Im Kino

Hoheitsrecht der Herzensangelegenheiten

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Fabian Tietke
28.02.2018. Luca Guadagninos "Call Me By Your Name" erkundet während eines langsamen Sommers die Mise-en-Scene der Liebe. In Steven Spielbergs "Die Verlegerin" gehen klassische Tugenden und eine sehr gegenwärtige Erzählperspektive eine produktive Verbindung ein.


Eine antike Statue ist aus dem türkis schimmernden Mittelmeer geborgen worden. Das gerade noch von Wellen umspielte Antlitz des Kunstwerks liegt jetzt am Strand aufgebart, und wir sehen in Großaufnahme, wie eine Hand die zarte Form des jugendlich anmutenden und doch uralten Kopfes abtastet, wie ein Finger sanft die Nase entlang streicht und dann kurz auf dem Mund verweilt, als wolle er die metallen-kalten Lippen dazu bringen, sich zu öffnen, unter der neugierigen, zärtlichen Bewegung selbst lebendig zu werden.

Ich war mir zunächst sicher, dass die Hand Elio (Timothée Chalamet) gehört, der Hauptfigur des Films. Denn für gewöhnlich ist er es, dessen Nähe die Kamera sucht (und umgekehrt; das waren fast meine liebsten Momente im Film: jene, in denen Elio sich mit zwei, drei stürmisch-spielerische Tanzschritte auf die Kamera zu bewegt): ein verträumter, versponnener Siebzehnjähriger, der die Haare auf verwegene, aber noch nicht allzu eitle Art in die Stirn gewuschelt trägt und seine Zeit mit Büchern und der Transkription von klassischer Musik verbringt. Aber tatsächlich wird das Statuengesicht, das zeigt die nächste Einstellung, von Oliver (Armie Hammer) berührt, einem ein paar Jahre älteren amerikanischen Student, der bei Elios Eltern ein Sommer lang logiert, und der sein Leben zwar ebenfalls geistigen Interessen verschrieben hat, aber dessen Verhältnis zur Welt gleichzeitig von einer gewissen ironischen Distanziertheit geprägt ist.

Oder zumindest wirkt es so aus der Ferne. Denn es dauert eine Weile bis Elio Oliver, der ihn von Anfang an fasziniert, entscheidend näher kommt. In der Tat ist die Szene mit der Statue ein entscheidender Wendepunkt. Denn vorher ist Oliver vor allem ein Objekt, für Elios Begehren genauso wie für den Kamerablick, der den hochgewachsenen hübschen jungen Mann häufig aus der Untersicht ins Bild setzt, statuesk, wie einen antiken Gott. Jetzt aber ist es für einmal Oliver, der sich eine Blöße gibt, der im Kontakt mit dem antiken Artefakt momenthaft sein wissenschaftliches zugunsten eines erotischen Interesses aufgibt.



"Call Me By Your Name" erzählt eine Liebesgeschichte, die einen langsamen Sommer ausfüllt. Und sich zunächst nur behutsam einnistet in Bildern, die sich dem gegenseitigen Beobachten und den ersten, noch vermeintlich zufälligen Berührungen verschreiben - beim Aufs-Fahrrad-Steigen verliert Elio wie aus Versehen das Gleichgewicht, stützt sich an Olivers Körper ab; besonders schön ist kurz darauf eine Tanzszene, in der man plötzlich überrascht feststellt, dass der auf erratische Art geschmeidige Elio eigentlich viel eleganter ist als der vorher so weltgewandt auftretende, aber jetzt plötzlich hölzern und ungelenk anmutende Oliver. Daneben lässt der Film Platz für andere Attraktionen, zum Beispiel für zwei hübsche italienische Mädchen, die mit ihren Fahrrädern ab und an hineinfahren in den Film, neugierig auf die beiden hübschen Männer, die mit ihren Büchern im ausladenden Garten von Elios offenbar äußerst wohlhabenden Eltern (dass im Film Geld kein einziges Mal erwähnt wird, spricht dafür, dass es überreichlich vorhanden ist) liegen.

