Im Kino

Netz an Referenzen

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Patrick Holzapfel
03.04.2019. Man lernt schnell, dass man Godard zu respektieren hat, seine autoritäre, leidende Raucherstimme, die für den deutschen Kinostart zum ersten Mal auf Deutsch mit französischem Akzent murmelt.  Die Zersetzung der Bilder wird gefeiert, bedauert und dokumentiert. Über "Bildbuch". Und über die reichlich struppige Familienkatze Church in der Neuverfilmung von Stephen Kings "Friedhof der Kuscheltiere".


Das Kino ächzt und schüttelt sich, zersetzt sich, während es die letzten Laute krachend von sich gibt. Die Töne kommen mal von links, mal von rechts, mal von vorne, sie setzen aus, nichts hält wirklich mehr zusammen. Früher einmal fand Jean-Luc Godard den Dolby-Surround-Irrsinn lächerlich, heute nutzt er ihn wie kein Zweiter. Man lernt schnell, dass man Godard zu respektieren hat, seine autoritäre, leidende Raucherstimme, die für den deutschen Kinostart zum ersten Mal auf Deutsch mit französischem Akzent murmelt (eine wunderbare Idee, um dem Untertitelwahnsinn der Voice-Over-Fetzen zu entgehen) und dieses Kino der essayistischen Überfrachtung mit Fragilität untermauert.
 
Denn natürlich geht es auf den ersten Blick mehr um ein Kino, das war, als um ein Kino, das ist. Das ist nichts Neues bei Godard. Manches Bild (und mancher Ton) in seinem "Bildbuch" kommt konsequenterweise auch aus dem eigenen Oeuvre. Andere Bilder stammen aus der eigenen Sammlung, weitere aus dem Internet, wieder andere zeigen Godards Hände an einem Schneidetisch mit Filmmaterial arbeiten. Godard betreibt - durchaus angelehnt an Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi - eine Kinoarchäologie. Die Bilder machen etwas sichtbar, was unter den Schichten der Zeit vergraben liegt. Manches im Film mag an seine "Histoire(s) du cinéma" erinnern, aber eigentlich interessiert sich Godard in "Bildbuch" mehr für das, was Bilder über die Realität sagen, was sie mit ihr machen, als für den Kinoapparat selbst. Er ist der ewig Trauernde, aber aus ihm sprudeln noch assoziative Ideenfragmente im Sekundentakt und Bilder, so viele Bilder, die die Welt bedeuten. Und dann gibt es da einen korrektiven Strang, der die eigene Kanonbildung hinterfragt. Jenen, der sich gen Osten wendet, zur arabischen Welt hin. 



Die Zersetzung der Bilder wird gefeiert, bedauert und dokumentiert. Pixel, Rauschen, Szenen aus dem Nichts und Alles der Bewegtbildgeschichte in verfremdeter, katastrophaler Auflösung. Godard kennt keine Grenzen im Umgang mit Fremdmaterial. Statt der von Filmarchiven, Online-Zensoren und Rechteinhabern propagierten Dominanz des intellektuellen Besitzes vertritt er eine Politik der Aneignung. Darauf angesprochen, warum er Bilder aus einem Michael-Bay-Film integrierte, konnte er sich nicht an den entsprechenden Film erinnern, behauptete gar, Michael Bay nicht zu kennen. Bilder und Zitate sind für ihn Teil eines kollektiven Denkens. Sie auf Autoren und Autorinnen zu reduzieren, würde den möglichen Fortschritt aufhalten, den wir aus ihnen gewinnen könnten. Dennoch wird im Film ganz wörtlich eine Nähe zwischen Archiv und Moral betont. Es scheint dabei mehr um eine Moral der Sehenden als der Besitzenden zu gehen. Der Umgang mit der Vergangenheit wird bei Godard beständig als Möglichkeit begriffen. Zwar wirkt es so, als wäre vieles schon vorbei, in Wahrheit aber ist "Bildbuch" ein melancholischer und zugleich enthusiastischer Aufruf, anders zu sehen, anders zu denken.
 
