Im Kino

Nicht im Kino

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh, Ekkehard Knörer, Maximilian Linz
28.12.2011. Anstatt eines Jahresrückblicks: Vier Filme, die uns der Kinoverleih dieses Jahr schuldig geblieben ist. Über Manoel de Oliveiras "Der seltsame Fall der Angelica", Sergio Caballeros "Finisterrae", Uruphong Raksasads "Agrarian Utopia" und Rene Frölkes "Führung".
Die Rubrik "Im Kino? verspricht in ihrem Titel etwas, was sie nicht einlösen kann: wir schreiben hier nicht über das "Kino an sich?, wir beziehen uns nicht auf die Gesamtheit aller (neuen) Filme, sondern nur auf das, was uns die deutschen Filmverleiher zur Verfügung stellen. Und nun starten zwar einerseits immer mehr und inzwischen um die 500 Filme pro Jahr in den deutschen Kinos, paradoxerweise finden aber andererseits immer größere Teile des weltweiten Filmschaffens überhaupt nicht mehr ihren Weg nach Deutschland. Grob gesagt hat alles, was nicht entweder im Dunstkreis des deutschen Filmfördersystem oder in Hollywood entsteht, von Anfang an schlechte Karten. Gleichzeitig sind wir heute als Filmkonsumenten weniger denn je abhängig von der Vorauswahl des Verleihmarkts. Wo die Programmkinos sterben, blühen die Filmfestivals und die DVD ist nur deswegen in der Krise, weil im Internet gleich Dutzende legale und illegale Distributionsformen mit ihr und untereinander konkurrieren.

Zum Jahresabschluss stellen wir eine kleine Auswahl an neuen Filmen vor, die 2011 keine reguläre Kinoauswertung erfahren haben und die aller Wahrscheinlichkeit nach auch 2012 keine erhalten werden. Filme, die wir auf Festivals gesehen haben, auf DVD, oder als avi-file auf dem Computer. Nicht alle sind ohne weiteres greifbar, doch die Mechanismen des neuen, chaotischen Kinomarktes können Filme zwar verstecken, aber kaum noch dauerhaft unsichtbar machen. Wir verstehen die dieswöchentliche Kolumne deswegen auch als Aufforderung zur Neugier, als eine erste Anleitung zu einer Entdeckungsreise in die Bereiche des Kinos, die dessen Alltagsbetrieb nicht (mehr) abzubilden vermag und die bereits ein, zwei Mausklicks jenseits dieser Webseite beginnen könnte.

LF

---

Manoel de Oliveira: "Der seltsame Fall der Angelica"



Mitten in der Nacht bekommt Isaak, der junge Fotograf, Besuch. Eine Frau ist gestorben, Angelica, sie war jung, eine Schönheit, die sehr christliche Familie ruft ihn, einen sephardischen Juden, letzte Aufnahmen der Toten zu machen. Die Fahrt hinaus in die Villa durch die portugiesische Kleinstadt ist ein Spiel aus Bewegung, Dunkelheit, Licht und Musik. Die fotografische Sitzung ist wie eine Seance. Im Halbkreis sitzen die Anverwandten der Toten, man sieht sie im Hintergrund nur als Schemen. Isaak verlangt stärkeres Licht, setzt die Tote mit seiner altmodischen kleinen Kamera ins Bild. Dabei hat er eine Erscheinung: Für einen Moment glaubt er Angelica zum Leben erweckt. Sie schlägt die Augen auf, blickt Isaak an, lächelt dabei, Angelica Mona Lisa. Es ist wie ein Gegenmoment zu jenem kurzen Augenblick in Chris Markers Fotofilm "La Jetee", in dem der Held für ein Blinzeln aus der Stillstellung des Fotografischen zum Leben erwacht. Hier aber, bei Oliveira, scheint gerade die Fotografie die belebende Kraft.