Dass Elio mit einem der Fahrradmädchen schläft, steht nicht im Widerspruch zu seiner Liebe zu Oliver. So wie der Film sich den geläufigen dramaturgischen Klischees des Coming-Out-Films verweigert (Homosexualität ist in dem Film zumindest insoweit nicht als Problem markiert, als sie sich nicht gegen eine äußere, in Figuren kristallisierte Homophobie ins Recht setzen muss), so lässt er sich auch nicht in Richtung kleingeistiges Eifersuchtsdrama ablenken. Auch auf die Tatsache, dass der Film im Jahr 1983 spielt, weist über weite Strecken nur Elios digitale Plastikarmbanduhr hin. Wie als ob mit den Geld- auch alle anderen sozialen Sorgen und Zwänge verschwinden würden, zeichnet der Film das Bild einer Welt, in der nichts und niemand den Herzensangelegenheiten das Hoheitsrecht streitig macht. Wenn die Liebe zu Oliver Elio dann außerdem noch mit seiner jüdischen Herkunft versöhnt, hätte ich von dem Film dann allerdings doch gerne etwas genauer erklärt bekommen, was das konkret bedeuten könnte. Das steht ein wenig allzu isoliert in dem Film herum - genau wie die allgegenwärtigen Bezüge auf die Antike (schon der Titelsequenz sind Abbildungen von Bronzestatuen unterlegt) diese Welt des absolut gesetzten Begehrens auf eher unklare Weise an das Imago einer befreiten Pansexualität anschließen.

Dass ich "Call Me By Your Name" nicht in gleicher Weise verfallen bin wie die meisten anderen Kritiker, liegt aber glaube ich nicht an solchen Unstimmigkeiten. Sondern eher daran, dass mich die Qualitätskinomerkmale seiner textuellen Oberfläche - das am psychologischen Realismus orientierte Schauspiel, die etwas allzu geschmackvolle Rekonstruktion von Lebenswelt, ganz besonders der lieblich durch die Bilder flirrende Soundtrack von Sufjan Stevens - immer wieder von seinem emotionalen Kern abgelenkt haben. Die stärksten Momente des Films sind hingegen die, in denen er ganz in einer Mise-en-Scene der Liebe aufgeht. Die Choreografie zweier gleichzeitig begehrender und gehemmter Körper wird von Sayombhu Mukdeeproms Kamera derart filigran aufgelöst, dass immer wieder neue, überraschende Mischverhältnisse von Nähe und Distanz entstehen. In einer der schönsten Szenen umkreisen die beiden Hauptfiguren auf einem Dorfplatz in gegenläufiger Richtung ein hoch aufragendes historisches Monument, das dem Heroismus italienischer Soldaten gewidmet scheint. Gerade dieses massive, staatstragende Hindernis ermöglicht es Elio, seine Gefühle erstmals offen zu artikulieren.

Lukas Foerster

Call Me By Your Name - Italien 2017 - Regie: Luca Guadagnino - Darsteller: Timothée Chalamet, Armie Hammer, Michael Stuhlbarg, Amira Casar, Esther Garrel, Victoire Du Bois - Laufzeit: 132 Minuten.

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Vietnam, 1966: eine US-Patrouille gerät unvermittelt unter Feuer, Panik macht sich breit. Daniel Ellsberg, ein junger Mitarbeiter der konservativen Rand Corporation, kann aus nächster Nähe mit ansehen, wie die Realität des Krieges unter den Teppich gekehrt wird. Auf dem Flug zurück wird Ellsberg von Verteidigungsminister Robert McNamara um eine Einschätzung darüber gebeten, ob sich die Lage für die USA gebessert habe. Ellsberg spricht stockend von Stagnation. Geradezu triumphierend erklärt McNamara daraufhin einem Berater von Präsident Nixon, dass dies angesichts von immer mehr Soldaten, die gen Vietnam geschickt werden, einer Verschlechterung gleich kommt. Nach der Landung hört Ellsberg im Weggehen, wie McNamara den Journalisten erklärt, die Lage habe sich gebessert. Kurz darauf wird Ellsberg Papiere des US-Verteidigungsministeriums an die großen amerikanischen Zeitungen schicken, die offenlegen, dass die wirkliche Situation des Vietnamkriegs der Regierung seit Jahren bekannt ist.

Autorin Liz Hannah kombiniert in ihrem Drehbuch zu "Die Verlegerin", dem neuen Film von Steven Spielberg, die oft erzählte Geschichte der Pentagon Papers mit dem Aufstieg der Washington Post vom Regionalblatt zu einem der Leitmedien der USA. Gemeinsam mit Ko-Autor Josh Singer entwickelte Hannah auf der Basis der Autobiografie der Washington-Post-Verlegerin Katharine Graham eine Vorlage, die die beiden Themen zu einem hochaktuellen Drama um Pressefreiheit, Machtstrukturen und Geschlechterverhältnisse zusammenführt.

