Im Kino

Unterschiedliche Glücksversprechen

Die Filmkolumne. Von Andrey Arnold, Nicolai Bühnemann, Katrin Doerksen, Lukas Foerster, Michael Kienzl, Karsten Munt
28.12.2017. Zum Jahresabschluss traditionsgemäß: Kurze Texte zu Filmen, die leider (noch) nicht den Weg in die deutschen Kinos gefunden haben. Vorenthalten wurden uns Schammerl-Psychotrips, Verköstigungen roher Tier-Innereien, die Grenzen des Filmmaterials, nicht-abstrakte Vergnügen, friedliche Koexistenzen von Sex und Religion sowie kristallklare Breitwand-Bilder.


Irgendwo in den geheimnisvollen Gebirgsdimensionen des deutschsprachigen Raums, irgendwann im späten Mittelalter, da spielt Lukas Feigelfelds sonderbar schönes Langfilmdebüt "Hagazussa". Das trügerische Licht des Christentums kämpft hier noch gegen den dichten Nebel heidnischer Folklore, hartnäckig hat er sich zwischen den Baumkronen festgesetzt. Wenn man an diesen Orten in den Wald hineinruft, schallt erstmal gar nichts heraus. Nur später, in der Nacht, kommt vielleicht ein Echo zurück - eines, das man gar nicht hören will, weil es nach Schicksal klingt.

Die unheimlich-entrückte Vision finsterer Zeiten, die Feigenfelds bislang nur festivalerprobtes Werk entwirft, erinnert in seiner Archaik an Marksteine des Genres: "Das siebente Siegel", "Marketa Lazarová", "Valhalla Rising". Es nimmt die Sinne fest in Beschlag, mit hypnotischen Landschaftsbildern (gedreht wurde zum Teil im Salzkammergut) und dem gutturalen Alptraumhymnen-Soundtrack der griechischen Kammer-Doom-Band MMMD, dessen Bässe jeden Kinosaal mit angemessener Anlage zum Beben bringen sollten. Es zieht Augen und Ohren hinab in eine Welt flüsternder Totenköpfe und flackernder Schatten, wo soziale Kälte durch jede undichte Ritze im Gebälk dunkler Holzhütten dringt. Und erzählt eine Geschichte über Ächtung und Ausgrenzung einer Frau, der Mittel und Worte fehlen, sich zur Wehr zu setzen.

"Hagazussa" wurde teilweise über Crowdfunding finanziert. Es ist ein Film, dem man seine relative Unabhängigkeit von institutionellen und kommerziellen Kontrollinstanzen anmerkt - einerseits in seinen Längen und dramaturgischen Unebenheiten, in seinem minimalen Dialog, aber vor allem in der Rückhaltlosigkeit, mit der er sich in Phantomzonen stürzt, wo sich Hirngespinste und Halluzinationen in allerschönster Lavalampen-Seligkeit entfalten können. Wo das Melken einer Ziege unvermittelt zur erotischen Ekstase aus Großaufnahmen und Geräuschtänzen avanciert.

Besonders in den letzten beiden von vier Kapiteln, die die zeitlich weitreichende Handlung gliedern, greift der Wahn um sich, und weder Film noch Zuschauer bleiben davon verschont. Es geht weniger ums Verstehen als ums Nachempfinden mentaler Ausnahmezustände, die sich im Zuge eines Schwammerl-Psychotrips endgültig der Ästhetik bemächtigen. Eine gewagte Eskalation, die in einem großartigen Schlussbild mündet. Wie immer stellt sich die Frage: Warum läuft das (noch) nicht im Kino?

Andrey Arnold

Hagazussa - Deutschland, Österreich 2017 - Regie: Lukas Feigelfeld - Darsteller: Haymon Maria Buttinger, Aleksandra Cwen, Claudia Martini, Celina Peter, Tanja Petrovsky - Laufzeit: 102 Minuten.


