Im Kino

Trotziges Tröten

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Sebastian Markt
15.11.2018. Hu Bos großartiger Film "An Elephant Sitting Still" erkundet die Sehnsüchte in einer Gesellschaft, die keine Abweichungen toleriert. Trost findet er in der filmischen Form. Luca Guadagninos "Suspiria" sammelt Details und verlötet sie zu einem faszinierenden kulturellen Nervensystem.


Es gibt diese Filme in der Weltkinokonjunktur, an denen sich im Festivaltreiben schnell etwas kristallisiert, oft, weil man von denen, die sie gemacht haben, zuvor wenig wusste, vor allem, weil sie in irgendeiner Form herausragen, als Solitäre in einer nicht immer übersichtlichen Landschaft erscheinen, oder auch nur, weil sie - was nicht wenig ist - auf ihre Zuseher*innen eine Wirkung entfalten, die das Auf- und Eintauchen von einem Film in den nächsten schwierig machen. "An Elephant Sitting Still" war einer dieser Filme, bei seiner Weltpremiere im diesjährigen Forum der Berlinale, bei weiteren Stationen in Locarno, in Toronto und an vielen anderen Orten. Dass sein junger Schöpfer Hu Bo, der in China vorher unter dem Namen Hu Quian als Autor zweier Romane bekannt war, zum Zeitpunkt der Uraufführung seines ersten und einzigen langen Films - der vielen Lesarten offen steht, von denen man allerdings keine heiter nennen würde - schon fast ein halbes Jahr tot war, trug das seine dazu bei, das Werk auratisch aufzuladen. Es zirkulieren Geschichten über diesen Tod, der ein Suizid war, die ihn in Zusammenhang rücken mit einer schwierigen Produktionsgeschichte.

Einer, der den Regisseur kannte und mit ihm gearbeitet hatte, ist Béla Tarr. In Toronto hatte er einen Kurzfilm Hus vorgestellt, der unter seiner Mentorschaft entstanden war, in Wrocław sollte er "An Elephant Sitting Still" präsentieren, war aber verhindert, weshalb man, was er zu sagen gehabt hätte, jetzt nachlesen kann. "Er konnte die Welt nicht akzeptieren" steht da, "und die Welt konnte ihn nicht akzeptieren. Obwohl wir ihn verloren haben, werden seine Filme immer mit uns sein." Viel mehr weiß ich nicht über Hu Bo und sein Leben. Und ein Selbstmord scheint mir ein furchtbar stumpfes hermeneutisches Werkzeug zu sein. Es bleibt also der Film.

Der Film: In der nordchinesischen Stadt Mǎnzhōulǐ, so beginnt es mit einer Erzählung aus dem Off, eigentlich der Erzählung von einer Erzählung, soll es einen Elefanten geben, der den ganzen Tag nur dasitzt, still und stoisch, und der ignoriert, was um ihn herum geschieht. Immer wieder, über die Dauer des Films, 234 Minuten - von denen keine zu viel ist - im Kino, ein Tag in der Welt, die er erzählt, wird die Vorstellung dieses still dasitzenden Elefanten zur Sprache kommen und sich in der Fantasie der Figuren breitmachen, dort für Dinge einstehen, die im Konkreten schwer zu fassen sind.

Vor der Kulisse einer Industriestadt, die ohne Namen bleibt, mit Gebäuden, die den Fortschritt, den sie einmal repräsentierten, nicht mehr darstellen, in einer Welt, in der man immer schon tief drin steckt, gehen ein Dutzend Charaktere ihrer Wege - Wege, die sich immer wieder kreuzen und überlagern, langsam ein Geflecht aus Beziehungen und Verhängnissen spinnen. Bu zum Beispiel, ein Schüler, der dem zu Hause trinkenden Vater die Ersparnisse klaut, der einen Mitschüler in Schutz nimmt, der eines Diebstahls beschuldigt wird, den dieser nicht begangen haben will, und deshalb mit dem Rüpel Shuai aneinandergerät. In einer eskalierenden Konfrontation stößt Bu Shuai eine Treppen hinunter, wobei dieser sich schwer verletzt. Bu ist von da an auf der Flucht.

Shuais Bruder Cheng, ein smarter lokaler Gangster ist nun mit der Erwartung seiner Familie konfrontiert, dass er sich zu rächen habe, aber unterdessen ist er, wie eigentlich alle vier zentralen Personen, verloren in seinen eigenen Desastern. Am Morgen hatte sich ein Freund, mit dessen Frau Cheng ein Verhältnis hatte, aus dem Fenster gestürzt, vor seinen Augen. Der alte Jin soll, wenn's nach dem Willen seines Sohnes geht, aus der gemeinsamen Wohnung in ein Altersheim ziehen, und gerät mit einem Paar aneinander, dessen entlaufener Hund seinen eigenen totgebissen hat. Bus Mitschülerin Ling leidet an der aggressiven Teilnahmslosigkeit ihrer Mutter und hat ein Verhältnis mit dem übergriffigen Vizerektor der Schule.



