Im Kino

Allein in der Welt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
20.02.2022. David Blue Garcias "Texas Chainsaw Massacre" kümmert sich nicht um frühere Remakes, Prequels und Reboots, sondern fängt einfach blutfrisch von vorne an: Diesmal mit einer Gruppe Influencer, die im texanischen Hinterland ein Startup-Paradies gründen wollen und dafür die Landlady von Leatherface auf die Straße setzen. Die Folgen kann man in Hi-End-Gloss bewundern. Josephine Deckers "Über mir der Himmel" ist eine Coming-of-Age-Geschichte, deren sinnliche Freiheit überwältigt: Hier ist alles Bewegung, Licht, Musik, Text, Körper.


Was "Halloween" kann, kann das "Texas Chainsaw Massacre" schon lang: die eigene, ziemlich unübersichtliche Franchise-Geschichte streichen und von Neuem anfangen, beziehungsweise sich beim kanonischen Urtext einhängen, ohne Gedanken darauf zu verschwenden, was es an Fortsetzungen, Remakes, Prequels und Reboots zuvor gegeben hat. Es gibt weitere Parallelen: Wie die "Halloween"-Fortsetzung von 2018 schlicht "Halloween" heißt, heißt die nun von Netflix präsentierte Fortsetzung von "Texas Chainsaw Massacre" schlicht "Texas Chainsaw Massacre" (Puristen werden darauf bestehen, dass es im Original "Chain Saw" geschrieben wurde). Und beide Franchises bescheren ihren Final Girls von damals ein Comeback als ergrauter, auf Rache sinnender Badass mit Knarre - Phallischwerdung  als Traumabewältigung.

Geblieben ist die "Hänsel und Gretel"-Logik des Originals: Junge Leute verirren sich ins texanische Hinterland, wo in einem verfallenen Gebäude das Unheil auf sie wartet, um aus ihnen Wurst zu machen. Waren es in den Siebzigern noch Quasi-Hippies, die im VW-Bus durchs texanische Hinterland fuhren, als wären sie immer noch auf der Suche nach dem Geist von Woodstock, sind es nun geschäftstüchtige Instagram-Influencer, die aus einer texanischen Geisterstadt ein Startup-Paradies mit Restaurants, schönen Cafés und Kunstgalerien für die urbane Elite zaubern wollen und dafür einen ganzen Tross an Investoren herankarren.

"Wir sind Idealisten, die die Welt ein bisschen besser machen wollen", sagt eine der Influencer einem alteingesessenen Texaner lächelnd ins Gesicht, der auf die in Aussicht gestellte Zwangsbeglückung eher mit schiefen Mundwinkeln reagiert. "Gentri-fuckers" heißt es anderer Stelle. Die naive Weltfremdheit eines Aktivistentums, das über Lippenbekenntnisse und Likes kaum hinauskommt, aber das Bündnis mit dem Venture-Kapital sucht, wird schön gallig durch den Kakao gezogen. Wie weit es mit diesen Idealen wirklich her ist, zeigt sich rasch, als in einem der Häuser eine alte, etwas wirre Frau sitzt, die ihre Wohnung partout nicht verlassen will. Sie habe die Schulden doch an die Bank bezahlt. Egal, frei nach Ton Steine Scherben: Das ist unser Haus, schmeißt die Alte raus.

Dumm nur, dass diese Frau seit Jahr und Tag dem alt gewordenen Leatherface (angemessen wuchtig: Mark Burnham) Unterschlupf bietet und dessen Zorn in Zügeln hält - dumm vor allem für die jungen Leute.



Produzent Fede Alvarez hat sich als Regisseur mit seinem ziemlich blutigen "Tanz der Teufel"-Remake einen Namen gemacht. Auch hinter dem nun vorliegenden Film dürfte er die zentrale Instanz sein - beim Regisseur David Blue Garcia, bis dahin vor allem als Kameramann in Erscheinung getreten, wird es sich eher um eine "hired hand" handeln. Insbesondere in der ersten Hälfte des Films gelingt es dem Team fulminant, die gesellschaftlichen Konfliktlinien, die den Film grundieren, angenehm zu verstrüppen. Dass die linksliberale Schickeria aus der Großstadt wenig Gespür hat für die Lebensrealität der Abgehängten in der Provinz, liegt auf der Hand. Aber der Film macht auch keinen Hehl daraus, dass der Rassismus weitab der Metropolen immer noch schwelt und jederzeit handfest werden kann. Am Haus der alten Frau hängt eine Südstaatenflagge - ein Affront gegenüber Dante (Jacob Latimore), schwarz und Kopf der Influencergruppe. Und als die Gruppe im Auto von der Polizei angehalten wird, ist klar, was Dante meint, wenn er seinen - weißen - Mitreisenden sagt: "Legt Eure Hände so, dass sie sie immer sehen können."