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Am Anfang kommt Justine vom Regen in die Traufe. Aus dem betont unterkühlten Elternhaus mit seinem militanten Vegetarismus an die Tiermedizinfakultät, wo ein beständiger Exzess zu herrschen scheint, der mit regelrecht militärischem Drill organisiert wird. Es herrscht eine rigide Hackordnung, die höheren Semester stehen über den Neuankömmlingen, die grausige Initiationsriten zu durchstehen haben: Tierblutdusche, Verköstigung roher Tierinnereien. Letzteres hat auf die junge Frau böse Auswirkungen, entwickelt sie doch einen unstillbaren Hunger auf Menschenfleisch.

So drastisch der Übergang zu sein scheint, den der Anfang von Julia Docournaus Debütfilm "Raw" markiert, wenn zu Beginn relativ statische Scope-Einstellungen die Einsamkeit und Isolation der Protagonistin unterstreichen und sie und die Kamera dann abrupt ins Partygetümmel an der Uni geworfen werden, so überwiegen doch die Kontinuitäten: statt positiver Identifikationsangebote für eine junge Frau gibt es Vorschriften, was sie zu essen hat. Wenn es in dem Film auch um das sexuelle Erwachen der anfänglich noch jungfräulichen Justine geht, dann setzt Docournau das nicht mit der kannibalischen Lust nach Fleisch gleich, sondern thematisiert im Gegenteil, wie die patriarchale Ordnung frei verwirklichtes weibliches Begehren als abjekt und gefährlich ansieht. Die einzige Möglichkeit zur Emanzipation ergibt sich aus Aneignung und Übererfüllung des Stigmas, wie der Film unterstreicht, wenn er Justine vor dem Spiegel zu einem Song des französischen Provo-Frauen-Rap-Duos Orties tanzen lässt, dessen bezeichnender Titel lautet: "Plus putes que toutes les putes" (Verhurter als alle Huren).

Ducournau findet für ihre Kannibalismus-Coming-of-Age-Fabel verstörende und unheimliche Bilder, in denen Ekel und Erotik immer nah beieinander liegen und überführt das Grauen in einer letzten dialektischen Volte in eine familiäre Ordnung, aus der es für Justine kein Entkommen gibt.

Nicolai Bühnemann

Raw - Frankreich 2016 - Regie: Julia Docournau - Darsteller: Garance Marillier, Ella Rumpf, Rabah Nait Oufella, Laurent Lucas - Laufzeit: 99 Minuten.

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Nur eine Handvoll Menschen konnten "Aus einem Jahr der Nichtereignisse" sehen und wer ihn gesehen hat, hat ihn wahrscheinlich nicht richtig gesehen. Denn auf Filmfestivals wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen, digital projiziert, auch wenn auf Film gedreht wurde. Ann Carolin Renninger und René Frölke haben ein Jahr lang den Rentner Willi auf seinem verwilderten norddeutschen Bauernhof besucht und seinen Alltag gefilmt: auf 16mm und Super 8. Das morgendliche Anziehen, Reden mit den Katzen, wie er mühsam seinen Rollator über Sandwege hievt, den stehen gebliebenen Wecker. Die Nichtereignisse beginnen schwer zu lasten, aber der Impuls des Films ist eben kein in Torschlusspanik erwachter Konservierungszwang. Nur kurz kommt Willi einmal auf seine Jugend zu sprechen, sonst ist die Vergangenheit im Film vor allem in den stillen Resten und Spuren präsent, die in der Gegenwart von ihr geblieben sind. Relikte, die einfach so selbstverständlich und stur in unserer Zeit stehen bleiben wie Willi auf seinem Hof.

Renninger und Frölke beobachten und dokumentieren ohne Schlussfolgerungen, darin ist ihr Film bemerkenswert frei. Er unterliegt lediglich dem Zwang der physischen Umstände. Also in diesem Fall: den Grenzen des Filmmaterials. Nach drei Minuten und zwanzig Sekunden ist eine herkömmliche Super-8-Kassette durchgelaufen. Dem Film kommt das Bild abhanden, für einen Moment bleibt nur der Ton. "Film zu Ende!", ruft Renninger dann in die rauschende Schwärze hinein und Willi erwidert: "Du verbrauchst so viele Filme und aufgenommen haste noch nichts."