Der Film besteht aus fünf Kapiteln: "Remakes", "Die Abende von Sankt Petersburg", "Diese Blumen zwischen den Gleisen im wirren Wind der Reisen", "Der Geist des Gesetzes", "La Région Centrale". Fünf Kapitel wie Finger an der Hand. Gleich zu Beginn sieht man einen warnenden Finger, Godard sagt uns, dass es die wahre Bestimmung des Menschen sei, mit den Händen zu denken. Es spiegelt sich in den Kapiteln, dem warnenden Finger zu Beginn und dem Halten eines Filmstreifens als durchgehendes Motiv. Die Hand, die baut, die Hand, die zerstört. In einem Film, der wie vieles im jüngsten Schaffen Godards von der Sprache besessen ist, gibt es den Gedanken eines Denkens ohne Worte. Als Beispiel nennt der Filmemacher die französische Comicfigur Bécassine. Ein schweigsames Dienstmädchen aus der Bretagne, vor der sich die Herrscher fürchten müssten. Später im Film sieht man ein Bild von ihr. Auch sie hebt den Finger warnend in die Luft. Wem gilt diese Warnung?
 
Einmal heißt es: "Die Armen werden die Welt erretten." eine Idee, die sich im Kino manifestiert hatte, man denkt womöglich an Thom Andersens "The Thoughts That Once We Had" und spürt auch hier den verblassenden revolutionären Traum der siebten Kunst. Auf der einen Seite tanzt der Adel, auf der anderen Seite wird geschossen. Ein Klassenkampf. Und dennoch, so erzählt Godard, sind es die ganz Reichen und die ganz Armen zusammen, die die Welt zerstören würden. Die ganz Reichen aus dekadentem Desinteresse, die ganz Armen aus Notwendigkeit und weil sie es nicht besser wüssten. Außer dem Gegensatz von Arm und Reich zeigt Godard auch jenen zwischen (heiligem) Gesetz und Freiheit. Eine Unvereinbarkeit, die auf Fehler im System hindeutet. Oder ist die erhobene Hand nur die Geste einer geforderten Aufmerksamkeit? Man kommt ohnehin kaum zur Ruhe in diesem Film, in dem man viele Menschen in den Bildern sterben sieht. Explosionen, Folterungen, Morde, Schüsse in der Dunkelheit. Dazu baut Godard ein Netz an Referenzen in einer Geschwindigkeit, die man kaum verarbeiten kann. Innerhalb von nicht mal einer Minute hört man von Scott Walker "Orpheus", Propheten und "Les Signes Parmi Nous" von Ramuz, der wie Godard aus der französischsprachigen Schweiz stammt und dessen Buch ein Gemälde sein wollte. Dazu kommen unzählige Bilder, die schwer zuzuordnen sind.
 


Es gibt zwei Arten diesen Film zu sehen. Im Kino bleibt einem nichts anderes übrig, als sich hinzugeben, in den kontrapunktierten Montagen Godards und den eigenen Gedanken nachzuhängen, nie ganz mitzukommen und etwas zu spüren, was man als Nostalgie einer Utopie bezeichnen könnte. Ein Gefühl davon, was mit Bildern möglich gewesen wäre, was auch immer noch möglich wäre, wenn wir einen Schritt zurückgehen könnten. Das Versprechen des Kinos, wie es Alexander Horwath unlängst nannte. Der Mensch sei ein seltsames Wesen, hadert die Erzählstimme, er sei in der Lage, die eigene Natur zu erkennen, wenn er damit konfrontiert werde, aber wenn man diese Natur vor ihm verhülle, sei er hilflos. Mit Montesquieu und dessen "L'esprit de Loi" versucht Godard gegen dieses Verhüllen anzukämpfen, um auch jene Vorurteile aus dem Weg zu räumen, die einen daran hindern, sich selbst zu erkennen. Große Ziele, die sich durch den ganzen Film ziehen, ohne dass man sie je ganz greifen kann. Einmal heißt es: "Ich brauche einen ganzen Tag, um eine Sekunde zu erzählen." Die Realität im Kino von Godard scheint umgekehrt. Er erzählt manchmal ein ganzes Jahrhundert in einer Sekunde.
 
Oder aber man sieht den Film am Schneidetisch, der durchaus ein Laptop sein darf. Godard wollte den Film ohnehin zunächst als Installation veröffentlichen und verkaufte ihn dementsprechend an das Centre Pompidou (eine Ausstellung samt begleitender Fotos ist geplant, auch in anderen Städten). Man hätte sich innovativere Vertriebsformen vorstellen können, etwa das Freischalten eines Links beim Kauf der Kinokarte oder Ähnliches. Allerdings könnte ein solches Vorgehen im Überlebenskampf des Kinos kontraproduktiv sein. Der Film bekommt jedenfalls ganz andere Dimensionen, wenn man ihn wie ein Buch betrachtet. Man liest ein bisschen, bleibt an etwas hängen und beschäftigt sich damit. Später schaut man weiter.
 


