Im Kino

Grundsätzliches über Geschlecht und Liebe

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Nikolaus Perneczky
21.07.2022. Alex Garland zwängt in seinem Horrorfilm "Men" toxische Männlichkeit mit schwarzem Humor in dekorative Bilder. Jia Zhangkes "Swimming Out Till the Sea Turns Blue" erzählt verhalten optimistisch die Geschichte Chinas vom Bürgerkrieg über die Kulturrevolution bis zur Marktöffnung unter Deng Xiao Ping aus der intimen Perspektive einer Handvoll Schriftsteller und einer Schriftstellerin.

Der Ursprung von Harpers (Jessie Buckley) Schmerz wirkt wie aus einem Traum. In Zeitlupe fliegt ihr Freund James (Paapa Essiedu) mit rudernden Armen und angstgeweiteten Augen an ihrem Fenster vorbei. Kurz davor hat die junge Frau mit der burschikosen Frisur und dem rundlichen Gesicht den manipulativen James unter sichtbarem Kraftaufwand abserviert. Die Ungewissheit, ob es sich bei dem tödlichen Sturz um den von ihm angedrohten Selbstmord oder einen Unfall handelt, nagt enorm an Harper.

Gleich darauf schickt Schriftsteller ("The Beach") und Regisseur Alex Garland ("Ex Machina") seine Heldin in die ersehnte Freiheit. In einem stattlichen Herrenhaus im Dorf Cotson will Harper einfach mal ausspannen. Doch schon bei der Autofahrt zu den Klängen von Lesley Duncans "Love Song" schiebt sich am Rande der Totalen eine Gewitterwolke ins Bild. Die dunkle Vorahnung passt zum klassischen Horrormotiv, dem sich "Men" widmet: Die emotional gezeichnete Helden will in der Einöde vergessen und heilen, ist aber bald schon hilflos ausgeliefert.

Die giftgrüne Landschaft der Grafschaft Gloucestershire mit ihren endlosen Wäldern und vereinzelten Ruinen scheint bis auf den kauzigen Vermieter Geoffrey (Rory Kinnear) verlassen zu sein. Garlands mitunter etwas aufdringlicher Ästhetisierungswille, seine Vorliebe für symmetrische Einstellungen und Spielereien mit Unschärfe lassen die Bilder zwar wie aus einem hippen Reisekatalog wirken, säen in ihrer Künstlichkeit aber doch das notwendige Misstrauen.

Bei einem längeren Spaziergang scheinen die Schuldgefühle von Harper abzufallen. Als sie vor dem Regen unter einem Baum Schutz sucht, zuckt sie bei jedem Donnern schmunzelnd zusammen. Je mehr die Kamera die Weite der Gegend erforscht und sich auf der Tonspur dissonante Stimmfetzen und ein bedrohliches Röhren ausbreiten, desto unbehaglicher wird es. Als sich aus der Ferne plötzlich eine Silhouette nähert, schlägt die gelöste Stimmung endgültig in blanke Angst um.


In solchen dialogfreien, atmosphärischen Momenten ist "Men" ziemlich unheimlich. Irgendetwas scheint mit diesem Ort nicht zu stimmen. Als Harper mit ihrer Freundin Riley (Gayle Rankin) facetimet, verwandelt sich das Gesicht auf dem Display wegen der schlechten Verbindung in eine amorphe Fratze. Das Grauen liegt zunächst im Unbestimmbaren. Ob Harper in eine seltsame Parallelwelt geraten ist, ob ihre Umgebung ihrer Seelenlandschaft entspricht oder vielleicht alles irgendwie allegorisch zu verstehen ist, bleibt erstmal unklar.

Je mehr Figuren auftreten, desto konkreter wird es in "Men" leider. Harper trifft unter anderem auf einen verwirrten nackten Mann, einen mansplainenden Pfarrer und einen Polizisten, der sie nur bedingt ernst nimmt. Die Männer sind nicht unbedingt feindselig, geben ihr aber das Gefühl, sie würde sich alles nur einbilden und solle sich nicht so anstellen. Was der Filmtitel verspricht, wird durch die Tatsache, dass alle Dorfbewohner von Rory Kinnear verkörpert werden, eingelöst: Es geht um ein aus toxischer Männlichkeit geborenes Böses.

