Im Kino

Lummerland voll Wüstensand

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
16.12.2009. James Cameron setzt in seinem Hyper-Spektakel "Avatar" die Logik der Avatare gegen die Logik der Cyborgs. Und Spike Jonze lässt Max, den Helden aus Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker "Wo die wilden Kerle wohnen", im Land seiner Fantasie auf eine zottelige Depri-Truppe stoßen.

"There's no such thing as an ex-marine": Sam Worthington ist Jake Sully, ein querschnittsgelähmter Soldat, der auch im Rollstuhl noch heiß aufs Töten ist. Der Rollstuhl ist eine Prothese - ein technischer Zusatz zum menschlichen Körper, der dessen Schwächung ausgleichen soll. Sully ist mit dieser Prothese nicht zufrieden. Er sehnt sich nicht einfach nur nach Bewegungsfreiheit, sondern gleichzeitig nach organischer Ganzheit, nach einer natürlichen Unbefangenheit, die keiner technologischen Unterstützung mehr bedarf. Sully will seinen menschlichen Körper nicht durch Verunreinigung perfektionieren, sondern er strebt nach einem Weltbezug, der keiner Technik mehr bedarf - zumindest keiner Technik, die als das Andere der organischen Natur gedacht ist und deshalb gezwungenermaßen stets von dieser abstrahiert. Sully will kein Cyborg werden, sondern ein Avatar.

Zwei Logiken: auf der einen Seite die der Prothese und des Cyborgs. Naturbeherrschung qua Technik. Der Rollstuhl ist nur der Anfang, ihre perfekte Ausformung findet diese Logik im metallischen Panzer Colonel Miles Quaritchs. Dessen Panzer ist nicht mehr länger bloß Prothese, Ersatz, sondern prosthetic enhancement, Erweiterung, eine an den menschlichen Körper angepasste Kampfmaschine, die dessen Bewegungen mimetisch nachvollzieht und vergrößert. Man kennt solche Ungetüme aus japanischen Mecha Animes, dort können sie auch einem guten Zweck dienen, bei Cameron sind sie gleichzeitig konsequente Fortsetzung und Perversion der Cyborg-Idee: Technik wird zum Gefängnis eines Menschen, dessen Bezug zur Natur nur noch als Gewaltverhältnis gedacht werden kann.

Auf der anderen Seite: die Logik der Avatare. Deren begrifflicher Ursprung entstammt dem Hinduismus und bezeichnet dort die unterschiedlichen Materialisierungen einzelner Gottheiten in der Realwelt. Auch im aktuellen Gebruch des Begriffs in Internet und Computerspielen - Avatare als grafische Repräsentationen des Users - geht es um einen Akt der Übertragung von Identität in nicht-identische Zusammenhänge. Camerons Film versucht nicht immer erfolgreich sich den mystischen Aspekt des Avatars vom Leib zu halten. Es geht um Körper, die als virtuelle die Unterscheidung zwischen Technik und Natur hinter sich gelassen haben, Körper, die die Fähigkeit haben, sich organisch auf eine Weise der Welt zu öffnen, die nicht einfach nur dem instinktiven Naturbezug des Tieres entspricht. Der Avatar als Verkörperung einer Utopie von Technik, die es nicht mehr nötig hat, sich dem Menschen anzuverwandeln, weil sie statt dessen den Mensch der Welt anverwandelt.

(Eine Nebenbemerkung: der Film bewirbt sich vor allem über seine 3D-Technik. Zu dieser möchte ich hier nicht viel Worte verlieren, da wird andernorts genug zu lesen sein. Nur soviel: Die Verwandlung eines psychologisch wie emotional zumindest potentiell vielschichtigen Charakters wie Sullys in einen dezidiert häßlichen, violetten Avatar zeigt unfreiwillig auch, was das 3D-Kino schlimmstenfalls bedeutet. Die Avatare sehen aus, als seien sie einem schon etwas veralteten Computerspiel entnommen, ihre Gesichtszüge sind in einer Art überemotionalisiert, die das menschliche Minenspiel jeder Ambivalenz beraubt. In grafischer Hinsicht mögen die Bilder eine Dimension gewonnen haben - selbst das ist freilich umstritten - in jeder anderen Hinsicht verlieren sie gewaltig. Der Film will freilich mit seinen Avataren auf etwas ganz anderes hinaus.)