Schon Tobe Hoopers Originalfilm ließ sich vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs und der Katerstimmung nach den zerschlagenen Hippieträumen als gesellschaftspolitisches Statement verstehen, in dem die Keimzellen dessen, was heute als "gesellschaftliche Spaltung der USA" diskutiert wird, gut zu erahnen sind. Wenn Leatherface sich in der Fortsetzung mit der Kettensäge durch allerlei junge Körper fräst, dann übersetzt der Film diese oft abstrakte "gesellschaftliche Spaltung" direkt in die viszerale Splatter-Allegorie - spätestens wenn er einen Bus voll Partypeople zerkleinert, nachdem einer das Handy gezückt und Leatherface mit Canceln gedroht hat, sollte er auf lustige Ideen kommen. Die Folge: ein Snuff-Video per Insta-Live. "OMG I really have to go there" ist auf dem Screen noch zu lesen, als die Post so richtig abgeht.

Dass Trump-Wählern solche Momente gut taugen, davon ist auszugehen. Aber insgesamt macht der Film es beiden politischen Lagern nicht leicht, ihn widerstandslos für sich zu vereinnahmen. Gerade darin liegt die Stärke dieses tief in den modrigen Artefakten der Vergangenheit wühlenden Films, dessen Kulisse über weite Strecken aus der Anhäufung von Obsoletem und Abgetakteltem besteht. Nach guter Gothic-Tradition beschwört Garcia den Albdruck einer Historie, die tief von Gewalt durchzogen ist und sich bis heute Bahn bricht - ob nun in der rassistischen Spitze, dem archaischen Griff zur Kettensäge oder der zivilisierten Gewalt einer Wohnungsräumung. Dass der Showdown auch noch in einem ausrangierten Kino spielt, ist fast schon eine Ironie der Geschichte - wenn man bedenkt, dass Netflix als Gentrifizierer des Films seine Finger im Spiel hat. Dennoch macht "Texas Chainsaw Massacre" in seiner Personalsubtraktionslogik keinen Hehl daraus, für wen sein Herz im Grunde schlägt: für die Außenseiter und Traumatisierten, für diejenigen, die unter Gewalt litten, ohne dass Gewalt ursächlich von ihnen ausgegangen wäre.

Vor diesem Hintergrund ist es ein wenig schade, dass der Film seine reizvollen Ideen insbesondere in der zweiten Hälfte in kein wirklich überzeugendes Drehbuch fasst. Dass Sally aus dem ersten Teil (hier gespielt von Olwen Fouéré) den Racheengel gibt, ist ein verzichtbares Gimmick und wirkt wie unter den Eindrücken des "Halloween"-Erfolgs hastig in ein Drehbuch gesetzt, das für die Figur kaum Verwendung findet. Ob man der Figur Leatherface wiederum einen Gefallen tut, wenn man ihm beinahe schon Superkräfte andichtet, wäre fernerhin guter Gesprächsstoff für lange Abende. Bei Hooper schnitt er sich noch buchstäblich ins eigene Fleisch und war damit weitgehend geliefert, hier gibt er das Stehaufmännchen, das auch mehrfachem Beschuss problemlos standhält.

Immerhin: Die Pumpe geht einem an ein paar Stellen doch ansehnlich. Auch, weil die einzelnen - mit Anspielungen von Kubricks "Shining" bis zu Dario Argentos "Inferno" gespickten - Setpieces sich nicht nur auf den bizarren Terror, wie ihn das Original zelebriert hat, konzentrieren, sondern auch Suspense und Momente absoluter Fokussiertheit suchen. Eine Tugend, die Fede Alvarez in seinem grandios verstörenden "Don't Breathe" von 2016 gelernt haben dürfte.

Kurz: Hi-End-Gloss-Horror, der ferkelig im Morast panscht und ein bisschen was zur aktuellen gesellschaftspolitischen Lage zu sagen hat, das über die auf Social Media gern gepflegten Antagonismen hinaus reicht. Kann man sehen. Das kanonische Sequel zu "Texas Chainsaw Massacre" wird für mich aber auch weiterhin Tobe Hoopers kongenial durchgeknalltes "Texas Chainsaw Massacre 2" aus den Achtzigern bleiben.

Thomas Groh

Texas Chainsaw Massacre - USA 2022 - Regie: David Blue Garcia - Darsteller: Sarah Yarkin, Elsie Fisher, Mark Burnham, Jacob Latimore, Moe Dunford, Olwen Fouéré - Laufzeit: 83 Minuten. "Texas Chainsaw Massacre" ist seit dem 18.2. auf netflix verfübar.

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Der deutsche Titel ist wieder einmal eine Zähmung, eine Fesselung: "Über mir der Himmel" heißt die Verfilmung des gleichnamigen Young-Adult-Romans von Jandy Nelson bei uns. Im Original dagegen ist der Himmel, in Film wie Buch, nicht bloß oben und erst recht nicht nur über mir, sondern: "The Sky Is Everywhere". Der Himmel ist überall, oben und unten, links und rechts, in mir und außer mir, und ob dieser Zustand jetzt das reinste Glück oder ein einziger Alptraum ist, kann ich erst recht nicht sagen.

