Im Kino

Feine Unterschiede

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
06.07.2011. Der junge frankokanadische Regisseur Xavier Dolan blickt in "Herzensbrecher" mit großer Genauigkeit und viel Feingefühl auf das Verliebtsein, die Liebe und auf das, was sich nicht hinter, sondern auf den Fassaden abspielt. Cedar Rapids, Iowa, also Flyoverland, USA: Hier steppt nicht der Bär, hier tobt nicht das Leben. Einen Hauch von Freiheit vermittelt Miguel Artetas Komödie "Willkommen in Cedar Rapids" aber doch.


Wer Xavier Dolans Debütfilm "J'ai tue ma mere" gesehen hat, weiß um das bald unheimliche Gespür, mit dem der junge franko-kanadische Regisseur über Fragen des Geschmacks nicht urteilt, sondern verfügt. Die feinen Unterschiede, deren sozialer Bedingtheit Pierre Bourdieu in seiner gleichnamigen Studie nachforscht; Dolan beherrscht sie, ohne sich über sie erhaben zu dünken. Ganz im Gegenteil stürzt er sich (als sein eigener Hauptdarsteller) geradezu in die Milieus, worein seine Filme sich einrichten: Jeder Lampenständer und jedes Teeservice, jeder Haarschnitt und jedes Kleidungsstück (ja, jede Art, dieses Kleidungsstück zu tragen); jede Geste, jede Pose und jedes Geschmacksurteil verraten etwas über Dolans Figuren, etwas, an das man präzise soziologische Begriffe anschließen könnte, was seine Filme aber gerade unterlassen, weil ihr Interesse nicht oder nicht zuerst dem Verstehen gilt.

Vielmehr gehen sie der Frage nach, wie sich eine bestimmte Lebenswelt oder ein bestimmter Lebenszustand anfühlt. In "J'ai tue ma mere" ist das die Entfremdung des schwulen Schülers Hubert von seiner kleinbürgerlichen Mutter, was in dem hier veranschlagten filmischen Idiom soviel heißt wie: seine Entfremdung von ihrer Art, Frischkäsebrötchen zu essen, von ihren Plüsch- und Paillettenaccessoires, von ihrem Fahrverhalten im Morgenverkehr etc. Was oberflächlich klingt, ist es indes nicht oder nur bedingt, besteht Dolans Talent doch gerade darin, in den Texturen des Alltagslebens eine ungewöhnliche Dichte an angelagerten Emotionen und Affekten zu entdecken. Dolan schaut nicht hinter die Fassade, sondern auf sie, mit einem Blick, der die abgedroschene Kritikerphrase, ein Film sei "genau beobachtet", mit neuem Leben erfüllt.



Sein zweiter Film, "Herzensbrecher" ("Les amours imaginaires"), der diese Woche seinen deutschen Kinostart hat, widmet sich der nächstgelegenen Existenzkrise. Von der Liebe zur Mutter schwenkt Dolan nun auf die Liebe zu einem zunächst Fremden. "Les amours imaginaires" handelt von dem, was für Liebe zu halten wir allzu geneigt sind und wofür das Deutsche den ziemlich desavouierten Begriff des Verliebtseins bereit hält. Denn schon der altkluge Tafelklässler weiß Bescheid, dass die kurzlebige Euphorie des Verliebten nicht zur ungleich solideren Liebe hinreicht: Vom einen zum anderen, so versichert man uns ständig, ist es ein weiter Weg. Der Titel von Dolans zweiter Regiearbeit lässt befürchten, dass er sich dem allgemeinen Verdammungsurteil gegen das projektive, imaginäre Moment der ersten Begegnung anschließt. Eine ganz unbegründete Furcht, wie sich sogleich herausstellt, denn wiederum verlegt sich Dolan aufs teilnahmsvolle Beobachten und Zeigen der - in diesem Fall: anziehenden und begehrlichen - Oberflächen, als welche die Welt dem Verliebten sich darbietet.

Zwei Freunde, Francis (Xavier Dolan) und Marie (Monia Chokri) verschauen sich in Nicolas (Niels Schneider), einen blondgelockten Adonis, der ihrem Werben in dem Maß nachgibt, wie er sich darin gefällt, begehrt zu werden. Dolan erzählt vom Kennenlernen der drei in mehreren Episoden, die durch eingeschobene Interviewsequenzen strukturiert werden. In den dokumentarisch sich gebenden Gesprächen berichten der Erzählwelt äußerliche Figuren von ihrem persönlichen Liebesleid. Wie Dolan seine gescripteten Interviewpartner zu Aussagen nötigt, die sich zur Malaise einer ganzen Generation in Liebesdingen verallgemeinern lassen sollen, ist nicht nur sehr aufdringlich, sondern ganz und gar überflüssig, stellt der Rest des Films doch unter Beweis, dass es auch anders geht. Auch Francis' und Maries Verliebtheit steht am Ende für mehr als nur ihr eigenes, idiosynkratisches Leid. Aber anstatt die rein behauptende Form von Aussagesätzen anzunehmen, macht dieses Mehr sich durch die Erfahrung der beiden hindurch geltend; eine Erfahrung übrigens, für die Dolan raffinierte Subjektivierungseffekte findet, die uns im selben Moment verzaubern, wie sie ihre Selbstbezüglichkeit preisgeben.