Folgt man dem Plot, ist der Avatar zunächst nichts als Politik. Er ist den Bewohnern des Planeten Pandora nachempfunden. Sully soll mit zwei Kollegen in Avatar-Gestalt Kontakt mit den Einheimischen aufnehmen und sie davon überzeugen, freiwillig einen gigantischen Baum zu verlassen. Unter dem sind Bodenschätze verborgen, auf die der Kapitalist des Films (Giovanni Ribisi) freilich auch dann nicht verzichten möchte, wenn die Diplomatie scheitern sollte. Die Bewohner Pangoras erscheinen, wenn man sich an ihr computeranimiertes Äußeres gewöhnt hat, wie ein Amalgam der Verdammten dieser Erde: Von den amerikanischen Ureinwohnern stammen Naturverbundenheit, Initiationsriten und anderer Schabernack, musikalisch geht es in Richtung Indien und Südostasien, Englisch sprechen zumindest einige unter ihnen mit einem westafrikanischen Akzent. Auch das möchte Avatar sein: eine Allegorie auf (neo-)kolonialistische Kriegsführung. Und natürlich steckt alles mit drin, von den Indianerkriegen über Vietnam bis hin zum Irak. Vor allem aber ist der Film darin interessant, wie er das Verhältnis des weißen Imperialisten zum kolonialisierten Anderen über das Modell des Avatars figuriert. Wenn der Mensch schläft, ist sein Avatar wach, wenn der Avatar schläft, der Mensch. Der Avatar ist die somnambulische Rückseite des kolonialen Subjekts, das nur in der selbstvergessenen Vereinzelung des Schlafes eine gemeinsame Sprache mit dem "Wilden" finden kann.


Hat James Cameron, Hollywoods oberster Technophiler, tatsächlich einen Ethno-Kitsch-Blockbuster gedreht? Sigourney Weaver, die, wie auch Michelle Rodriguez, oft etwas orientierungslos durch einen Film wandert, der letzten Endes durch und durch Männerkino bleibt, möchte den Film anders gelesen wissen. Sie gibt eine Wissenschaftlerin, die darauf beharrt, dass es sich bei dem Treiben auf Pandora, allem Augenschein zum Trotz, nicht um Voodoo-Unfug handelt, sondern um Phänomene, die zumindest theoretisch rational fassbar sind. Tatsächlich erscheint der Film in mancher Hinsicht schizophren. Cameron stopft die Welt der Ureinwohner Pandoras zwar mit so ziemlich allen Eso-Kitsch-Zeichen voll, die man sich in seinen schlimmsten Träumen ausmalen kann, aber magische Elemente im engeren Sinne finden sich nicht. Der Film beharrt mit Sigourney Weaver darauf, dass selbst noch ein doch sehr fragwürdiger "Ahnenbaum" nicht mystischer Hokuspokus ist, sondern Teil eines Ökosystems, das zwar anderen Gesetzen folgt als den irdisch-physikalischen, aber grundsätzlich doch erklärbar bleibt. Analog sind auf menschlicher Seite ausgerechnet die Wissenschaftler, die die militärische Mission aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen begleiten, die Guten in diesem Film und ihr Eintreten für die Sache Pandoras ist für "Avatar" weder technikfeindlich-regressiv, noch einfach nur naiv-humanistisch, sondern antikapitalistisch-cyborgkritisch.

