Im Kino

Heine. Ein Buch das ich schreiben würde

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Fabian Tietke
08.09.2021. Tom McCarthy erzählt in "Stillwater" die Geschichte des Prozesses gegen Amanda Knox als schräges europäisch-amerikanisches Hybrid, so irritierend wie der linkische Tanz von Matt Damon und Camille Cottin in der Küche. Bernhard Sallmann folgt in seiner Doku "Über Deutschland" den Spuren Marina Zwetajewas bei ihrer Deutschlandreise 1910.


Vor gut zehn Jahren war der Fall Amanda Knox explosiver Boulevardstoff. Die amerikanische Austauschstudentin war angeklagt, in Perugia ihre britische Mitbewohnerin getötet zu haben. Der Prozess um den grausamen Mord zog sich - wie in Italien nicht ungewöhnlich - über Jahre und durch etliche Instanzen hin, am Ende wurde Knox nach vier Jahren im Gefängnis von den beiden höchsten Instanzen freigesprochen. Aber nicht vom europäischen Boulevard. Die italienischen und britischen Gazetten ergingen sich in Geschichten über die gefühlskalte Amerikanerin, die nach dem Tod ihrer Freundin feierte und prasste und sich dann als Opfer gerierte. Der amerikanische Boulevard hingegen verachtete die italienische Justiz und grundsätzlich den ineffektiven, zweitklassigen Staat.

Tom McCarthy lehnt sich mit "Stillwater" an den Skandal an, und auch wenn der Regisseur seine eigene Ansicht über Schuld und Unschuld in Bezug auf Knox zu haben scheint, interessiert sich der Film nur am Rande für den Kriminalfall. Verhandelt werden stattdessen die Bilder, die sich Europa und Amerika voneinander machen.

Matt Damon spielt den Vater der jungen Allison, die seit fünf Jahren in Marseille im Gefängnis sitzt. Seit er seinen Job bei einer Bohrfirma verloren hat, schlägt er sich in Stillwater mit Gelegenheitsjobs durch. Bill Baker, ein echter Roughneck mit Ziegenbart, Baseballkappe und Sonnenbrille, kommt zum Einsatz, wenn wieder einmal ein Tornado über Oklahoma hinweggefegt ist. Dann schiebt er seinen massiven Körper durch die Trümmer wie einen Panzer. Ein Mann, der sich vor den Einschlägen des Lebens in seinem Körper verbarrikadiert.



In den USA könnte sein wehrhaftes Outfit als cool durchgehen, aber wenn er nach Marseille fliegt, um seine Tochter zu besuchen, wirkt er mit seinen grobkarierten Hemden und seinem genäselten "Yes, Mam" peinlich deplatziert. Seine hilflose Fürsorge und die unpassende Frömmigkeit stoßen an ihre Grenzen, als Allison ihm Hinweise in die Hand gibt, die ihrem Fall eine neue Wendung geben könnten: Ein junger arabischer Mann soll geprahlt haben, mit einem Mord davongekommen zu sein. Vom Bild einer reichen amerikanischen Studentin bleibt bei Abigail Breslins Allison nichts übrig. Anders als ihr Vater kaschiert sie ihre Unsicherheit mit den banalen Gesten und Floskeln amerikanischer Eloquenz.

Bill Baker braucht Hilfe und er findet sie bei niemand anderem als bei seiner Nachbarin Virginie. Sie ist Theaterschauspielerin mit einem Faible für die gute Sache. Vor Bill hat sie sich schon für Zero Waste und Flüchtlinge engagiert. Camille Cottin spielt sie als Inbegriff französischer Kultiviertheit, voller Esprit, gertenschlank, elegant, biegsam, von einer Leichtigkeit, die ans Flatterhafte grenzt. Die Begegnung zweier Menschen, die sich anziehen, obwohl sie sich abstoßen müssten.

Virginie hilft Bill bei seinen unbeholfenen Nachforschungen, sie übersetzt für ihn und sucht mit ihm nach dem jungen Araber. "Marseille ist total verrückt", erklärt sie ihm auf dem Weg nach Kalliste, einem besonders üblen Viertel in den quartiers nord, "aber immer noch besser als Paris. Die Leute reden hier noch miteinander. Und es ist billiger." In Kalliste treffen sie auf junge Mädchen, die so hilflos wie aggressiv agieren, und auf junge Typen, die ihnen bedrohlich zu Leibe rücken. Zurück in der Innenstadt befragen sie einen Barbesitzer, der sofort bereit ist, den erstbesten Araber als Täter zu identifizieren: "Die haben doch alle Dreck am Strecken." Der empörten Virginie hält Bill seinen Pragmatismus entgegen: "Warum sollte man nicht mit einem Rassisten reden, wenn der einem helfen kann?"



Im Laufe der Zeit zieht Bill bei Virginie, sie werden ein Paar, aber so ganz haut es nicht hin: Zu Virginies kleiner Tochter pflegt er ein liebevolles Verhältnis, aber als Mitbringsel schenkt er ihr einen billigen Plastikroboter, der bei der ersten Berührung auseinanderfällt. Virginies flamboyante Theaterfreunde mokieren sich über den einfältigen Hinterwäldler, der nicht nur eine, sondern gleich zwei Waffen besitzt, natürlich, einen Colt und eine Flinte. An einer Stelle lästert Virginie: "Wenn ich euer Essen sehe, verstehe ich, dass ihr vorher betet."

