Im Kino

Dezenter Drift ins Zwangsgestörte

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
06.10.2016. In Corneliu Porumboius kluger Komödie "Der Schatz" fällt eine Bewegung in der Gegenwart mit einer historischen Exploration in eins. Genitalien von rührender Anmut und Aggregatzustände kreatürlicher Ekstase präsentiert Emiliano Rocha Minters "We Are the Flesh", ein großer Wurf des transgressiven Kinos.


Costi (Toma Cuzin) ist ein loyaler Angestellter: Am Tag nachdem er sein Büro für ein paar Stunden unbefugt verlassen hat, meldet er sein Vergehen beim Chef. Als er freilich - ungefragt - den Grund für die Abwesenheit nennt, glaubt ihm der Vorgesetzte nicht: Du behauptest, ein Geschäft für Metalldetektor aufgesucht zu haben, weil Du hoffst, gemeinsam mit deinem Nachbarn einen seit vielen Jahrzehnten vergrabenen Schatz zu heben? Unsinn, sag doch gleich, dass Du mit der jungen Frau am Nachbarschreibtisch schläfst, verstehe ich ja, wir sind beide Männer. Diese Frau am Nachbarschreibtisch will Costi, auch als Kollege loyal und anders als sein Chef kein Alltagssexist, allerdings nicht mit in die Sache hineinziehen. Glücklicherweise fällt ihm postwendend ein Ausweg aus dem argumentativen Dilemma ein: Ja, er habe eine Affäre, aber nicht mit der Kollegin, sondern mit einer Frau, die Metalldetektoren verkauft.

Solche - schreiend komischen und dabei stets deadpan vorgetragenen - Dialoge sind eine Spezialität von Corneliu Porumboiu, dem staubtrockenen Minimalisten unter den Regiestars des nach wie vor hochgradig produktiven rumänischen Autorenkinos. Es wird in seinen Filmen oft reichlich verschrobenes Zeug daher geredet - aber stets mit System. Auch verschrobenes Zeug hat eine innere Logik, und seine Figuren sind Meister darin, ihre eigenen Gedankengebäude fein säuberlich bis in den letzten Winkel auszuleuchten, ganz unabhängig von einem möglichen praktischen Nutzen einer solchen Unternehmung. Alles ganz genau wissen zu wollen ist manchmal auch nur eine Form von Dummheit. Und Dummheit ist seit jeher eine zentrale Triebkraft guter Komödien. Die leicht windschiefe Anmutung von Porumboius oft ausnehmend schlacksigen Figuren, die sich selten komplett wohl in ihrer Haut zu fühlen scheinen, ist eine weitere.

Der in physischer wie in psychischer Hinsicht eher subkutan als offensichtlich angeknacksten Disposition seiner Figuren, insbesondere ihrem dezenten Drift ins Zwangsgestörte, entspricht Porumboius dezidiert unaufgeregte und gleichzeitig hochkontrollierte Filmsprache, die Vorlieben für (im Fall von "Der Schatz" cinemascopebreite) Totalen und für aufgeräumte, übersichtliche Dekors hat - Costis spartanisch eingerichtete Wohnung könnte fast, falls es so etwas gäbe, einem realsozialistischen Möbelhausprospekt entsprungen sein. Zu sich selbst kommt dieses Kino in geduldigen Rekonstruktionen prozessualen Handelns, entlang derer der Regisseur eine Poetik der expressiven Redundanz entwickelt: Seine Filme zeigen, gerade aufgrund ihrer nüchternen Aufmachung, dass Prozesse im sozialen Raum, wenn man sie in ihrer Eigendynamik ernst nimmt, nicht auf funktionale Bestimmungen, beziehungsweise Kosten-Nutzen-Rechnungen reduzierbar sind, sondern bei jeder Gelegenheit von Planungsparadoxien und psychologischen Fehlleistungen heimgesucht werden.