Camerons Technophilie hatte schon immer eine idealistische Komponente. Seine Begeisterung für die digitale Technik erklärte er selbst einst damit, dass sie den Regisseur als kreativen Künstler von den Zwängen der Industrie befreie. In "Avatar" hat sich diese sehr spezifische Technophilie zu einer vielschichtigen, wenn auch nicht immer wirklich kohärenten Philosophie ausgewachsen. James Cameron hat einst mit "Terminator" und "Terminator 2" - Teil drei und vier, mit denen Cameron nichts zu tun hatte, vergesse man lieber so schnell wie möglich - vielleicht die beiden definitiven Cyborg-Filme gedreht. Und "Avatar" ist, wer weiß, der definitive Anti-Cyborg-Film. Die eigentliche Ironie stellen dann die - nicht mehr besonders schweren, aber nach wie vor ziemlich hässlichen - 3D-Brillen dar, die man tragen muss, um den Film in der von den Produzenten intendierten Weise zu rezipieren. Diese Brillen entsprechen voll und ganz der Cyborg-Logik.
 
Lukas Foerster

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Der Wurm ist drin. Und zwar in der deutschen Rezeption von Maurice Sendaks Kinderbuch-Klassiker "Where the Wild Things Are". Schon der deutsche Titel "Wo die wilden Kerle wohnen" des Buchs, das in Deutschland nie die Popularität erreicht hat, die es in den USA genießt, hat seine Probleme. Der Begriff "Kerle" engt die Wesen, denen Max begegnet, schon zu sehr ein. Und nun, da Spike Jonze gemeinsam mit seinem Drehbuchkoautor Dave Eggers und im ständigen Kontakt mit Maurice Sendak das Buch verfilmt hat, stimmt er schon gar nicht mehr: Nicht nur sind die Kerle ihrer mentalen Statur nach keine Kerle, es sind ganz ausdrücklich nunmehr auch Mädels darunter. Viel schlimmer aber als alle Übersetzungsprobleme - und fatal für die Aufnahme des Films hierzulande - ist die vom deutschen Verleih gewählte Strategie, das Werk als reinen Kinderfilm zu vermarkten. Das nämlich wird dem Werk alles andere als gerecht. In den USA, wo der Film seine Produktionskosten bereits wieder eingespielt hat, setzte man denn auch - und mit Erfolg - auf die Adressierung des Gesamtpublikums.

Die Geschichte des Buchs ist einfach. Ja, ihre Einfachheit und der sehr spärliche Text haben dafür gesorgt, dass 46 Jahre ins Land zogen, ohne dass eine Spielfilmversion des Klassikers zustande gekommen wäre. (Es gibt einen Animationsfilm von 1973, den kann man sich auf Youtube ansehen.) Spike Jonze, berühmt geworden mit Videoclips und "Being John Malkovich", und Dave Eggers, Hipster, Gutmensch und Gründer von McSweeney's, haben es nunmehr gewagt. Und bekamen prompt Ärger mit dem Studio Warner Brothers, das bei Ansicht erster Ergebnisse Angst vor der eigenen Courage bekam und Änderungen verlangte. Aufhellungen der Gemütslage vor allem. Da geriet das Studio an die Falschen. Es gab viel Streit, die Produktion - 2005 schon begonnen - zog sich, ein kompletter Neudreh wurder erwogen, dunkle Gerüchte umwölkten den Film bald im Netz.

Die schließlich geschlossenen Kompromisse sind im fertigen Film als solche kaum erkennbar. Der Rahmen des Kinderbuchs bleibt in groben Zügen erhalten. Max (Max Records) ist der Held der Geschichte, ein Junge, der sich aus Unglück wegträumt aus seiner Wirklichkeit. Der Film beginnt mit der Zerstörung eines Iglus, das Max sich als Rückzugsort gebaut hat. Dann kommt es zum Streit mit seiner (alleinerziehenden) Mutter (Catherine Keener), Max verlässt in einem Wolfskostüm, in das er sich wie in einen allerdings wirkungslosen Schutzanzug gekleidet hat, das Haus, rennt davon und ist plötzlich auf einem Boot auf offener See. Im Buch war es noch das Kinderzimmer, das sich wundersam transformierte; im Film korrespondiert der realeren Distanz paradox die Unmöglichkeit, sich selbst und seiner schwierigen Situation zu entkommen. Max landet an an fremden Gestaden im Dunkeln. Ein Feuer brennt, man sieht im Umriss riesenhafte Gestalten, von denen einer gerade ausrastet und die Behausungen seiner Stammesgenossen (oder wie immer man diesen Wilde-Dinger-Verbund auch nennen will) zerstört. Das ist Carol. Zwischen Max und ihm entwickelt sich eine komplizierte Beziehung, die Freundschaft zu nennen nicht ganz korrekt wäre.