Wenn Harper den Männern näher kommt, wirken sie weniger bedrohlich. Dass Kinnear in seiner Inkarnation als Priester wie ein eineiiger Zwilling von David Walliams aus der Sketch-Show "Little Britain" aussieht, ist bezeichnend für den skurrilen schwarzen Humor, der sich unterschwellig einschleicht. Lustig oder bedrohlich sind diese Momente nicht, eher wirkt der Versuch, das Thema Sexismus in das zuvor recht schlüssig etablierte Horror-Setting einzufügen, ungelenk. "Men" will sogar noch mehr, lässt Folk- und Body-Horror-Elemente einfließen, Grundsätzliches über Geschlecht und Liebe anklingen - und übt sich letztlich in koketter Rätselhaftigkeit.

Garland bremst sich immer wieder aus, weil er seinen Film nicht organisch aus sich selbst entwickelt sondern ihm halbgare Ideen aufzwängt oder ihn in dekorative Bilder presst. Man darf es als frühes Warnzeichnen verstehen, wenn Harper gleich bei ihrer Ankunft einen Apfel pflückt, den Geoffrey als "forbidden fruit" bezeichnet. "Men" deutet vieles raunend an und vertraut darauf, dass es schon vielsagend genug sein wird. Weil der Film streckenweise ziemlich effektiv ist, ist es umso bedauerlicher, dass Garland ihn mit seinen ungezügelten Ambitionen dermaßen an die Wand fährt.

Michael Kienzl

Men - USA 2022 - Regie: Alex Garland - Darsteller: Jessie Buckley, Rory Kinnear, Paapa Essiedu, Gayle Rankin, Sarah Twomey - Laufzeit: 100 Minuten.

-

Vor zwei Jahren hat Jia Zhangke, der hierzulande bekannteste Kino-Chronist des chinesischen Wandels, den letzten Teil einer losen Dokumentarfilmtrilogie über Kunstschaffende in der Volksrepublik vorgelegt, nun ist der Film im Stream auf Mubi zu sehen. "Swimming Out Till the Sea Turns Blue" erzählt die Geschichte Chinas vom Bürgerkrieg über die Kulturrevolution bis zur Marktöffnung unter Deng Xiao Ping aus der intimen Perspektive einer Handvoll Schriftsteller und einer Schriftstellerin. Ein Literaturfestival in Fenyang in der südchinesischen Provinz Shaanxi, dem Geburtsort des Regisseurs, hat sie alle am selben Ort versammelt; im Gespräch mit Jia Zhangke erzählen sie freimütig aus ihren bewegten Leben. Unterschiedlichen Alters, repräsentieren sie gleich mehrere Generationen der chinesischen Literatur. Gemeinsam haben die versammelten Autor*innen, dass sie alle einem ländlichen Umfeld entstammen oder ihr Werk dem Land verschrieben haben. Das Festival ist Anlass für eine Rückkehr in die Provinz ihrer Jugendjahre, eine Einladung gemeinsam Rückschau zu halten.
 
Jia gibt seinen Gesprächspartner*innen viel Raum, ihre Geschichten so darzustellen, wie es ihnen beliebt, lässt auch Nebensächliches und scheinbar Unmotiviertes stehen. Dem entsprechen die eigensinnigen und wild wuchernden Kapitelüberschriften, die den Strom der Erinnerung aufbrechen, ohne ordnend in den Film einzugreifen: Eating, Coming Home, Sound, Disease, Love, Mother… Es fehlt an dramaturgischem Gestaltungswillen, aber das hat auch sein Gutes. Wo der Film als historisches Narrativ flach und unbestimmt bleibt, glänzt er im Anekdotischen. Die Formatierung des Ganzen jedoch ist von ermüdender Einheitlichkeit. Recht unterschiedslos werden die Interviews mit dokumentarischen Aufnahmen aus dem heutigen Shaanxi sowie mit historischem Bild- und Tonmaterial angereichert, dazu gibt es russische Neoklassik und Puccini als musikalische Schmiere, die sich in regelmäßigen Intervallen ohne ersichtlichen Anlass ein- und wieder ausschaltet. Schön in ihrer Regelmäßigkeit hingegen sind die von Dritten vorgelesenen Passagen aus dem Werk der Schriftsteller*innen und einiger ihrer historischen Vorläufer. In diesen wiederkehrenden Bildern von Lesenden inmitten ihrer Lebenswelten kreuzen sich biografische und fiktionale Spuren.
 

