Im Kino

Gesteigerte Wendigkeit

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
21.09.2011. Joe Carnish "Attack the Block", in dem delinquente Jugendliche ihren Sozialbau gegen schwarz bepelzte Monster verteidigen, legt ein weiteres Mal das visionäre Potenzial des Science-Fiction-Kinos offen In Woo Ming Jins malaysischem Film "Tiger Factory" wird über eine junge Frau verfügt, inklusive ihren Reisepass, ihre Arbeitskraft und ihre Gebärmutter.


Man kennt die Situation aus dem Zombiefilm, der die Situation aus dem Westernkino kennt: Drinnen sitzen die Guten, draußen warten die Bösen - und an den Übergangsstellen gibt's jede Menge Ärger. Das "Drinnen? ist in diesem Fall ein britischer Sozialbaukomplex im brutalistischen Stil, das "Draußen" ist das nächtliche London. Und die Bösen sind so tiefschwarz bepelzte Monsters from outer Space, dass das Kino als Lichtkunst seine wahre Not hat, diese Lichtfresser überhaupt ins Bild zu kriegen: Leerstellen, geboren aus ökonomischer Not, aber wahrhaft effektiv.

Nur mit den Guten ist das so eine Sache. Eingeführt werden sie gleich zu Beginn durch eine Szene, die einem nach den Londoner Riots vor wenigen Wochen sonderbar vertraut vorkommt: Da lungern ein paar jugendliche "Hoodies" auf einer Straße in einem Viertel herum, das die Amtssprache als "sozialen Brennpunkt" bezeichnen würde, und rauben, verbunden mit allen obligatorischen Mackergesten, eine sacht besser betuchte Passantin aus, von der es schon die Genrelogik möchte, dass sie später mit den Kids gemeinsame Sache macht - und sei es nur deshalb, weil man eben im selben anonymen Wohnkomplex sein Zuhause hat.

Die "Hoodies" also liegen mit dem Gesetz im Clinch. Viel Zeit nimmt sich "Attack the Block", die sozialen Codes und Relationen der Jungs in den Blick zu nehmen, bevor es richtig zur Sache geht: Ärger mit den Cops, Rumhängen beim Dealer, Hierarchienpflege beim örtlichen Großpimp, der die Grenze zur Karikatur schon ein Stück weit hinter sich lässt. Wichtiger aber: Das stolze Herumzeigen einer Trophäe, eines gerade eigenhändig totgehauenen Aliens im Miniwuchs, dem ärgerlicherweise alsbald die ausgewachsenen, schlecht gelaunten Artgenossen folgen.



Gerade die hochkriminelle Ader der Kids ist es, die sie hier zur Heldenrolle prädestiniert. Mit BMX, Smartphones und eigenwilliger Bewaffnung entwickeln sie im nächtlichen London der sozialen Spannungen eine Mobilität, von der die in Begriffen der klassischen Verkehrsordnung denkende Polizei nur träumen kann. So ist die gesteigerte Wendigkeit der Jungs, die sich des öffentlichen Stadtraums ganz unorthodox bemächtigten, denn auch eines der zentralen Spektakel des Films: Vom Großstadtguerilla zum Großstadtninja, Samuraischwert inklusive. Erhellend ist dies zumal in der Post-Riot-Situation, in der wir uns heute befinden. Auf die Frage, wie tausende mehr oder weniger desorganisierte Jugendliche tagelang die Polizei vorführen konnten, findet sich in "Attack the Block" zumindest latent die eine oder andere Antwort.

Schon auch weil die "Hoodies" hier in den Rang gefeierter Helden erkoren werden, kann man sicher sein, dass "Attack the Block" so heute nicht mehr gedreht werden würde und dies wohl gleich gar nicht von der offiziösen alten Tante BBC, die hier maßgeblich ihre Finger im Spiel hatte. Was sich darin einmal mehr zeigt, ist das große, fast visionäre Potenzial des Horror- und Science-Fiction-Kinos, die Zeit mit den passenden Bildern zu illustrieren. Meist geschieht dies im Nachhinein, mal mehr, mal weniger intendiert in den Subtext codiert - in diesem Fall ist es dem leicht schwerfälligen Distributionskomplex Kino zu verdanken, dass die fast hellsichtig vorabproduzierten Bilder nun wie zeitnah nachgeschoben wirken.

Doch auch von solchen Aspekten abgesehen: Als rasant geschnittener, sich seiner Grenzen und Potenziale stets bewusster Genrefilm macht "Attack the Block" einfach Riesenspaß. Und manchmal reicht ja einfach mal nur das - gut aber, dass hier noch mehr in der Tüte ist.

Thomas Groh

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Ping wohnt mit einer Freundin in einer kleinen Wohnung und arbeitet auf einer Schweinefarm. Dort entnimmt sie den männlichen Tieren Sperma und injiziert es den weiblichen. Den Samen des begehrtesten Tieres schafft sie beiseite und verkauft ihn schwarz. Sie möchte nach Japan, sie hofft dort in einer Autoteilefabrik zu arbeiten, realistischer sind vermutlich Anstellungen als Kindermädchen oder in der Prostitution. Eine "Tante" - ob die eine leibliche Verwandte ist oder lediglich eine bessere Sklavenhalterin wird vom Film nicht eindeutig kommuniziert, es ist, da wiederum ist "Tiger Factory" sehr konsequent, auch ganz nebensächlich - verfügt über ihren Reisepass, ihre Arbeitskraft, schlichtweg über ihr ganzes Selbst, mit Haut und Haaren. Auch über ihre Sexualität und ihre Gebärmutter: in einem heruntergekommenen Gebäude schläft sie mit angeheuerten Männern, armen Migranten aus Burma, auf dass der Adoptionsmarkt in Schwung bleibt. Eine "Tiger Factory", deren Parallelen zur Schweinefarm unübersehbar sind.