Max träumt sich also davon und stößt auf eine Truppe von Großen, die gefährlich nur im ersten Moment scheinen. Und auch groß, im Sinn jedenfalls von erwachsen, sind sie eigentlich nicht. Bei Sendak wird Max zum König der "wild things" gewählt, weil der die ihn turmhoch fast Überragenden niederstarrt, in der Fantasie zur Furchtlosigkeit selbstermächtigt. Hier ist es eher so, dass die wilden Kerlinnen und Kerle nur zu froh ist, einen Dummen gefunden zu haben, dem man die Krone aufsetzen kann. Sie selbst nämlich sind endlos verzagt, eine durch Streitereien zermürbte Therapiegruppe, die sich über einen Neuzugang freut. Man lernt sich kennen, man freundet sich an, man macht einmal auch ein großes Spektakel, bei dem alle auf einen Haufen springen, man entwickelt Pläne für ein großes Fort-Bauprojekt. Und doch schwindet die Melancholie, die die Züge, die Bewegungen, die Dialoge, überhaupt das Zusammenleben durchwirkt, nicht.

Eskapismus ist was anderes. Das hat das Studio gemerkt, mit Entsetzen. "Where the Wild Things Are", von Jonze und Eggers erzählt, ist eine Geschichte, deren Schrecken sich keineswegs der Monstrosität fremder Gestalten verdankt. Alles ist vielmehr nur zu vertraut. Das Unglück, die Trauer, das Zagen hat Max aus seinem Innern nur ins Außen projiziert. Dieser Projektion setzt Jonze ins Bild. Nichts Rettendes, nichts Erlösendes, auch und gerade nichts Erhabenes ist in Sicht. Im Gegenteil. Das große Projekt scheitert, die Krone fällt dem König vom Kopf, die Depri-Truppe schlurft weiter durch ihr Lummerland voll Wüstensand und die vom Himmel geholten Eulen sind, was sie scheinen: sprachlos und dumm. Mit der Handkamera, in dokumentarisch anmutenden, das Dunkle und die Unruhe suchenden Bildern setzt Spike Jonze das um. Nichts wird in übersichtliche, klassische Kompositionen gebannt. Viel anders als Jonzes Skatervideos sieht das alles nicht aus und nur in diesem allen Hollywoodkonventionen und avataristischen Spektakeln fernen Sinn ist es ganz und gar zeitgemäß. Am Ende wird zum Abschied mit den Wölfen geheult. Max projiziert sich zurück zur Mama. Sie haben sich wieder, sie sehen sich in die Augen und wenig hat sich geändert, diesem Moment des glücklichen Wiederfindens und kernfamilialen Zusammenseins zum Trotz. Die atemberaubend realistische Botschaft des Films: Man entkommt sich nicht. In der schönsten Fantasie lauert nur der nächstbeste Trauerkloß. Hollywood hat schon besser geträumt.

Ekkehard Knörer

Avatar - Aufbruch nach Pandora.USA 2009 - Originaltitel: Avatar - Regie und Buch: James Cameron - Darsteller: Sam Worthington, Zoë Saldana, Sigourney Weaver, Stephen Lang, Michelle Rodriguez, Giovanni Ribisi, Joel David Moore, CCH Pounder

Wo die wilden Kerle wohnen. USA 2008 - Originaltitel: Where the Wild Things Are - Regie: Spike Jonze - Buch: Spike Jonze und Dave Eggers - Darsteller: Max Records, Catherine Keener, Mark Ruffalo, Steve Mouzakis, Pepita Emmerichs, Max Pfeifer