Im Kino

In der Vergangenheit hausen

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Thomas Groh
28.09.2016. Einen deutsch-französischen Totentanz inszeniert François Ozon mit seinem schönen Lubitsch-Remake "Frantz". Und schon einmal eine Vorschau auf nächste Woche: Tim Burton hält in "Die Insel der besonderen Kinder" die Geschichte kurz vor dem Weltenbrand an.


Das moderne Grauen hat den Bildern die Farbe genommen, ihnen jenes historische Schwarzweiß angezogen, das einen Großteil der jüngeren Vergangenheit kleidet, seit wir durch Fotografie und Film auf sie zurückblicken. Doch im Wald vor den Toren des Harzstädtchens Quedlinburg wippt im Jahr 1919 noch der matte Gruß aus anderen Zeiten im Wind. Einen einzelnen Zweig in Farbe malt sich François Ozons Film "Frantz" in seine erste Einstellung, bevor im Ort die an Leib und Seele Versehrten die Straßen überqueren. Gliedmaßen fehlen ihnen, die Gesichter sind furchig vernarbt. Im Wirtshaus stimmen sie noch immer trotzig die "Wacht am Rhein" an, als sei nicht schon alles verloren. Auf dem Friedhof besuchen sie leere Gräber mit den Namen junger Männer, deren Leichname fern der Heimat in Massengräbern liegen.

"Man kann einen Raum nicht erzählen, sondern nur zur Anschauung bringen", schreibt der Historiker Karl Schlögel in seinem Buch "Im Raume lesen wir die Zeit": "Ortsbeschreibung muss dem Nebeneinander entsprechen, nicht dem Nacheinander." Ozons neuer Film, ein Remake von Ernst Lubitschs "Broken Lullaby" (1931) und wie jener lose basierend auf einem Drama Maurice Rostands, ist eine Ortsbeschreibung im Modus dieses Nebeneinanders: Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg, mikrokosmisch gestaucht auf die Größe von Quedlinburg und später Paris. Auf dem Papier, das in Versailles unterzeichnet wird, sind das keine Kriegsgegner mehr, in den Köpfen aber noch immer Erbfeinde. Und auch hier ist es vor allem die aufdringliche Anwesenheit der Toten, die das sortierte Nacheinander historisch-politischer Meistererzählungen aufbricht und den Lebenden keine Ruhe, kein Ankommen in der neuen Zeit gönnt.



Der eine Tote ist physisch abwesend, aber immer präsent: Es ist die Titelfigur Frantz, dessen Name auf einem der Quedlinburger Grabkreuze steht, unter denen kein Sarg modert. Frantz ist an der Westfront gestorben, seine Verlobte Anna (Paula Beer) und die Eltern (Ernst Stötzner und Marie Gruber) hat er in Trauer zurückgelassen. Der zweite Tote hingegen kann zwar noch laufen, sehen und schmecken, sein ganzes Wesen scheint aber an das massenhaften Sterben verloren zu sein, an dem er im Krieg mitgetan hat: Adrien (Pierre Niney) ist Franzose und als er unvermittelt in Quedlinburg auftaucht, um Blumen auf Frantz' Grab zu legen, beginnt im Ort das Rumoren und es offenbart sich das Interesse des Films an unabgeschlossenen Epochen, Zwischenzeiten und der langsamen Formierung neuer Narrativen. "Jeder Franzose ist der Mörder meines Sohnes", sagt Frantz' Vater und verweigert Adrien zunächst eine ärztliche Behandlung. Doch Anna sieht in den nervös flackernden Augen des Besuchers, der sich als enger Vorkriegsfreund von Frantz zu erkennen gibt, die Vergangenheit gespenstisch gegenwärtig werden: Eine Chance, im neuen Freund den alten wieder aufzuerstehen zu lassen - und neben Rilke auch wieder Verlaine lesen zu dürfen.