Katrin Doerksen

Aus einem Jahr der Nichtereignisse - Deutschland 2017 - Regie: Ann Carolin Renninger, René Frölke - Laufzeit: 83 Minuten.

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Ein Kriegsfilm, aber kein Film über einen Krieg. Sondern über sieben Leute, die auf einer Wiese abhängen. Vier Männer und drei Frauen. Erst sitzen sie im Kreis und stellen sich vor, einer nach dem anderen danach folgen szenische Miniaturen mit jeweils zwei bis drei dieser... Figuren? Oder Schauspieler? Jedenfalls geht es dabei zumeist, auf die eine oder andere Weise, um Sex. Ok, ein bisschen auch um den Krieg, vor dem die sieben Leute fliehen, oder zu fliehen behaupten; aber der Todestrieb bleibt dem polymorph-perversen erotischen Spieltrieb strikt nachgeordnet. "Les sept déserteurs ou La Guerre en vrac" heißt der Film, der Krieg dagegen hat keinen Namen. Und er manifestiert sich auch nicht im Bild. Wohl aber auf der Tonspur: Durchgehend hört man Schlachtenlärm aus dem Off, und manchmal peitscht ein Schuss tatsächlich in die Spielhandlung hinein und tötet eine der Figuren. Freilich ist, wenn der Schauspieler zu Boden sinkt, kein Blut zu sehen. Die Differenz von Krieg und Kino bildet sich exakt auf die Differenz von Rolle und Schauspieler ab.

Zweifellos ist das erst einmal eine ziemlich abstrakte Versuchsanordnung, und die dem Outdoor-Schauplatz zum Trotz nicht zu übersehene Bühnenhaftigkeit der Szenerie scheint gleich noch einmal zu bestätigen, dass es Paul Vecchiali vor allem auf ein intellektuelles Spiel abgesehen hat. Das eigentlich Wunderbare an "Les sept déserteurs ou La Guerre en vrac" ist jedoch, dass der Film gleichzeitig ein ganz unkompliziertes, direktes, nicht-abstraktes Vergnügen ist. Weil man ihm von der ersten Minute an ansieht, dass alle Beteiligten vor und hinter der Kamera Spaß an der Sache haben. Spaß einerseits an den abstrusen Wendungen des Drehbuchs, das am laufenden Band erotische und militärische Paradoxien produziert: all is unfair in love and war. Spaß andererseits aber auch an der Performanz jeder einzelnen Szene, an der idiosynkratischen Sprech-Kunst der Darsteller vor allem: Ein Lispeln ist in diesem Film kein Sprachfehler, sondern etwas, das man kultivieren kann wie einen kostbaren Ziergarten.

Den inzwischen 87-jährigen Vecchiali wird es kaum scheren, dass seine aktuelle Regiearbeit in Deutschland nicht gezeigt wird; den gut 30 Vorgängern ging es nicht anders. Mich macht es trotzdem traurig, weil sich daran zeigt, dass im Alltagsbetrieb des Kinos für Leute, die wirklich ganz und gar auf eigene Rechnung und entlang der eigenen Obsessionen arbeiten, kein Platz ist.

Lukas Foerster


Les sept déserteurs ou La Guerre en vrac - Frankreich 2017 - Regie: Paul Vecchiali - Darsteller: Marianne Basler, Astrid Adverbe, Simone Tassimot, Jaen-Philippe Puymartin - Laufzeit: 99 Minuten.