Aus dieser "Short Cuts"-artigen Struktur webt "An Elephant Sitting Still" ein Panorama ganz eigener Art, nicht als großes, sinnfälliges Schicksalstheater, sondern als dichte Beschreibung eines kontingenten in-der-Welt-Drinsteckens, das die Figuren noch in der Schwebe hält, während sie bereits dabei sind, aus ihr rauszufallen. Der Tonfall der Erzählung ist, bei allem, was an Egoismen und Statuskämpfen, ausbleibender Empathie und gegenseitigem Aufreiben Platz findet, weder denunziatorisch noch gewillt, ein jedes Leben auf das eine Geheimnis zu reduzieren, das es verständlich machte.

Die Kamera folgt den Figuren oft in langen komplexen Plansequenzen, die, anstatt sich zu einem panoptischen Überblick zu fügen, auf Details fokussieren, auf die Texturen abgenutzter Sehnsüchte. Ein Blick, der bei den oft harschen Sätze, die hier Leute zueinander sagen, weniger an der Rage der Entäußerung interessiert ist, als an der Reaktion, oder Nichtreaktion der Adressat*innen, wie er generell mehr an den Zwischenräumen und dem Abstand der Figuren interessiert ist, als am Anschein einer Dialoghaftigkeit, die sich in Schuss und Gegenschuss sauber auflösen ließe. All das in verwaschenen, kraftlosen Farben, die smoggleich ins monochromatische tendieren, ohne dort anzukommen, und einer Tonebene, die mitten hinein führt in das überbordende akustische Universum einer Stadt, und zugleich Aufmerksamkeit bewahrt für die ephemeren Spuren gelebter Leben, das Verglimmen einer Zigarette bei einem tiefen Zug, das Geräusch zwischen Boden und Schuhen auf den kreisenden Wegen der Charaktere. Dann noch ein spärlich, aber umso effektiver eingesetzter Soundtrack aus erschöpft melancholisch vor sich hin sinnierenden Postrockgitarren, der sich kontrazyklisch zu einem Hauch traurigem Elektropop aufschwingt.

Das geduldige Registrieren von Verbindungen verdichtet sich im Lauf der Zeit zu einem Handlungsvektor, der die vier zentralen Figuren, die in ihrer Umgebung nicht aufgehen, auch aus ihr und aus der Stadt hinausführen. Ihre Haltlosigkeit greift auf den Plot über. Als mikrogeschichtliches Sittenbild einer Gesellschaft, die in einer destruktiven Dynamik die Würde derer schleift, die auch bloß versuchen, die Regeln zu entziffern, nach denen das Spiel gespielt wird, ist "An Elephant Sitting Still" ein Dokument der Hoffnungslosigkeit. Trost liegt eher in der Form eines Films, der nichts an seinen epischen Dimensionen prahlend und verschwenderisch anlegt, sondern ein Reichtum an Welt in die Tiefe erschafft, der der Verlorenheit, die in jedem seiner Charaktere steckt, eine Form gibt, die sie darstellbar macht und damit ihren Schrecken bannt; ein Trost von zugegebenermaßen eher metaphysischen Dimensionen.

Niemand kommt wirklich davon, niemand kommt wirklich an ein Ziel, im Diesseits der Erzählung. Im letzten Bild, der nächtliche Halt eines Busses auf halbwegs freier Strecke, hört man dann aber den Elefanten, ohne ihn zu sehen, ohne rechte Ahnung, woher das kommen könnte. Es kündet nicht gerade von Hoffnung, aber hallt als trotziges Tröten in einem Ozean der Bitternis lange nach.

Sebastian Markt

An Elephant Sitting Still - China 2018 - Regie: Hu Bo - Darsteller: Zhang Yu, Peng Yuchang, Wang Uvin, Li Congzi - Laufzeit: 234 Minuten.

---



Eine Fantasie, eine Erscheinung führt uns zum Finale des neuen "Suspiria": Ein alter Mann und seine totgeglaubte Frau (Jessica Harper), nach Jahrzehnten der Trennung wiedervereint, passieren die Grenzposten im Tränenpalast ohne von den Grenzbeamten auch nur einmal angesprochenen zu werden. Harper war auch die Hauptdarstellerin in dem 1977er Original-"Suspiria" von Dario Argento, ein Film, der mir vorkommt wie die verspätete Albtraumvariante eines Musicals aus der Ära des klassischen Hollywood. Die ausladende Treppe im Foyer der Tanzschule, Joan Bennetts fließende Kleider, die geschwungenen Absätze der Tanzschuhe und die künstlich bunten Sets. Doch die Zeiten des Ideals, des Traums vom großen Glamour, sind vorbei. Der Grad an inszenatorischer Perfektion eines Hollywoodmusicals ist unerreichbar, das Ideal der grenzüberschreitenden Affizierung, die exakte Zuweisung von psychologischen Motiven, von Gut und Böse obsolet.