Es kann anfänglich schon irritieren, wie distanzlos Dolan das hippe, urbane Studentenleben seiner Figuren bebildert und im Ansatz sogar fetischisiert. Gleichzeitig muss man Dolan die Aufrichtigkeit zugute halten, mit der er dabei vorgeht: Er ist sich nicht zu blöd, eine ganze ausgedehnte Zeitlupensequenz auf die Simulation des Hochgefühls zu verwenden, mit neuer Hose und Frisur den Bürgersteig entlang zu schlendern. Shoppen ist in "Les amours imaginaires" noch ein wirkliches Erlebnis - im philosophischen Wortsinn. Dass der Film sich das alles erlauben darf, hängt mit der intelligenten Pointe von Dolans Konstruktion zusammen: Wie es sich anfühlt, verliebt zu sein, lässt sich nicht einfach am Objekt der Begierde zeigen, aber es ist auch damit nicht getan, es am subjektiven Pol zu exemplifizieren. Stattdessen verweist Dolan uns auf eine affektiv gefärbte Dingwelt, die sich zwischen beide schiebt und die Attraktion verstärkt, umlenkt, aufstaut oder verkehrt. Ähnlich wie Agnes Varda in "Le bonheur" setzt sich Dolan mit Verdinglichungsphänomenen auseinander, ohne sie, als Probleme verstanden, handstreichartig zu lösen. Es steht zu hoffen, dass die Kritik ihm dieselbe Gunst erweist.

Nikolaus Perneczky

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Cedar Rapids ist die zweitgrößte Stadt Iowas und die Heimat des Malers Grant Wood, eine Metropole aber höchstens für jemanden wie Tim Lippe. Tim ist Versicherungsvertreter im Provinznest Brown Valley, Wisconsin. Eine Affäre mit seiner ehemaligen Mittelschullehrerin ist für ihn gleich ein "pre-engagement", die Reise nach Iowa, auf der er seine Firma bei einer Versicherungskonferenz vertreten soll, ein echtes Abenteuer. Die Blondine, die ihn vor dem Hotel anspricht, wimmelt er ab: Nein, er habe jetzt kein Interesse an einer Party, aber danke für das Angebot.

Ed Helms ist toll als Tim Lippe, weil er seine Figur, so leicht es ihm auch fallen würde, nie ganz denunziert, sondern diesem Muttersöhnchen, das mit seiner Ersatzmutter schläft, stets noch gerade so einen Rest von Würde lässt (zuletzt in "The Hangover 2" sah das ganz anders aus). Helms ist einer dieser kruden, schiefen Starkörper, die in der amerikanischen Filmkomödie in den letzten Jahren immer häufiger auftauchen. Einen anderen bekommt er auf der Konferenz zum Zimmergenossen: Der bullige John C. Reilly war einst Charakterdarsteller, inzwischen hat er sich fast komplett aufs komische Fach verlegt. Wie immer mit vollem Körpereinsatz spielt er Dean Ziegler, den bad guy der Versicherungsbranche, vor dem Tim schon in Brown Valley gewarnt worden war. Es dauert doch eine ganze Weile, bis das Herz aus Gold, das in Ziegler natürlich schlummert, durch das rüde Ankumpeln und den Dauersexismus hindurch zum Vorschein kommt.



Und woher kennt man den dritten Zimmergenossen, den etwas gehemmt wirkenden Afroamerikaner? Richtig: "Ich bin ein großer Fan der HBO-Serie 'The Wire'." In dieser schönsten aller amerikanischen Fernsehproduktionen der letzten Jahre gab Isiah Whitlock den Senator Clay Davis, der Korruption zu einer Kunstform erhoben hatte; auch als nur scheinbar biederer Ronald Wilkes bekommt Whitlock schließlich die Möglichkeit, sein unvergleichlich swingendes Timbre nutzbringend einzusetzen. Außerdem gibt es noch: einen unappetitlichen Komplex aus Verdauungsproblemen und Liebeskummer, Sex im Indoor-Pool ("What happens in Cedar Rapid stays in Cedar Rapid") und einen Korruptionsskandal, der in seiner Banalität perfekt zum sich ein klein wenig verrucht gebenden Spießbürger-Flair der gesamten Veranstaltung passt.

Manchmal wirkt der Film etwas sehr zahm; sowohl, wenn man sich beispielsweise die Filme Reillys mit Will Ferrell in Erinnerung ruft, in denen Genrekonventionen in fast schon avantgardistischer Manier verflüssigt werden; als auch, wenn man das Milieu für einen Moment ernst nimmt und in "Willkommen in Cedar Rapids" ein Bild der zeitgenössischen amerikanischen Unternehmenskultur sehen möchte; da menschelt es doch gelegentlich etwas zu viel und an den falschen Stellen. Ein sympathischer Film ist "Cedar Rapids" dennoch. Schon, weil Regisseur Miguel Arteta Helms, Reilly und Whitlock nicht allzu eng ins Drehbuchkorsett einschnürt. Ein Film über den Hauch von Freiheit in der Provinz.

Lukas Foerster

Herzensbrecher. Kanada 2010 - Originaltitel: Les amours imaginaires - Regie: Xavier Dolan - Darsteller: Monia Chokri, Niels Schneider, Xavier Dolan, Anne Dorval, Anne-Elisabeth Bosse, Magalie Lepine-Blondeau, Olivier Morin, Eric Bruneau

Willkommen in Cedar Rapids. USA 2011 - Originaltitel: Cedar Rapids - Regie: Miguel Arteta - Darsteller: Ed Helms, John C. Reilly, Anne Heche, Isiah Whitlock Jr., Stephen Root, Kurtwood Smith, Alia Shawkat, Thomas Lennon, Rob Corddry, Sigourney Weaver