Derart stolpert man zum Beispiel über die Apokalypse. Zwischen "Kiss Me Deadly", Fritz Lang, der Atombombe und biblischen Gemälden entsteht ein Dialog ohne Worte. Man spürt die Erschütterung oder liest weiter über sie, schaut sich die Filme an, studiert die Bilder. Diese Bilder, macht Godard klar, können lügen oder die Wahrheit sagen. Wenn es einst bei ihm hieß, dass das Kino die Wahrheit 24mal in der Sekunde wäre, dann ist da heute ein Zweifel, was zwischen einem Bild und der Realität passiert, also zwischen der Repräsentation und den repräsentierten Subjekten. Godard schafft es, die Theorie seines Ziehvaters André Bazin aus den verstaubten Regalen zu heben, um zu zeigen, dass das Wesen des Kinos immer (noch) im Verhältnis zur Realität liegt. Dazu montiert er zum Beispiel Aufnahmen von gefilmten Terrorverbrechen gegen analoge Bilder des Kinos. Es entsteht der Eindruck einer Wiederholung, ja Redundanz. Aber das Verhältnis der Bilder zueinander kann neu gedacht werden. Sinnbildlich dafür springt der Film zwischen unterschiedlichen Formaten hin und her.
 
Deutlicher wird Godard im letzten Kapitel, wenn er sich mit den Bildern der arabischen Welt befasst. Er betont, dass Repräsentation im Westen eine Frage der Gewalt gegenüber den repräsentierten Subjekten sei. Und er erzählt vom Kontrast zwischen der Ruhe, in der etwas gezeigt werde und der Gewalt des Gezeigten. Die Westen interessiere sich nicht für die arabische Welt. Der Islam sei politisch, die Welt dahinter nur eine dekorative Landschaft. Polemisch wird die Frage gestellt, ob Araber sprechen können. In der Folge versucht der Film, Araber sprechen zu lassen, einen neuen Blick zuzulassen, den Bilderkanon zu hinterfragen, anders zu sehen, mehr zu verstehen. Dabei wird nicht nur der westliche Blick kritisiert, gleichermaßen erfolgt eine Analyse der Bildpolitik der arabischen Welt. Die Tatsache, dass man als westlicher Betrachter des Films kaum eines dieser Bilder kennt, ist das, was Godard zeigen will. Ob es für diese Erkenntnis der revolutionären Geste eines beinahe 90-Jährigen bedarf, ist eine andere Frage. Es hat sicher damit zu tun, dass Godard das Selbstverständnis hat, seine subjektiven Ansichten und Lektüren als enigmatische, bedeutungsgetränkte Allgemeinheiten darzustellen. Man tut allerdings gut daran, ihnen zunächst zuzuhören und sie zu reflektieren, bevor man die Art und Weise des Denkens an sich hinterfragt und dann gar nichts mehr wahrnimmt.
 
"Bildbuch" erzählt auch vom Ende, vom Sterben und vom Übergang einer Zeit in die andere. Das beginnt schon mit den Bildern von aus dem Wasser Geretteten, den Auferstandenen des Kinos, Kim Novak in "Vertigo" oder Jean Dasté in "L'Atalante". Was von einer Epoche überlebt, meint Godard in einer schönen Passage, die gleichsam ein Essay über das Verhältnis von Zugfahrt und Kino und Moderne und Gewalt ist, sind die Künste. Eine Kunstform verschwinde, sobald ihre Zeit vorüber sei. In dieses Bedauern, das natürlich auf das Kino selbst anspielt, mischen sich allerdings jene Blumen, die zwischen den Gleisen überleben, sowie ein Gefühl von Befreiung, das daraus entsteht, dass das Kino und die Zeit sich voneinander entfernt haben. "Das Warten in der Zeit öffnet die Zeit für die fehlende Zeit", sagt Godard an einer Stelle und es ist sein Anliegen in "Bildbuch", Töne und Bilder für diese fehlende Zeit zu finden und sie so vor dem Ertrinken zu retten.

Patrick Holzapfel

Bildbuch - Schweiz, Frankreich 2018 - OT: Le livre d'image - Laufzeit: 84 Minuten.

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Das kleine Glück der Familie Creed erscheint in alle Richtungen umgeben vom Tod: Auf der einen Seite ihres Grundstücks liegt die Landstraße, die zur nahe gelegenen Chemiefabrik führt, auf der anderen der Friedhof für die Haustiere, die Opfer der dort Tag und Nacht entlang rasenden Tanklaster wurden. Louis (Jason Clarke) und Rachel Creed (Amy Seimetz) sind mit ihren Kindern, der fünfjährigen Ellie (Jeté Laurence) und dem zweijährigen Gage, aus Chicago ins ländliche Maine, gezogen, wo der Familienvater eine Anstellung als Arzt an der dortigen Universität bekommen hat. Als zunächst die Familienkatze Church und etwas später eines der Kinder von den Lastern totgefahren werden, zeitigt das Wissen des alten Nachbarn Jud Crandall (John Lithgow) um die Macht der alten indianischen Begräbnisstätte hinter dem Tierfriedhof fatale Folgen. Denn was hier begraben wird, erwacht später zu neuem, mörderischem Leben.
 