Von den Entbehrungen der 1950er Jahre über Entrechtung und Entwurzelung im Gefolge der Kulturrevolution bis zum aufsteigenden Unternehmertum ab den 1980ern: Der Tonfall, in dem der Film diese vertraute Geschichte erzählt, changiert zwischen Melancholie und verhaltenem Optimismus. Es ist kein einseitig rosiges Bild. In der Titelsequenz nimmt eine Steinskulptur, die den heroischen Kampf der Arbeiter und Bauern verewigt, in Andeutung tragische Züge an. Und in der Geschichte des Jia Family Village klingt, zumal im Modus der Überwindung, die historische Realität des Hungers an. Der Autor Jia Pingwa, dessen Romane die Modernisierung Chinas aus einer ländlichen Perspektive schildern, erzählt, wie die Kulturrevolution seinen Vater als Kuomintang-Spion brandmarkte und aufs Land verbannte. Liang Hong, als Mittvierzigerin die jüngste im Bunde, überkommen bei der Erinnerung an ihre Mutter Tränen, auch ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen stehen im Zeichen eines familiären Traumas. Der Film nimmt diese Zeugnisse mit Gleichmut in sich auf und unterzieht sie derselben Behandlung wie alles andere Material auch, was ihre Wirksamkeit empfindlich einschränkt. Ob hier politische Vorsicht waltete oder mangelnde Durchformung hinter dieser Trübung von Jias Perspektive steckt, ist nicht immer einwandfrei zu bestimmen. So oder so fühlt sich der Film als Auftragswerk an, das nicht weit über seine vielversprechende Prämisse hinauskommt.
 
Wenn "Swimming Out Till the Sea Turns Blue" in seinem normalen Funktionieren eher kalt lässt, so ist der Film gerade in seinen abweichenden und ausufernden Momenten doch von Interesse. Eines der Gespräche - mit einem Zeitzeugen im Greisenalter, der in den 1950er Jahren mit dem berühmten Autor Ma Feng bekannt war - grenzt an einen Küchentisch, an dem drei Frauen aus drei Generationen nebenher Teigtaschen zubereiten und dabei ein (nicht untertiteltes) Parallelgespräch führen: ein markanter Bruch mit dem sonst unverbrüchlichen Fokus auf die Schicksale außergewöhnlicher Einzelner. Die launigen Reminiszenzen des ehemaligen Zahnarzts Yu Hua, der als Autor für seine morbiden Anwandlungen bekannt werden sollte, wimmelt von denkwürdigen Aperçus und Anekdoten: über seine Kindheit im Leichenschauhaus (inklusive Heinrich-Heine-Zitat), verbotene Liebeshändel auf dem Pausenhof, die sich als genossenschaftliche Kritik ausgeben mussten, Selbstmord und Tischtennis, und vielen augenzwinkernden Schalk mehr. Yu Hua ist es auch, der am Ende des Films das Geheimnis des Titels lüftet. Früher war das Meer hier an der Küste gelb, sagt er bei einem Besuch in der Provinz Hangzhou, wo er seine Kindheit verbracht hat. "Ich schwamm hinaus, bis das Wasser blau wurde."

Nikolaus Perneczky

Swimming Out Till the Sea Turns Blue - China 2020 - OT: Yī zhí yóu dào hǎi shuǐ biàn lán - Regie: Jia Zhang-ke - Laufzeit: 112 minuten.