Für knapp die Hälfte der Laufzeit entfaltet sich sein hochgradig ökonomische 89 Minuten langer neuester Streich in einer einzigen Szene, die zeigt, wie drei Männer in einem verwilderten Garten mithilfe diverser Gerätschaften den erwähnten Schatz suchen. Und sich dabei alsbald gegenseitig auf die Nerven gehen - nicht etwa, weil es Streit um die potentielle Beute geben würde, sondern weil der Teufel im methodischen Detail steckt. Als heimliche Stars der hochgradig unterhaltsamen Unternehmung erweisen sich die beiden (ihrerseits miteinander konkurrierenden) Metalldetektoren, an deren unbestechlichen Maschinenlogik die Menschen zu verzweifeln drohen: Das durchdringende Piepsen, das ein Metallvorkommen anzeigt, wenn ein gebogenes Aluminiumgerät über das richtige Fleckchen Erde bewegt wird, mag beim ersten Ertönen freudiges Entzücken auslösen; es kann sich aber nur zu schnell in ein Folterinstrument verwandeln.

Porumboius Filme haben auf der erzählerischen Makroebene oft etwas von intellektuellen Spielen, deren Einsatz die politische Geschichte des Heimatlandes des Regisseurs ist (und die ohne den oben beschriebenen, glücklicherweise reichlich vorhandenen Sinn fürs Komödiantische leicht in bloßen Schematismus umkippen könnten). In diesem Fall ermöglicht es das Motiv der Schatzsuche, eine Bewegung in der Gegenwart mit einer historischen Exploration in eins fallen zu lassen. So stellen sich die Goldgräber unter anderem die Frage, ob die vermuteten Reichtümer aus der Zeit der Rumänischen Revolution von 1848, oder doch eher aus der des Russisch-Türkischen Kriegs von 1877/78 stammen. Die Auflösung entspricht der hintersinnigen Ironie, die Porumboius Werk auf allen Ebenen prägt. Die Tiefe der Ausgrabung steht gerade nicht in einem Verhältnis zur Tiefe der historischen Zeit. In einem Land, in dem, laut einer anderen Dialogzeile, nur zwei Prozent der Bewohner ab und zu ein Buch in die Hand nehmen, hat sich inzwischen sogar die kapitalistische Euphorie der 1990er Jahre in ein legitimes Objekt archäologischer Nachforschung verwandelt.

Lukas Foerster

Der Schatz - Rumänien 2015 - OT: Comoara - Regie: Corneliu Porumboiu - Darsteller: Toma Cuzin, Adrian Purcarescu, Corneliu Cozmei, Radu Banzaru, Can Chiriac - Laufzeit: 89 Minuten.

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Eine verwahrloste Behausung - wildes Leben in den kargen Überbleibseln der Zivilisation. Post-Apokalypse? Vielleicht. Womöglich befindet sich dieser Ort aber auch in einem reinen Kino-Universum eigenen Rechts. Gut zu dieser Überlegung passt, dass der verwildert anmutende Mariano (Noé Hernández), der ziemlich rätselhaften Betätigungen nachgeht, die beiden Neuankömmlinge Fauna (María Evoli) und Lucio (Diego Gamaliel), gewissermaßen zwei "Hänsel und Gretel"-artige Geschwister, dazu verdonnert, mit Holzlatten, Pappe und Unmengen von Paketklebeband eine Art Filmset zu bauen, das erst nach Arte Povera aussieht, sich nach Vollendung aber in eine in mal satte, mal Instagramfilter-artig blasse Primärfarben getauchte Mischung aus Geburtskanal und B-Movie-Hölle nach Manier des brasilianischen Pulp-Auteurs José Mojica Marins verwandelt.

Vom karg realistischen Register der ersten Minuten wechselt Regiedebütant Emiliano Rocha Minter bald in ein purgatorisch-meditatives. Wenn man so will: Von dem Modus, den man heute vom mexikanische Arthauskino erwartet, in einen transgressiv-artifziellen Modus, der - und das ist wirklich erstaunlich - nahtlos an ein erwachsenes Kino der 70er Jahre anschließt, das sich in der Interzone zwischen Exploitation, Kunst, Pop, Drastik und gegenkulturellem Infrage-Stellen gängiger gesellschaftlicher Konventionen verortet. Subversives Mitternachtskino. An Versuchen, dieses Kino wiederauferstehen zu lassen, herrschte seitdem weißgott kein Mangel. Doch während die Epigonen über bloß nostalgische Gesten selten hinaus gelangen, bezieht Minter eine beeindruckend souveräne Position: Sein Film gerinnt nicht zum Retro-Spiel mit gefälligen Tabubrüchen, sondern ist tatsächlich von einer existenziellen Dringlichkeit angeschoben.

