so ist dies zum einen der uneingeschränkt affirmative Umgang mit den Registern der psychologischen Erzählung und zum anderen die Idee, den Fernsehjournalismus in Zeiten der Social Media als Passion neu zu erfinden. Oder ihn einfach weitergehen zu lassen, bis zur allerletzten Szene, die dann doch sehr direkt in die Welten des Regisseurs Dumont zurückführt.

Stefanie Diekmann

France - Frankreich 2021 - Regie: Bruno Dumont - Darsteller: u.a. Léa Seydoux, Blanche Gardin, Benjamin Biolay, Emanuele Arioli, Juliane Köhler, Gaëtan Amiel - Laufzeit: 133 Minuten.

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"U" ist das größte virtuelle Netzwerk der Welt, eine opulente, multiperspektivisch und kleinteilig in alle Himmelsrichtungen und noch ein paar mehr wuchernde digitale Community, in der über fünf Milliarden Menschen aus aller Welt, vermittelt durch "AS" genannte Avatare, miteinander interagieren. "U is another world, AS is another you", eine neue Welt und ein neues Ich, um neue Bezüge zwischen Individuum und Welt auszuagieren. Denn in U könne man, so heißt es im Prolog zu Mamoru Hosodas neuem Anime "Belle", das tun, was einem in der Außenwelt auf ewig verweigert sei: wirklich neu anfangen. Ein Hoffnungsschimmer für die stille, traurige Suzu, die ihre Mutter durch ein schlimmes Unglück verlor und sich seither tief in sich selbst verpuppt hat.

Die Avatare, mittels derer man sich durch U bewegt, sind nicht selbst gewählt und gestaltet. Sie werden durch einen mutmaßlich allwissenden Algorithmus aufgrund biometrischer Daten gestaltet und den Nutzer*innen zugeteilt. Ihr Versprechen ist es, eine dem oberflächlichen Blick versperrte innere Wahrheit zu verkörpern - eine keineswegs weniger wirkliche Wirklichkeit, die hinausreicht über das, was wir von unserem eigentlichen Selbst nach Außen kommunizieren können; eine zweite Identität, die es uns ermöglicht, in einem alternativen, spielerischen Kosmos auszuleben, was die Umstände oder unsere eigenen Hemmnisse uns verbieten von uns selbst zu veräußern. Nur dass es in diesen Welten bei Mamoru Hosoda, man erinnere sich an den inhaltlich verwandten "Summer Wars", selten beim Spiel bleibt und irgendwann stets ein potenziell lebensbedrohlicher Ernst einzieht.

Zunächst jedoch schreibt Suzu mit ihrem Avatar "Bell" (nicht "Belle"!) eine Erfolgsgeschichte. All ihren Schmerz und ihre Trauer, die sie im realen Leben nur lähmen und verstummen lassen, fließen in traurige Lieder - in diesen Sequenzen ist "Belle" ein Musical -, die das unscheinbare Mädchen zum größten Popstar von U und somit automatisch auch der anderen Welt dort draußen machen. Bald jedoch taucht eine andere, dunklere Präsenz im Dunstkreis von Bells märchenhaftem Aufstieg auf - ein "Biest" als Komplement zu ihrer "Schönen", denn von nun an entspinnt sich zunächst eine Art Retelling des klassischen, oft verfilmten Märchens. Bell ist fasziniert von jenem machtvollen, aber von zahllosen Narben gezeichneten und von destruktiver Wut und düsterer Traurigkeit erfüllten Avatar, der von allen nur als "Drache" oder "Biest" bezeichnet wird, und wird nach und nach in dessen Welt hineingezogen - einen Mikrokosmos innerhalb von U, der an eine im Zerfall eingefrorene, halberinnerte Version des gotischen Märchenschloss aus Disneys ikonischem "Beauty and the Beast" erinnert.



Hosoda ruft diesen Kontext nicht auf, um die klassische Liebesgeschichte einfach erneut für ein digital vernetztes Zeitalter zu erzählen. Stattdessen treibt er die Auseinandersetzung mit Tod, Verlust und Trauer, die sich durch all seine Filme zieht, weiter als je zuvor: "Belle" ist Hosodas traumatisiertester Film, und die Substanzen, mit denen er in der zweiten Hälfte ringt, sind schwer und dunkel. Während Bell versucht, das Vertrauen des geheimnisvollen Biestes zu erringen und die Geschichte des Menschen hinter dem zornigen Avatar zu entdecken, heftet sich eine Art virtuelle Polizeitruppe unter der Führung des selbstgerechten Justin an dessen Fersen, um ihn durch ein Zwangsouting vor aller Welt zu enttarnen und bloßzustellen.

In der Form eines überbordend fantasievollen Bilderrausches wagt sich "Belle" an eine Reihe durchaus ambivalenter Fragen heran. Inwieweit können wir das, was wir durch unsere Fluchten in digitale Realitäten und die zugehörigen Identitätsexperimente gewinnen, in unsere mitunter traurigeren Leben jenseits der globalen Netzwerke zurückfließen lassen? Welche Möglichkeiten gibt es, um ein echtes, zwischenmenschliches Vertrauen zu etablieren in einer Welt der Avatare zwischen Schein und einem Sein, das in Teilen unverfälschter zu sein beabsichtigt als jenes "away from keyboard"? Können wir das Dasein in einem Netzwerk, das von unsichtbaren Algorithmen wie scheinbar allmächtigen Polizeikräften vorgegeben wird, revolutionieren, indem wir unser authentisches Selbst hineingeben? Und kann dort so etwas wie echte Solidarität entstehen?

Genregerecht liefert Hosoda, der sich einmal mehr als einer der komplexesten und experimentellsten Animeregisseure der Gegenwart erweist, am Ende zwar einige märchenhaft-utopische Antworten auf diese brennenden Fragen. Spätestens, wenn man auch nur einen Moment über den Abspann dieses wunderschönen und tieftraurigen Films hinausdenkt, begreift man jedoch, dass er uns auch lange danach mit ihnen allein lässt.

Jochen Werner

Belle - Japan 2021 - OT: Ryû to sobakasu no hime - Regie: Mamoru Hosoda - Laufzeit: 121 Minuten.