In "Suspiria" enthält uns Argento deswegen stets die entscheidende Wahrnehmungsebene vor. Eine Schülerin muss konzentriert Schritte zählen, weil sie nicht sehen kann, wohin die Lehrerinnen nach Schulschluss verschwinden. Ausgerechnet dieses Motiv wurde als eines der Wenigen eins zu eins in den neuen Film übernommen, der zwar vorab als Remake bezeichnet wurde, sich aber zum Original eher so verhält wie das Original zum klassischen Hollywood: besessen von einer Vergangenheit, die ihrerseits von der Vergangenheit heimgesucht wird.


In Luca Guadagninos "Suspiria" schreiben wir das Jahr 1977, die Tanzschule wurde aus Freiburg in das geteilte Berlin verlegt, Radio und Fernsehen berichten Tag und Nacht von den Taten der Baader-Meinhof-Gruppe. Das Provinzmädchen Susie Bannion (Dakota Johnson) erreicht den U-Bahnhof Pankstraße, der mit seiner kaltsilbernen Schrift auf dunkelbraunem Grund die beiden Enden des Farbspektrums im Film markiert: die entsättigte Variante der 1970er-Palette, in der von Matschbraun bis Nebelgrau sämtliche Schattierungen des Berliner Winters enthalten sind. Die jungen Frauen tragen wadenlange Röcke und weite Ärmel; jene Sparte der Siebziger-Jahre-Mode, die sie aussehen lässt, als wären sie geradewegs dem Schoß einer Sekte entsprungen. Die gedämpften Farben gehören, wie das miserable Wetter, zu den wenigen Konstanten in diesem langen, verschachtelten Gebilde von einem Film.

Ein Leben im 1970er-Berlin von "Suspiria" bedeutet, permanent mit der Vergangenheit der Stadt konfrontiert zu sein. Aus den Fenstern der Eingangshalle der Schule ist die Mauer zu sehen und mehrfach wird angedeutet, es sei einzig der Schulleiterin Madame Blanc (Tilda Swinton) zu verdanken, dass die Markos Dance Company durch sämtliche historische Katastrophen des 20. Jahrhunderts hindurch geöffnet bleiben konnte. Eine äußere, von Männern dominierte Welt, repräsentiert von Polizisten, Grenzbeamten, einem gebrechlichen Psychologen namens Dr. Josef Klemperer (ebenfalls Tilda Swinton), dessen Praxis vollgestopft ist mit Büchern über Carl Gustav Jung und die Freimaurer, steht unwissentlich einer inneren gegenüber, irgendwo gut unterhalb der Gesellschaft versteckt: einer von Frauen regierten Terrorzelle. Susie erweist sich als Glücksfall für diese Zelle, als Naturtalent, dessen Körper sich im Tanz kraftvoll dehnt und biegt.



Guadagninos "Suspiria" erweist sich als eine Emulsion aus eigentlich kaum mischbaren Anteilen, einzelnen Öltröpfchen in Wasser, aus zahllosen okkulten, feministischen, historischen, psychoanalytischen Symbolen und Referenzen. Ein Tagebuch voller Vermutungen und Recherchen über Hexenzirkel. Albtraumsequenzen suggerieren eine traumatische Kindheit. Angela Winkler und Ingrid Caven beschwören die Ära der großen Fassbinderschauspielerinnen herauf und später kulminiert alles in einem Finale mit schlockigen Masken und animalischen Pina-Bausch-Gedächtnis-Choreografien zum bestrickenden Soundtrack von Thom Yorke, während Dakota Johnson wie in einer verkehrten Version ihres größten kommerziellen Kinohits haucht: "I'm ready, Madame."

Luca Guadagnino erklärt nicht und buchstabiert auch nichts aus. Er sammelt Details, als wäre er selbst ein Besessener, verlötet sie zu einem kulturellen Nervensystem, dessen Synapsen erst durch heftige körperlichen Reaktionen zu funken beginnen. Wenn deutlich hörbar Knochen brechen und spitze Haken ins Fleisch fahren, wirkt das wie ein letzter verzweifelter Versuch, doch noch alle Wahrnehmungsebenen zusammenzubringen.

Katrin Doerksen

Suspiria - Italien 2018 - Regie: Luca Guadagnino - Darsteller: Dakota Johnson, Tilda Swinton, Doris Hick, Malgorzata Bela, Chloë Grace Moretz, Angela Winkler - Laufzeit: 152 Minuten.