Nach dem Sex, der jedesmal in einem nüchternen, harten Schnitt übersprungen wird, einem Schnitt, der die unbarmherzige Ökonomie des Dargestellten auf die Form erweitert, legt sie die Beine hoch, weil das die Empfängnischancen erhöht. Die Männer werden pro Akt entlohnt, sie selber nur im Erfolgsfall. Für einen Jungen würde sie 4000 Malaysische Ringgit - knapp 1000 ? - erhalten, für ein Mädchen 2500. Das erste Kind verliert sie bei der Geburt, das sagt ihr zumindest die Tante.

Malaysia gehörte einmal zu den sogenannten Pantherstaaten, die in den Achtziger und frühen Neunziger Jahren hofften, einen ähnlichen Wirtschaftsaufschwung zu erleben, wie vor ihnen die "Tigerstaaten" Südkorea, Hongkong, Singapur und Taiwan; seit der Asienkrise 1997 hat sich diese Hoffnung ziemlich gründlich zerschlagen. Vielleicht kann man den Filmtitel auch als bitteren Kommentar zu diesem Zusammenhang auffassen, schließlich geht es um die Selbstreproduktion einer prekären sozialen Ordnung, die zwar das Ökonomisierungsdiktat übernommen hat, aber dennoch nicht am Fortschrittsnarrativ partizipieren kann. Es liegt eine bleierne Schwere über der Welt, Gras wuchert über Beton, leere Blicke gehen in die Ferne, weil es in der Nähe nichts gibt, das sie festhalten könnte.



Einem der Männer, mit denen sie ins Bett geht, kommt Ping näher. Einmal legt der ihr, nach erfüllter Pflicht, ein Kissen unter den Kopf. Diese eine, mitfühlende Geste bringt etwas in Gang, aber was da in Gang kommt, ist keine Bewusstwerdung im eigentlichen Sinne, keine Rebellion, auch kein Erwachen von Empathie und Menschlichkeit; eher eine Selbstermächtigung innerhalb des Systems, nach dessen Regeln. Die 2500 Ringgit, die Ping, nachdem sie ihre Karten klug ausgespielt hat, schließlich erbeutet, fallen an einer anderen Stelle, für eine andere Person an. Solidarität ist in der "chicken farm" (Aravind Adiga) nicht funktional.

In einer Welt, in der alles objektiviert ist, wäre vielleicht schon die Simulation von Subjektivität eine Lüge. Die agile, aber nicht hektische Kamera bleibt meist nah bei Ping, sie rückt ihr aber nie ganz auf den Leib, passt sich nicht an ihre Körperlichkeit an - ganz anders als in so vielen anstrengenden Handkamera-Sozialdramen der Gegenwart, die einem das Mitfühlen förmlich aufdrängen. Wenn Ping kniet oder liegt - und das tut sie oft - dann blickt die Kamera von schräg oben, das sind besonders bedrückende Bilder. Einmal fällt Ping in Ohnmacht, da kippt sie einfach unten aus dem Bild, die Kamera folgt ihr erst nach einer kurzen Verzögerung. Pings Bewegung bleibt immer distinkt von der Bewegung der Kamera, der Film zieht einen nicht in Pings Welt, macht sich nicht eins mit ihr, auch nicht, wenn er ihr immer wieder direkt ins unbewegte Gesicht blickt. Wenn der Film dann für einen Moment, in einer melancholischen 180°-Fahrt, doch ganz ihre Perspektive übernimmt, ist das ein Schock, weil man erkennt, dass man die Bilder keiner Innerlichkeit zurechnen kann.

Woo Ming Jin ist einer der wichtigsten Regisseure des seit einigen Jahren sehr interessanten jungen malaysischen Kinos. Vor einigen Jahren war sein noch etwas überambitionierter Erstling "Monday Morning Glory" auf der Berlinale zu sehen, seither entwickelt er mit jedem Film deutlicher seine eigene Handschrift. "Tiger Factory", seine bisher stärkste, formal konzentrierteste Arbeit, wurde unter anderem in Cannes und Rotterdam gezeigt. Dass sie jetzt auch die deutschen Kinos erreicht, in denen von allen relevanten Strömungen des asiatischen, erst recht des südostasiatischen Kinos gewöhnlich gar nichts ankommt, ist alles andere als selbstverständlich; genauer gesagt: ein kleines Wunder, das ausschließlich dem unbedingt zu begrüßenden Wagemut des ehrgeizigen Hamburger Verleihs Aries Images zu verdanken ist.

Lukas Foerster

Attack the Block. Großbritannien 2011 - Regie: Joe Cornish - Darsteller: Jodie Whittaker, Luke Treadaway, Nick Frost, John Boyega, Alex Esmail, Franz Drameh, Leeon Jones, Simon Howard, Jumayn Hunter - Länge: 87 min

Tiger Factory. Malaysia / Japan 2010 - Originaltitel: The Tiger Factory - Regie: Woo Ming Jin - Darsteller: Lai Fooi Mun, Pearlly Chua, Susan Lee, Rum Nun Chung, Lesly Leon Lee - Länge: 84 min