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Es ist eine der dichtesten Szenen in Stephen Cones schönem neuen Film, wenn sich die 16-jährige Cyd mit ihrer Tante und momentan Gastgeberin Miranda zum ersten Mal streitet - wobei Streit fast zu hart klingt für den konsequent respektvollen Umgang, den die Figuren in "Princess Cyd" miteinander pflegen. Miranda ist knatschig, weil sie bei einer Party ein Gedicht vorgetragen hat, das ihr viel bedeutet - und Cyd währenddessen das Zimmer verlässt, um mit einem Jungen rumzumachen. Die Nichte wiederum wirft ihr vor, nur frustriert zu sein, weil sie keinen Sex hat. Da beginnt Miranda mit einem emotionalen Monolog darüber, dass persönliches Glück sich eben auch über Alleinsein, Lesen und Kirchenbesuche definieren kann. Für kurze Zeit spitzt sich ein Konflikt zu, der im Film eigentlich gar keiner ist. Denn in Cones lebensbejahendem, dabei aber nie klebrig sentimentalen Buddy Movie verhalten sich Religion und freie Sexualität nicht als Opposition zueinander, sondern als unterschiedliche Glücksversprechen, die sich zwar nicht immer ohne weiteres miteinander vereinen lassen, die der Film aber in einen Zustand friedlicher Koexistenz bringt.

Harmonie ist in der immer etwas märchenhaften Welt von "Princess Cyd" nicht das Resultat von Selbstverleugnung und faulen Kompromissen. So ist die Freundschaft der beiden Frauen von jeglicher Hierarchie befreit. Man lernt vom anderen, erweitert den eigenen Horizont - und bleibt sich und seinen Bedürfnissen doch treu. Klingt vielleicht ein bisschen nach esoterischem Wohlfühlkino, ist aber tatsächlich ein bemerkenswerter, ungewöhnlicher amerikanischer Independentfilm, der auf unaufgeregte Weise Wahres übers Leben zu erzählen weiß und Erfüllung nicht in einer statischen Vorstellung von Glück sucht, sondern in der ständigen Selbstbefragung. Nachdem mit "Henry Gamble's Birthday" vor einigen Monaten der erste von Cones Filmen in Deutschland auf DVD erschienen ist, besteht ein wenig Hoffnung, dass man "Princess Cyd" auch hierzulande noch zu sehen bekommt.

Michael Kienzl

Princess Cyd - USA 2017 - Regie: Stephen Cone - Darsteller: Rebecca Spence, Jessie Pinnick, Malic White, James Vincent Meredith - Laufzeit: 96 Minuten.


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Radikalismus wird bei Mathieu Denis und Simon Lavoie nicht aus der Ideologie, sondern aus der Ästhetik geboren. "Ceux qui font les révolutions à moitié n'ont fait que se creuser un tombeau" ist ein Porträt des Extremismus, das die Quebecer Studentenproteste von 2012 als dreistündige Collage aus Performance,Texttafeln und Archivaufnahmen weiterdenkt. Vier Studenten legen ihre Klamotten, ihre bürgerliche Identität und all das ab, was sie an das System bindet. Sie werden als Revolutionäre wiedergeboren, führen ihren Widerstand nicht mehr unter eigenem Namen, sondern über die Kampfbegriffen, die diese ersetzt haben. Für Denis und Lavoie ist dieser Widerstand immer ein ästhetischer. Kristallklare Breitwand-Bilder werden von dreckigen, digital ausgefransten Aufnahmen durchschnitten, eine Plansequenz von meditativer Schönheit wird von einer Texttafel überdeckt, eine einzige Szene erlebt mehrfache Formatwechsel. Film ist ein Akt der Aggression, eine Waffe, die sich gegen Gesellschaftsordnung, Staatsgewalt und schließlich die Aktivisten selbst richtet - bis die Ideologie den letzten Rest ihrer Menschlichkeit verdrängt hat.

Karsten Munt

Ceux qui font les révolutions à moitié n'ont fait que se creuser un tombeau - Kanada 2016 - Regie: Mathieu Denis, Simon Lavoie - Darsteller: Charlotte Aubin, Laurent Bélanger, Emmanuelle Lussier Martinez, Gabrielle Boulianne-Tremblay - Laufzeit: 183 Minuten.