Hinter Bergen von Akten büffelt Katherine Graham (Meryl Streep) für die eine entscheidende Sitzung mit potentiellen Investoren. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie die Zeitung gemeinsam mit einer Schar von Beratern weitergeführt. Nun steht eine einschneidende Entscheidung an: als Regionalzeitung ist die Washington Post schwer angeschlagen, aber eine Zukunft als landesweites Blatt böte die Aussicht auf einen Weg aus den roten Zahlen. Trotz eines Aussetzers Grahams sagen die Investoren zu, behalten sich jedoch vor, bei unvorhersehbaren Ereignissen die Zusage zurückzuziehen.



Just in diesen Tagen beginnt die New York Times auf der Basis der Pentagon Papers eine spektakuläre Geschichte nach der anderen zu veröffentlichen. Die Klage der Regierung wegen Geheimnisverrats folgt auf dem Fuße. Dennoch dringt der Chefredakteur der Washington Post, Ben Bradlee (Tom Hanks), darauf, sich den Veröffentlichungen anzuschließen. Graham zögert zunächst, da neben der juristischen Auseinandersetzung der Verlust der gerade erst gesicherten Investitionen droht. Während ihre Berater Graham drängen, die Investitionen nicht aufs Spiel zu setzen, setzt Bradlee auf die Bedeutung der Veröffentlichungen und das Prestige, das sich die Zeitung damit erwerben könnte. Graham entscheidet sich für die Veröffentlichung. "Die Verlegerin" verknüpft die Selbstbefreiung Grahams als Verlegerin mit dem Aufstieg der Washington Post und mit einem Gerichtsdrama um die Abwägung zwischen dem Schutz von Regierungsgeheimnissen, dem öffentlichen Recht auf Information und der Freiheit der Presse.

Gemeinsam mit seinem Dreamteam aus Kameramann Janusz Kamiński, Produzentin Kristie Macosko Krieger und Filmkomponist John Williams stärkt Steven Spielberg die Historizität der Erzählung und die Verweise in Richtung Gegenwart gleichermaßen. Gedreht mit altem Kameraequipment auf analogem Film zelebriert Spielberg auch in "Die Verlegerin" seine Vorliebe für manuelle Verrichtungen: Zeitungen werden aus Lieferwagen geworfen, große Knöpfe gedrückt, die die Druckerpresse in Gang setzen, Bleilettern in Satzrahmen arrangiert. In einer Anhörung des Supreme Court markiert Spielberg den Unterschied zwischen der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Washington Post in den riesigen Hallen des Gerichts auf der einen und dem Vorgeplänkel zwischen Graham und einer Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft in den Gängen zuvor auf der anderen Seite. Individuelle Allianzen und institutionelle Konfrontation schließen sich nicht aus.

Doch zugleich bricht Spielberg mit seinen eigenen inszenatorischen Gewohnheiten und Raumkonzepten. Nahezu alle Spielberg-Filme - von "Der weiße Hai" bis "Bridge of Spies" - sind um Männerrollen herum gebaut. Die Familien sind diesen Männern der Rückzugsraum aus dem öffentlichen Leben, in dem die jeweilige Ehefrau das Chaos im Zaum hält und emotionalen Rückhalt bieten. In "Die Verlegerin" füllt mit Katherine Graham erstmals eine Frauenfigur diese Rolle im Spielberguniversum. Graham macht nach und nach die holzgetäfelten Sitzungsräume, die Räume der Börse, die Hallen des Gerichts zu ihren Räumen. Eine sichtbare Emanzipation, deren Vorbildfunktion Spielberg und Kamiński in einer einfachen Einstellung erfassen: auf dem Weg aus dem Gebäude des Supreme Court geht Graham durch ein Spalier junger Frauen, die voller Bewunderung auf sie blicken. Grahams männliche Begleiter scheinen in diesem Moment in der Masse unterzugehen. Eine Szene, die direkt aus dem historischen Setting in die Gegenwart hineinspricht.

"Die Verlegerin" bringt die Vorzüge einer komplexen Vorlage und Spielbergs Fähigkeiten zur Einfachheit auf vortreffliche Weise in Balance. Der Film hätte leicht ein politischeres Traktat werden können, um den Preis, in der Nische zu bleiben. Mit Spielberg als Regisseur wird aus dem hervorragenden Drehbuch ein bisweilen pathetisches, doch deshalb nicht weniger ergreifendes Plädoyer für Pressefreiheit, Sorgfalt der Berichterstattung und das Aufsprengen der von Männern besetzten Räume.

Fabian Tietke

Die Verlegerin - OT: The Post - Regie: Steven Spielberg - Darsteller: Meryl Streep, To Hanks, Sarah Paulson, Bob Odenkirk, Tracy Letts, Bradley Whitford - Laufzeit: 116 Minuten