In Wahrheit ist Isaak mit diesem Moment dem Tod anheimgegeben. Der Film erzählt von einem, der der Welt und dem Leben abhanden kommt, weil er sich mit der Liebe zu einer Toten infiziert hat. Isaak entwickelt die Bilder, und auf seltsame Weise ziehen ihn Arbeiter im gegenüberliegenden Weinberg magisch an. Sie schwingen die Hacken zu Vorarbeitergesang. Er eilt hinaus, hinüber, fotografiert diese Männer. Der Gesang, die archaische Arbeit, sind wie erste Rufe und Boten des Jenseits, in das es Isaak nun, je länger je stärker, zieht. In der Nacht bekommt er Geisterbesuch: Mit Angelica fliegt er übers Land, über Wasser, man denkt an Charles Laughtons "Night of the Hunter", man denkt an den Stummfilm, so technisch einfach und künstlich ist das gemacht, so wenig um Realismus im Fantastischen ist es besorgt. Isaak rüttelt am Tor zum Friedhof, er weiß nicht, wie ihm geschieht, er steht abseits und blickt in ein Draußen, während die älteren Herren (und die ältere Dame) am Frühstückstisch der Pension über Materie und Antimaterie diskutieren.

"Der seltsame Fall der Angelica" ist ein aus der Zeit gefallener Film und erzählt von einem jungen Mann, der selbst aus seinem Leben wie aus der Zeit fällt. In die Gegenwart - aber eine sehr eigene Version davon - spielt Oliveira, der seinem Inszenierungsstil immer etwas statuarischer Sprach- und Raum-Mise-en-Scene treu bleibt, eine jenseitige Welt, eine jenseitige Zeit ein. Die Fotografie ist das Medium der Belebung, aber was hier Leben gewinnt, ist das Tote. Für dieses Tote, die schöne jung verstorbene Angelica, öffnet, und sei es im Trick, Oliveira die von ihm im Film geschaffene Welt. Das funktioniert, weil er es mit großer Selbstverständlichkeit tut. Es bezaubert, weil die Bilder und die Musik auf einfache Weise schön sind. Vor gut zwei Wochen feierte Oliveira seinen 103. Geburtstag. Ein neuer Film ist bereits abgedreht. In deutschen Kinos wird auch er vermutlich nicht zu sehen sein.

Ekkehard Knörer

---

Sergio Caballero: "Finisterrae"



Zwei Gespenster gehen um in Europa: Sie haben genug vom irrlichternden Dasein als solche und wollen endlich sterblich werden. Wie das geht, verrät das Orakel von Garrel: Eine Wanderung ans Ende der Welt führt zur Vermenschlichung. Fortan wandern die beiden russisch sprechenden Lakengestalten durch eine neblig-graue, absurd-surreale Landschaftswelt ihrer eigenen Endlichkeit entgegen - in so bedeutungsschwangeren, wie bedeutungsentleerten langen Einstellungen.

Der Name des Orakels ist eine erste filmhistorische Spur: 1972 erscheint "Le Cicatrice Interieur" von Philippe Garrel, in dem die Sängerin Nico mit einem Gefährten eine ähnlich absurde, sinnentleerte Reise durch karge Steppen antritt: Schon auch wegen einer desaströsen Editionslage ein fast nicht greifbarer Klassiker des subversiven Gegenkinos der 70er Jahre. Sergio Caballero gelingt nun ein wunderbarer Zweischritt: Einerseits ist "Finisterrae" Hommage an diese spezielle, heute kaum noch mögliche Form des Kinos, wie überhaupt an den großen, schwermütigen Autorenfilm klassisch-europäischer Provenienz, zugleich aber auch eine Parodie mit den Mitteln des langgezogenen, pointenlosen Witzes auf eben die gravitas und Manierismen dieses Kinos: Monty Python in Slow-Mo, wenn man so will. In seinen trockenen Momenten ist das einschneidend unverständlich, in seinen besten herrlich surreal (etwa die Sequenz im "Wald der Stimmen", der voller Ohren hängt und durch den ein stetes Flüstern und Wispern geht) und in seinen schönsten einfach nur visuelle Poesie der einfachen, aber effektiven Mittel, etwa wenn ein Rentier zu entrückter Klaviermusik durch eine alteuropäische Villa spaziert und sich dabei selbst zu fragen scheint, wie es eigentlich hierher gekommen ist.