Diesen Totentanz choreografiert François Ozon als Melodram mit sorgfältig gedrosselter Expressivität. Anstatt der eigentlich allzu sinnfälligen Liebesgeschichte zwischen Anna und Adrien unmittelbar nachzugeben, interessiert ihn vor allem, wie sich Zeit und Geschichte in Körper und Orte einschreiben. Am eindringlichsten gelingt das vielleicht in einer Szene, in der Anna beim Schwimmen Adriens von einer langen Narbe überzogenen Oberkörper betrachtet. Schlimm müsse er gelitten haben, sagt sie. Mit seiner Antwort, "Ma seule blessure, c'est Frantz", verschränken sich durch den Gleichklang von "Frantz" und "France" im Französischen persönliche Biografie und kollektives Leid. Adrien, den Pierre Niney mit einer entseelten Leichenblässe spielt, dass es einen selbst in Schwarzweiß frösteln macht, lässt dagegen die Vorkriegszeit mit Frantz in Paris als überreiche Belle-Epoque-Fantasie vom alten Europa zwischen Bordellen und Bibliotheken lebendig werden. Aber regelmäßig bricht sein schmaler Körper unter den Traumata zusammen, die jenes Europa ihm aufgebürdet hat. Erst allmählich wird klar: Hier ist etwas faul. Adriens verklärte Erinnerung, für die Ozons Film oft fast unmerklich in satte Farben übergeht, ist eine Konstruktion - jedoch eine, die (über)leben hilft.

Der Umgang mit jener edlen Fäulnis, die man nicht Lüge schimpfen möchte, ist wahrscheinlich das Schönste an diesem schönen, sehr eleganten Film. Es ist erlaubt, sich in ihr einzurichten, wie es Frantz' Eltern entlang von Adriens Erzählungen versuchen. Doch Anna, die Paula Beer mit bewundernswerter Genauigkeit quasi minütlich reifen lässt, stellt Fragen, verfolgt die Spuren Frantz' und Adriens und steigt irgendwann, mehr wie in einem Film von Ophüls als von Lubitsch, in einen Zug nach Paris, um Ort und Zeit einander wieder anzugleichen. Aber die Welt bleibt schwarzweiß, die Lügen werden hässlicher, das Nebeneinander weicht dem Nacheinander, Fakten werden geschaffen. Ein Bild Édouard Manets, "Der Selbstmörder", über dem Anna zu sich und der Film ganz zur Farbe findet, wird schließlich zu einer erstaunlich heutigen Chiffre: Die Vergangenheit wärmt, in ihr lässt sich hausen. Doch im alteuropäischen Federbett liegt ein junger Mann, mit blutverschmiertem Hemd und der Pistole in der Hand. Anna will ihm nicht folgen.

Janis El-Bira


Frantz - Frankreich, Deutschland 2016 - Regie: François Ozon, Darsteller: Pierre Niney, Paula Beer, Enst Stötzner, Marie Gruber, Johann von Bülow, Anton von Lucke, Cyrielle Clair - Laufzeit: 113 Minuten.

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Ransom Riggs' 2011 veröffentlichter Roman "Die Insel der besonderen Kinder" ist ein geradezu auf dem Silbertablett präsentiertes Geschenk für Tim Burton: Die (von obskuren alten Fotografien, die Riggs über Jahre hinweg gesammelt hat, inspirierte) Geschichte um einen Jungen, der zu seinem alten, fantastische Geschichten erzählenden Großvater ein inniges, zu seinen gleichgültigen Karriere-Eltern allerdings ein entfremdetes Verhältnis hat, wird spätestens dann zu einem Burton-Stoff par excellence, wenn der Junge, Jacob (im Film gespielt von Asa Butterfield), sich nach dem gewaltsamen und mysteriösen Tod des Großvaters (Terence Stamp) zu einer entlegenen Insel aufmacht, wo jener seine Kindheit in einem "Haus für besondere Kinder" verbracht haben will. Die von vergilbten Fotos fantastischen Inhalts gestützten, von den Eltern unterdessen als großväterliche Flunkereien abgetanen Gutenachtgeschichten wimmeln von Unglaublichkeiten: Kleine Mädchen mit herkulischen Kräften, unsichtbare Kinder, Jungs, in denen Bienenschwärme hausen, und vieles mehr - all dies versammelt unter den schützenden Fittichen einer gewissen Miss Peregrine (Eva Green), die sich ihrem Namen gemäß in einen Wanderfalken verwandeln kann.