Auch, weil die eine Person, die mich in der Welt verankert hat, plötzlich nicht mehr da ist. "There were once two sisters", schreibt das Teeniemädchen Lennie in ihr Notizbuch, aber eine der beiden Schwestern ist gestorben, ganz plötzlich, und jetzt ist Lennie allein in der Welt. Allein im Wald, der ebenfalls ganz nah am Himmel ist, durchweht von gelbem Licht, Erinnerungsbildern und Musik. Tatsächlich ist Lennies Notizbuch in Wahrheit ein Notenbuch und sie selbst ein Klarinettengenie. Das allerdings seit dem Tod der Schwester keine klaren Töne mehr trifft. Aber sind die ungeraden nicht sowieso schöner?

Josephine Decker war bisher eine Regisseurin eher kleinformatiger Kunstfilme im erweiterten Mumblecore-Umfeld. Ich kenne nur einen davon, "Butter on the Latch" von 2013, der mir damals ziemlich auf die Nerven gegangen war in seiner obskurantistischen Überspanntheit; "Über mir der Himmel" hingegen, Deckers erster Versuch in Richtung populäres Kino, hat mich sofort gefangen. Ein Film der, ausgehend von der simplen Coming-of-Age-Geschichte der Young-Adult-Vorlage, ein erstaunliches Maß an sinnlicher Freiheit realisiert. Licht, Musik, Text, Körper: Alles ist zuallererst Bewegungsmoment. Musik insbesondere ist immer schon gelebte, vielstimmige Entgrenzung, entspringt Körpern und affiziert sie gleichzeitig, zieht ihnen manchmal buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Aber auch Worte bleiben nicht an ihrem Platz, schreiben nichts fest: Lennie notiert im Wald poetische Sätze auf Baumblätter, die vom Wind erfasst werden und sich am Himmel zu wolkenartigen Elementen formen, zu Wettereignissen werden.



Die Momente, in denen sich der Film, Michel-Gondry-artig, dem magischen Realismus verschreibt und zum Beispiel anlässlich einer seelischen Erschütterung Bäume entwurzelt gen Himmel schweben lässt, sind nicht unbedingt die besten, weil das Produktionsdesign in solchen Momenten arg zum Niedlichen, harmlos Verschrobenen tendiert und damit ganz und gar nicht dem Wirbelsturm im Innern der Hauptfigur entspricht. Toll ist "Über mir der Himmel" hingegen immer dann, wenn er sich der Hauptdarstellerin, Grace Kaufman, gleich macht. Eine Symbiose: Jede kleinste Erregung des Mädchens - und das Mädchen ist, auf komplett unaffektierte Art und Weise, ganz Erregung - wird von der Kamera aufgegriffen, unmittelbar übersetzt in Bewegung. Grace schwirrt und tanzt und fliegt durch ihr aus den Fugen geratenes Leben, und die Kamera schwirrt, tanzt und fliegt mit. Ein Blick und ein Körper, die einander umspielen: Das ist der Kern des Films, das Energiezentrum, von dem alles andere ausstrahlt.

Kaufman ist so gut, dass sie schon fast wieder zum Problem für den Film wird. Weil jedes Mal, wenn die Kamera sich ein wenig von ihr löst, was glücklicherweise nicht allzu oft passiert, alles um sie herum automatisch etwas schwerfällig wirkt. Das gilt ganz besonders für ihr love interest, einen jungen Trompeter namens Joe Fontaine, gespielt vom hüftsteifen, fast schon grotesk fehlbesetzten Jacques Colimon. Einmal steht Joe barfuß vor Grace und ihr fällt auf, dass er schöne Füße hat, die Kamera schwenkt mit ihrem Blick nach unten, und tatsächlich: Wie er da seine Zehen ihr entgegen krümmt, das ist der einzige Moment, in dem man ein bisschen nachfühlen kann, warum Grace sich ausgerechnet diesen Typen ausgesucht hat als Objekt für ihren Liebesrausch.

Letztlich geht es eh nicht um das Objekt, und schon gar nicht um die Komplikationen, die sich ergeben, wenn Lennie vor den Augen Joes einen anderen küsst. Auch das Drehbuch, das wird in vielen Besprechungen des Films richtig angemerkt, ist etwas hüftsteif geraten. Es ist nicht mehr als ein Gerüst, ein Vorwand fast nur, wie das Grundthema in der Musik vielleicht, das oft lediglich aus einem simplen Melodiebogen besteht, der anschließend in Bewegung versetzt wird. Was das Thema des Films Decker zur Verfügung stellt, sind Erregungsanlässe: die Höhen und Tiefen einer jungen Liebe, die Angst vor dem Erwachsenwerden, vor dem Verlust der Welt der Kindheit, das sich-selbst-fremd-Werden in der Pubertät. Allgemeinplätze, die aber, wenn sie auf den richtigen Blick und den richtigen Körper treffen, die Welt aus den Angeln heben.

Lukas Foerster

Über mir der Himmel - USA 2022 - Regie: Josephine Decker - Darsteller: Grace Kaufman, Jacques Colimon, Cherry Jones, Jason Segel, Pico Alexander, Ji-young Yoo - Laufzeit: 103 Minuten. "Über mir der Himmel" ist seit dem 11.2. auf apple+ verfügbar.