Im Wettbewerb von Rotterdam wurde der Film ausgezeichnet, in Deutschland lief er bislang nur auf dem mit viel Herz kuratierten "Internationial Comedy Film Festival" in Berlin. An eine reguläre Kinoauswertung dieses sperrig-witzig-langweiligen Films ist vermutlich im Traum nicht zu denken - ich wünsche sie mir trotzdem.

Thomas Groh

---

Uruphong Raksasad: "Agrarian Utopia"




"Agrarian Utopia" heißt ein thailändischer Film, dessen malerische, aber nie lieblichen, lichtdurchflutete, aber nie "sonnigen" Bilder mich verfolgen, seitdem ich ihn vor fast eineinhalb Jahren auf einem kleinen Filmfestival gesehen habe. In den deutschen Kinos gibt es keinen Platz für Filme wie "Agrarian Utopia", es gibt überhaupt kaum noch Platz für asiatische oder gar thailändische Filme (wenn sie nicht gerade, wie Apichatpong Weerasethakuls "Uncle Boonmee" die goldene Palme in Cannes gewonnen haben; selbst da waren die Zuschauerzahlen ernüchternd). Und eben erst recht keinen Platz gibt es für einen kleinen, peripheren, poetischen Film über die Kehrseite der Globalisierung.

Zwei Kleinbauern, Duen und Nuek, bewirten ein Stück Land, das einem anderen gehört. Der Film zeigt ihre spärlichen Behausungen und die unersetzbaren Nutztiere, strukturiert ist er entlang des Erntezyklus, liebevoll fängt die Kamera jede einzelne Handbewegung ein - sie folgt dabei keinem strikten formalen Regime, sie schmiegt sich an ihren Gegenstand an und nutzt, wo notwendig, selbst Zeitrafferaufnahmen. Man sieht auch, wie Duen und Nuek ihre Familien manchmal nur mithilfe von am Wegesrand aufgelesenen Kröten ernähren können und wie nebenbei bekommt man eine Ahnung davon, wie die Bauern und ihr Erntezyklus an den Weltmarkt angekoppelt sind. Dazu dringen in den Film immer wieder Bilder der Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten ein, Bilder von Ereignissen, die Thailand nach einem de-facto-Putsch 2008 jahrelang in Bann hielten. Zwar ist klar, auf wessen Seite der Film in dieser Auseinandersetzung steht, aber in erster Linie offenbart sich in diesen Sequenzen die schier unüberwindbare Distanz zwischen der Lebenswelt der Bauern und der Sphäre des politischen Handelns.

"Neben dem Filmemachen ist die Landwirtschaft das, was mich am meisten interessiert. Sie ist eine der edelsten Beschäftigungen des Menschen", sagt der Regisseur Uruphong Raksasad, der sich vor einigen Jahren aus der kommerziellen Filmindustrie Thailands zurückgezogen hat und seither versucht, in seiner Heimatprovinz ein neues, anderes Kino nach dem Maßstab der ländlichen Lebenswelt zu etablieren. Wenn man diese Produktionszusammenhänge mit einbezieht, erkennt man, dass dem deutschen Kino 2011 nicht nur dieser eine, große thailändische Film gefehlt hat, sondern ein ganzes Genre; "self-sufficency movie-making" nennt es Raksasad. Ein anderer möglicher Name, der sich stärker an der Stofflichkeit dieser Form des Filmschaffens orientiert, gefällt mir noch besser: agrarian cinema.

Lukas Foerster

---

Rene Frölke: "Führung"


(Nicht im Kino - Nicht im Fernsehen)