Tom Mc Carthy setzt auf ein intelligentes Hollywood-Kino, das wirken will, aber nicht von jedem Sechsjährigen auf der Welt verstanden werden muss. Schon in seinem Film "Spotlight" erzählte er eindrücklich von den Recherchen des Boston Globe zum Missbrauch in der katholischen Kirche. Auch "Stillwater" traut seinem Publikum Sinn für Subtilität zu, vor allem, da sich McCarthy für eine überraschend eindeutige und bemerkenswert sensible Auflösung des Falls entscheidet.

Doch "Stillwater" erzählt vor allem vom Clash der Kulturen, und führt die diffizile Begegnung von alter und neuer Kinowelt durchaus auch performativ vor Augen: McCarthy hat sich sein eigenes Drehbuch von den beiden französischen Autoren Thomas Bidegain und Noé Debré überarbeiten lassen, Hollywood-Konventionen verbinden sich mit europäischem Erzählen, Country-Songs von Kris Kristoffersen mit französischen Chansons, steife Oklahoma-Manieren mit Marseiller Lässigkeit. Das ergibt mitunter ein schräges Hybrid, so irritierend wie der linkische Tanz von Matt Damon und Camille Cottin in der Küche.  Oft gerinnt der Blick auf Marseille zum touristischen Klischee: Alter Hafen, Panier, Notre Dame de la Garde. Aber in den guten Momenten des Films können Amerikaner über ihr ignorantes Auftreten in fremden Länder erschrecken und Europäer über ihre Arroganz gegenüber dem zurückgelassenen Amerika.

Thekla Dannenberg

Stillwater - USA 2021 - Regie: Tom McCarthy - Darsteller: u.a. Matt Damon, Camille Cottin, Abigail Breslin, Lilou Siauvaud - Laufzeit: 140 Minuten.

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"Deutschland ist das Land der Sonderlinge. 'Land der Sonderlinge', so würde ich das Buch nennen, das ich darüber schreibe, auf deutsch." Den Sommer 1910 verbringt die russische Schriftstellerin Marina Zwetajewa im Land der Sonderlinge, in Loschwitz bei Dresden. Belustigt vermerkt sie die allgegenwärtigen Sandalen an den Füßen der Einwohner_innen, die von der Nähe des Ortes zum Sanatorium des Mediziners und Naturheilkundlers Heinrich Lahmann zeugen. Zwetajewas Text "Über Deutschland" bildet nun die Grundlage für einen Film Bernhard Sallmanns.

Nachdem der Film mit der Standseilbahn Dresden an Höhe gewonnen hat, spricht die Schauspielerin Judica Albrecht Zwetajewas Text parallel zur Bildebene in die Weite. Die Kamera blickt auf das Blaue Wunder, die Loschwitzer Brücke über die Elbe. Als Zuschauer sieht man in dieser ersten Szene Loschwitz durch die Luft hindurch, die den Text trägt, Zwetajewas Text ist ein Filter für den Blick auf die Bilder der Gegenwart.

"Über Deutschland" entsteht erst neun Jahre nach Zwetajewas Sommer in Loschwitz. Die Schriftstellerin ist zum Zeitpunkt der Entstehung zurück in Russland, mitten im Bürgerkrieg, der den Beginn der Sowjetunion begleitet. Ihr Mann, Efron, kämpft in diesem Krieg auf der Seite der Weißen gegen die Revolution. In "Über Deutschland" legt sie inmitten des Elends, in dem sie die Revolutionswirren durchlebte, Zeugnis ihrer Begeisterung für das Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts ab. Es ist leicht zu erkennen, wie sehr der Entstehungskontext den Text geprägt hat. An einer Stelle heißt es: "Bei Heine gibt es eine Prophezeihung über unsere Revolution. 'Und ich sage Euch es wird einmal ein Winter kommen, wo der ganze Schnee im Norden Blut sein wird.' Überhaupt steht bei Heine Interessantes über Russland, über das Demokratische einer Nation. Heine. Ein Buch das ich schreiben würde."

Wie in Sallmanns Fontane-Tetralogie ist die Landschaft auch in "Über Deutschland" konkrete Situierung und Klangkörper zugleich. In den Landschaften der Umgebung, in den Filmbildern der Gegenwart und den Bildern aus dem groben Umfeld der Zeit des Aufenthalts verbindet der Film den Text mit einem konkreten Ort. Die einzige andere Landschaft, die in Zwetajewas Text auftaucht, ist der Schwarzwald, wo sie mit ihrer Familie 1904/05 lebte. Zwetajewas Text hallt über die Jahrzehnte und die Verwerfungen der deutschen und russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hinweg in dieser Landschaft wider und kommt anders zurück.

Auch in "Über Deutschland" behält Sallmann die Kombination eines Textes mit Bildern der Landschaft, die diesen Text prägten, bei. Judica Albrecht spricht Zwetajewas Texte zu großen Teilen im Bild in die Landschaft hinein. Die Kamera filmt dazu die Dresdener Umgebung. Dazwischen hat Sallmann Bilder von Dresdner Malern des 19. Jahrhunderts wie Ludwig Richter und seiner beiden Schüler Ernst Ferdinand Oehme und Eduard Leonhardi montiert.

Zwetajewas Begeisterung für Deutschland wirkt angesichts der fortwährenden Gräuel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts von heute aus fremd. Etwas von dieser Befremdung dürfte sich schon 1919, zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes, eingestellt haben. Im Deutschland von heute wirkt er wie eine Flaschenpost aus einer unvorstellbar gewordenen Vergangenheit. Der Film nutzt diesen Effekt, um uns mit neuen Augen auf die Landschaft blicken zu lassen und die Differenz zum Gesprochenen zu bestimmen.

Fabian Tietke

Über Deutschland - Deutschland 2021 - Regie: Bernhard Sallmann - Laufzeit: 80 Minuten.
Neben der Kinoauswertung ist der Film als Video on demand verfügbar