Was Tabubrüche betrifft, geizt auch Minter nicht. Mariano, dem der Poe'sche "Imp of the Perverse" ins stets irrsinnig herumäugende Gesicht geradezu gemeißelt ist, spielt mit den Geschwistern ein kaum durchschaubares Spiel. Sie dazu zu bringen, das Inzest-Tabu als grundlegende zivilisatorische Leistung zu durchbrechen, bildet darin bloß die erste Passage. Den Sex zwischen den beiden zeigt Minter in aller Explizitheit, überhöht ihn aber zusätzlich durch den Einsatz einer Wärmekamera, die vom Kino tatsächlich viel zu selten genutzt wird. Wenn die beiden miteinander schlafen, strahlen sie so satt wie glühender Stahl kurz vor seiner Verflüssigung: Aggregatzustand kreatürlicher Ekstase.



Dem Inzest folgen Kannibalismus, Defäkationen, Geburtsmetaphern und -szenen, Menschenopfer, pornografischer Sex, nietzsche-artige Deklamationen von der Überwindung der Selbst-Disziplin durch Freisetzung der Triebgewalt (noch ein schöner Konnex zu Marins), Großaufnahmen von Genitalien beiderlei Geschlechts - kurz: ein Reigen all jener ersten und letzten, schlicht primordialen Dinge, die diesseits der Zäsur durch die edlen Körperideale der Klassik als anrüchig und ganz gewiss nicht bildwürdig gelten. Insbesondere die Genitalien sind dabei von rührender Anmut: Selten einmal gelingt es dem Kino, die tatsächlich wunderbare Schönheit einer Vulva oder die rätselhaft kräuselnden Bewegungen eines Hodensacks mit beiläufigen ästhetischen Mitteln auf die Leinwand zu bringen.

Liest sich das nach wilder Horrorshow, deren Exzess weniger auf eine tatsächliche Befreitheit schließen lässt, als auf einen Überschuss wegen Überforderung? Im Film fühlt sich das völlig anders an. Minter, das ist das wirklich großartige an "We are the Flesh", sucht nicht das mittlerweile völlig abgenutzte Pathos der Drastik wie etwa Gaspar Noé. Zu keiner Sekunde wirkt "We are the Flesh" wie das Projekt eines narzisstischen Kokainisten, der seinem Publikum unter viel Bohei vor die Füße kackt. Vielmehr eignet dem Film bei allen gezeigten (und, damit wir uns nicht falsch verstehen, zartbesaiteten Menschen nicht ohne weiteres zumutbaren) Monstrositäten eine Zärtlichkeit, eine ästhetische Sensibilität, die am Werk und dessen innerer Logik mehr interessiert ist als an Headlines im Boulevard. Minter arbeitet an einer Positionierung als ernstzunehmender Künstler, nicht als Krawallhupe. Das unterscheidet ihn am Ende vielleicht auch - bei allen Parallelen, was den ausgestellten Ästhetizismus betrifft - von Festivalliebling Nicolas Winding Refn

"We are the Flesh" - das legen zumindest die letzten Bilder nahe - hat vielleicht mehr mit der mexikanischen Gegenwart zu tun, als es lange Zeit den Anschein hat. Hier muss ich leider passen, für eine solche Einschätzung des Films fehlt mir in dieser Hinsicht der Einblick. Als Aktualisierung einer wichtigen Traditionslinie des Kinos, als Beitrag zu einer Poesie der Transgression und Fleischlichkeit, als Film über das Unbehagen des Geboren-Seins und die romantische Sehnsucht der Kunst danach, zu einer Zone des Erlebens jenseits der Tabus zurückzugelangen, ist "We are the Flesh" jedoch ein rundum starker, toller Film.

Thomas Groh

We Are the Flesh - Mexiko 2016 - OT: Tenemos la carne - Regie: Emiliano Rocha Minter - Darsteller: Noé Hernández, María Evoli, Diego Gamaliel, María Cid - Laufzeit: 79 Minuten.