"Führung" von Rene Frölke zeigt einen Besuch des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler in der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, im Herbst 2008, als sich die gegenwärtige Finanzkrise zum ersten Mal massenmedial verwirklichte und von der Administration zugespitzt wurde zu ersten Rettungsgipfeln, die zusammengenommen mittlerweile ein amtliches Gebirge bilden dürften. HfG-Rektor Peter Sloterdijk und Peter Weibel, Leiter des nebenanbefindlichen Zentrums für Medienkunst (ZKM), führen Köhler persönlich durch die Ausstellung, durch Seminarräume, in denen ausgesuchte Studenten Semesterarbeiten darbieten, durch Arbeitsplätze, die hier vermittelte handwerkliche Kompetenzen verbürgen sollen. Die Sprachen der Kunst, die Basics der Ästhetik gehören nicht zum rhetorischen Repertoire des damaligen Bundespräsidenten. Sein Fach ist die Volkswirtschaft, er will wissen, was die Kunst dazu zu sagen hat und auch die lächerliche Bereitwilligkeit, mit der Sloterdijk und Weibel im Angesicht der Macht dieses Sprachspiel mitspielen, überrascht nicht. "Führung" aber greift mit den Mitteln des direct cinema die Performanz des dargebotenen Polittheaters ab und transformiert sie in ein zeitgeschichtliches Leinwandereignis, das in einer kaum mehr für möglich gehaltenen Unmittelbarkeit von der Krise der repräsentativen Demokratie und ihren Künsten handelt.

Knapp vierzig Minuten lang bezeugen die brillanten graustufigen Videobilder und die hellhörig lauschenden Tonaufnahmen (Robert Nickolaus), wie die Funktionäre der Kunst und der Aufklärung versuchen, ihre Arbeit vor dem Hintergrund eines kollabierenden Systems zu rechtfertigen und im Hinblick auf Nützlichkeit zu kodifizieren. Was zählt, ist der Systemerhalt, auf beiden Seiten. Wie der legitimatorische Diskurs funktioniert, der von öffentlichen Geldern abhängiger Kunstproduktion heute voransteht und die Arbeit der Institutionen determiniert, wird hier auf höchster Ebene vorgeführt. Dass diese spezifische Legitimation auch auf die Kunstwerke selbst durchschlägt, zeigt "Führung" ebenfalls. Im Laufe des Jahres 2011 war der Film auf zahlreichen Festivals zu sehen, unter anderem während der Kurzfilmtage in Oberhausen und in der Sektion "Forum Expanded" der Berlinale, wo er wie ein Brennglas wirkte, das die strukturbildenden Elemente anderer Filme in den Programmen zur Kenntlichkeit vergrößerte, die Wahrnehmung schärfte für strategische Aufladungen filmkünstlerischer Formalismen mit thematisch verallgemeinerbaren Inhalten. Weil Filme aus Deutschland absurder Weise nur dann "ins Kino kommen", wenn sie vom Fernsehen koproduziert werden, "Führung" überdies mit seiner mittleren Länge sowieso nicht ins abendfüllende Schema passt, ist nicht damit zu rechnen, dass der Film regulär verliehen wird. Dabei hatten gerade das Genre des direct cinema und aufklärerisches, emanzipatorisches Fernsehen lange Zeit eine produktive Beziehung. Wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen heute noch ein Medium wäre, durch das Öffentlichkeit zu ihrem Recht kommt, würden sich die Sendeanstalten um diesen Film, den selber sie herzustellen nicht mehr in der Lage waren, reißen.

Maximilian Linz

Der seltsame Fall der Angelica - Portugal / Spanien / Frankreich / Brasilien 2010 - Originaltitel: O Estranho Caso de Angelica - Regie: Manoel de Oilveira - Darsteller: Ricardo Trepa, Pilar Lopez de Alaya, Leonor Silveira, Filipe Vargas, Laufzeit: 97 Minuten.

Finisterrae - Spanien 2011 - Regie: Sergio Caballero - Darsteller: Pau Nubiola, Santi Serra, Rosanna Walls, Pavel Lukiyanov, Yuri Mykhaylychenko - Laufzeit: 80 Min.

Agrarian Utopia - Thailand 2009 - Originaltitel: Sawan baan na - Regie Uruphong Raksasad - Darsteller: Prajad Jumma, Sai Jumma, Sompong Jumma, Nikorn Mungmeung - Laufzeit: 120 Minuten.

Führung - Deutschland 2011 - Regie: Rene Frölke - Mitwirkende: Peter Sloterdijk, Horst Köhler, Peter Weibel - Laufzeit: 37 Minuten.