Die Entfremdung von einer geradezu mit dem Lineal ausgemessenen, buchstäblich straighten Welt, der Liebreiz des (mitunter zwischen gut und böse changierenden) Wunderbaren als erlösendem Ausweg - es sind altbekannte Burtonia, die der Filmemacher nur aufzuheben und seinem im Lauf der Jahrzehnte prächtig gediehenen Erzählkosmos visuell-ästhetisch anverwandeln muss. Dazu kommt eine spezifische Melancholie, die die fantastische Dimension des Stoffs als "eskapistisch aus Gründen" kennzeichnet: So stammt der Großvater aus jenen osteuropäischen Regionen, die der Historiker Timothy Snyder als Bloodlands bezeichnet hat, da dort sowohl der Hitler-, als auch der Stalinterror gewütet haben. Aus dieser Region ist er vor den "Monstern" zu den "besonderen Kindern" geflüchtet: Tentakelbewehrte Nachtkreaturen als kindliche Umdeutung der nationalsozialistischen Barbarei - so lautet das Verdikt, das Jacobs Eltern über diesen in den großväterlichen Erzählungen wiederkehrenden Alb der Geschichte fällen.

Doch auch das "Haus der besonderen Kinder" stellt eine Reaktion auf das Gemetzel der 1940er Jahre dar, wie sich Jacob bei seinen Erkundungen offenbart: Das nach einer Bombennacht im Jahr 1943 in Trümmern liegende Gebäude existiert auch weiterhin in voller Pracht - es wurde von Miss Peregrines magischen Fähigkeiten in eine  Zeitschleife versetzt, die hinfort ständig den letzten Tag vor den niederprasselnden Bomben wiederholt. Wer möchte, kann diesen Moment des einfrierenden Innehaltens vor dem traumatischen Moment mit Freuds Traumatheorien lesen. Die bittersüße Melancholie dieser Anverwandlung von Geschichte liegt indessen auf der Hand: Gerade in der Sehnsucht danach, den historischen Lauf im Moment kurz vor der Menschheitskatastrophe anhalten und zurückdrehen zu können, offenbart sich die einschneidende Wirkmächtigkeit des Weltenbrands, mit dem Deutschland das alte Europa überzogen hat.



Entsprechend bei sich ist Burton in "Die Insel der besonderen Kinder", solange es um das behutsame Ertasten und Kennenlernen der Mythologie dieser Erzählwelt geht. Gemeinsam mit Jacob tasten wir uns Schritt für Schritt vor ins Wunderbare, überqueren den Riss, der die Nachkriegswelt mit ihrer Insistenz aufs rein Faktische von jener Welt trennt, in der dem "Besonderen" von den Mördern noch nicht der Garaus gemacht wurde. Dass Burton sich mitunter ein wenig wiederholt oder eine Art Best-Of anbietet, kann man zur Kenntnis nehmen, aber auch recht gut wegschieben. Dass Burton nach seinen wenig schönen, da heillos abgetöteten Machbarkeits-Exzessen wie "Sweeney Todd" und "Alice im Wunderland" hier gelungen die Balance zwischen einem realistischen und einem fantastischen Erzählregister hält, ist eine gute Nachricht.

Allerdings entgleitet ihm die Sache zum Ende hin ein wenig. Bezeichnenderweise genau dann, wenn das Erkunden und Ertasten dieser Welt einer Erzählung und damit Action weicht: Trotz Zeitschleife ist das "Haus der besonderen Kinder" auch weiterhin existenziellen Bedrohungen ausgesetzt. Hier gerät der Film in eine dramaturgische Schieflage: Zu viel muss binnen zu kurzer Zeit gesetzt und bewegt werden, die Turbulenzen wirken, gerade angesichts des schön behutsamen Tempos der ersten zwei Drittel des Films, fremd und aufgepfropft - auch wenn es immerhin eine schöne Hommage an Ray Harryhausen (und, nur für ganz flinke Zuschauer ersichtlich, einen Mikro-Cameo von Burton selbst) gibt.

Vielleicht ist dies ein Zugeständnis an die Franchise-Logik: In der Warteschlange locken zwei weitere "Peculiar Children"-Bücher, die sich im Erfolgsfall verfilmen lassen könnten. Dass sich Burton verharrypotterisieren lassen könnte, ist nicht die allerbeste Nachricht. Was schlussendlich aber nicht viel daran ändert, dass "Die Insel der besonderen Kinder" eine weite, wenn auch nicht die ganze Strecke lang ein schöner Film ist.

Thomas Groh

Die Insel der besonderen Kinder - GB, USA 2016 - OT: Miss Peregrine's Home for Peculiar Children - Regie: Tim Burton - Darsteller: Asa Butterfield, Eva Green, Samuel L. Jackson, Judi Dench, Rupert Everett, Allison Janney - Laufzeit: 127 Minuten.

"Die Insel der besonderen Kinder" startet am 6.10.2016.