Im Kern von "Pet Sematary" (Friedhof der Kuscheltiere), Stephen Kings bis heute erfolgreichstem Roman von 1983, steht der Tod und der Umgang der Menschen mit ihm. Dabei kommt es im Verlaufe der Handlung zu einer entscheidenden Verschiebung zwischen den Figuren: Wo es zunächst Rachel, durch das unschöne Ableben einer kranken Schwester vor vielen Jahren schwer traumatisiert, und Ellie sind, die sich unwillig zeigen, die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren, ist es schließlich Louis, für den als Mediziner der Tod zum beruflichen Alltag gehört, der alle Konsequenzen in Kauf nimmt, um die Tragödie, die ihn und die eigene Familie heimgesucht hat, ungeschehen zu machen.
 
Um eine schöpferische Allmachtsfantasie des Mannes der Wissenschaft geht es dabei gerade nicht, sondern darum, dass er aufgrund seiner Hilflosigkeit einen Weg einschlägt, der in den Wahnsinn und ins Verderben führt. Das übernatürliche Element der Handlung steht dabei letztlich für einen psychischen Vorgang: die vollkommene Verleugnung und Verdrängung des Todes aus Angst, sich der Trauer stellen zu müssen. Dies zeitigt Ergebnisse, die so fürchterlich und furchteinflößend sind, dass sie das ganze Ausmaß der Wahrheit von Juds Worten offenbaren: "Sometimes dead is better."
 


Mary Lamberts gelungener und beliebter Verfilmung von 1989, zu der King selbst das Drehbuch verfasste, hat die neue Adaption von Kevin Kölsch und Dennis Widmyer kaum etwas Nennenswertes hinzuzufügen. Auch wenn die Wiederholung und Variation bekannter Geschichten und Motive ein Grundprinzip des Genrekinos ist, wirkt die eine signifikante Änderung im Verlauf der Handlung hier geradezu exkulpatorisch, ganz so, als führe der Film sie als Rechtfertigung dafür an, dass er überhaupt gedreht wurde. Der Plot Twist beim Unfall des Kindes, mit dem sich der Film - letztlich nur scheinbar entscheidend - von der Vorlage entfernt, wirkt zwar reichlich konstruiert, allerdings findet er nicht nur für das schreckliche Ereignis selbst eindrückliche Bilder, sondern ist auch dem Spannungsaufbau im Finale zuträglich, weil er für eine konstruktive Verunsicherung im Bezug auf den weiteren Verlauf der Geschichte sorgt.
 
Dass das tatsächliche Ende dann allerdings ziemlich blöd ist, ist nur ein Problem. Wo schon der frühere Film im Finale darauf abzielte, verschiedene Register des Schreckens zu bedienen - von sich in Jump-Scares entladender Suspense bis zum garstigem Körperhorror einer mit dem Skalpell durchtrennten Achillesferse - wirkt der neue hoffnungslos überladen. Um die Tatsache zu kompensieren, dass es nichts wirklich Neues zu erzählen gibt, muss ein möglichst kompletter Durchgang durch das Bildgedächtnis des Genres mit den Mitteln des digitalen Kinos her.
 
Am interessantesten am Film ist der nebelverhangene, von dichtem Gestrüpp überwucherte Friedhof. Nicht weil die Animationen an sich sonderlich beeindruckend wären, sondern weil sie dem Ort eine exquisite Künstlichkeit verleihen, die wie ein treffendes CGI-Äquivalent zu den Studiolandschaften im Hollywoodkino lange vergangener Dekaden wirkt. Wo im Original schon die falsche Schreibweise von "cemetery" darauf verweist, dass dieses unheimliche Zwischenreich anderen Regeln als den gemeinhin bekannten folgt, sieht es passend dazu nun wirklich aus wie ein Ort nicht von dieser Welt.

Nicolai Bühnemann

Pet Sematary - Friedhof der Kuscheltiere - USA 2019 - Regie: Kevin Kölsch, Dennis Widmyer - Darsteller: Jason Clarke, Amy Seimetz, John Lithgow, Jeté Laurence - Laufzeit: 101 Minuten.