Im Kino

Ein Gebetbuch, ein Gutenachtkuss

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Lukas Foerster
28.06.2017. Albert Serra bringt in seinem Film "La mort de Louis XIV." leichthändig den Sonnenkönig des 17. Jahrhunderts mit Jean-Pierre Leaud, dem König der Nouvelle Vague, zur Deckung. Sofia Coppola blickt mit den Augen der "Verführten" auf einen verwundeten Soldaten, der während des amerikanischen Bürgerkriegs Zuflucht in einem Mädchenpensionat findet.


Nur in den allerersten Einstellungen des Films atmet Louis XIV. (Jean-Pierre Leaud) frische Luft. Der alte, schwerkranke König wird durch jene Gärten des Schlosses von Versailles geschoben, die der Herrscher einst selbst hatte anlegen lassen. Ein anderer, komplementärer Film über sein Leben, Roberto Rossellinis "Die Machtergreifung Ludwigs XIV.", hatte einst gezeigt, wie sich die symmetrische Anlage dieses weltberühmten Parks in eine gartenbauliche Manifestation eines zentralperspektivisch organisierten Systems absolutistischer Herrschaft fügt. In Albert Serras "La mort de Louis XIV." schimmern dagegen lediglich ein paar blassrosa Blüten in verwischtem Grün. Der Sonnenkönig blickt sich leicht verwirrt um, reist kurz den Mund auf - eine ebenso hilf- wie sinnlose Geste, die an einen Fisch erinnert, der auf dem Trockenen sitzend nach Luft schnappt - und lässt sich von seinen Bediensteten wieder abtransportieren.

Gleich die nächste Einstellung etabliert die visuelle Anordnung, die den restlichen Film dominieren wird: Im Vordergrund liegt Louis, im Hintergrund öffnen sich die Gemächer des Königs. Zumeist ist das so gefilmt, dass Louis' Kopf sich am rechten Bildrand befindet, aufgenommen im Profil. Sein Blick geht nicht mehr in die Tiefe des Raums, hinaus in das Weltreich, das er kontrolliert, das er deshalb kontrollieren kann, weil er es ganz auf sich, in gewisser Weise sogar auf seinen Blick zugeschnitten hat; sondern er verläuft quer über die Leinwand, entlang des eigenen, stillgestellten Körpers. Den er gerade nicht, ganz und gar nicht kontrollieren kann. Kaum zwei Schritte kann er ohne Hilfe gehen, das Essen muss ihm zum Mund geführt werden, und auf dem linken Bein zeigen sich verdächtige schwarze Flecken. Selbst die Augen, die ihm vom eigenen Verfall Zeugnis geben, sollen durch gläserne Attrappen ersetzt werden.



Nach dem Prolog verlässt die Kamera die Innenräume des Palasts kein einziges Mal. Einmal blickt sie durch ein vergittertes Fenster ins Freie, angezogen von den Klängen eines Umzugs, die auch den ans Bett gefesselten König, der sich freilich selbst nicht mehr ans Fenster bewegen kann, agitieren: Irgendwo da draußen ist Leben, ist ein Volk, hier drinnen aber ist nur der Tod. Die Amtsgeschäfte gehen zwar weiter, uneingeschränktes Staatsoberhaupt bleibt Louis bis zum letzten Atemzug, aber von den sinnlichen Dimensionen der Herrschaft ist er komplett abgeschnitten. Von den aufwändig zubereiteten Mahlzeiten bekommt er kaum einen Bissen herunter, wenn er kichernd die Schönheit und "Diskretion" der Hofdamen kommentiert, weiß er, dass für ihn mehr als ein Handkuss nicht mehr drin sein wird; selbst seine Windhunde werden kaum noch in die Gemächer gelassen (einmal aber doch, früh im Film - das ist eine unfassbar rührende Szene: wie der für einmal wieder ganz zum enthusiastischen Leben erweckte Louis das Hecheln seiner Lieblingstiere nachahmt).

Um den König herum schwirrt bald nicht mehr der ganze, ausladende Hofstadt; sondern nur noch ein medizinisches Beratungsteam. Irgendwann wird ein Wunderheiler engagiert, der ein fadenscheiniges Serum im Gepäck hat. Alles dreht sich darum, den körperlichen Verfall zu verlangsamen, den königlichen Organismus zu überwachen und irgendwie am Laufen zu halten. Das ist deswegen ein perfektes Sujet für Serra, weil das Kino des Spaniers seinen Ausgangspunkt schon immer genau hier genommen hat: beim bloßen Registrieren der Schauspieler, beim Abdruck, den der gefilmte menschliche Körper inzwischen nicht mehr auf dem photochemischen Emulsion, sondern in der Datenstruktur eines Specherchips hinterlässt. Dass das Kino eine Möglichkeit gefunden hat, Menschen im Bild festzuhalten, lebendig einzubalsamieren und einem Publikum als eine Gegenwärtigkeit vozuführen: Das ist das Wunder, das Serras Filme jedes Mal aufs Neue entdecken, staunend und neugierig.

"La mort de Louis XIV." ist der reinste und reduzierteste, gleichzeitig aber der zugänglichste Film Serras. Insbesondere, weil sich die minimalistische Mise-en-scene als äußerst flexibel erweist: Obwohl eigentlich durchweg nichts anderes zu sehen ist als alte Männer mit gepuderten Gesichtern und absurd aufgebauschten Perücken, ist "La mort de Louis XIV" in gleichem Maße eine deadpan-Screwball-Komödie (deren unausgesprochene Pointe fast durchweg der wissenschaftliche Fortschritt darstellt, der als Ahnung bereits in der Luft zu liegen scheint, aber von Louis' Hofstaat noch nicht dingfest gemacht werden kann), ein den Atem abschnürender Medizinthriller, eine hypnotische Meditation über politische (Ohn-)Macht. Und, vor allem anderen, eine Totenmesse.

Das eigentliche Wunder von Serras Kino war schon immer, dass seine Filme bei dem in ihrem minimalisistischen Rigorismus ans frühe Kino, an die Aktualitäten der Lumiere-Brüder erinnernden dokumentarischen Impuls nicht stehen bleiben. Fast im Gegenteil scheint es dem Spanier darum zu gehen, dessen Grenzen zu erproben, die Authentifizierungsfunktion des filmischen Bilds einem Belastungstest zu unterziehen. Oder auch: sie zu negieren und in der Negation doch wieder zu triumphieren zu lassen. Zum einen geschieht das durch Fiktionalisierung - alle Filme des Regisseurs arbeiten nicht einfach nur mit Figuren, sondern mit historischen Persönlichkeiten, die fast schon zur Legende erstarrt sind. Serra, der vorher unter anderem Don Quixote, die Heiligen Drei Könige und in einem denkwürdigen monster mash up Casanova und Dracula ins Bild setzte, dreht materialistische Historienfilme - nicht etwa deshalb, weil er die Existenzbedingungen vergangener Epochen nachstellen würde; sondern weil er sich wieder und wieder am Problem der Verkörperung abarbeitet. Im Fall von "La mort de Louis XIV." ist das besonders eindrücklich: Ist es wirklich möglich, den Sonnenkönig des 17. Jahrhunderts mit Jean-Pierre Leaud, dem König der Nouvelle Vague zur Deckung zu bringen? Ja, das ist möglich, das Kino (und nur das Kino) kann das. Der Beweis liegt in jeder aufgezeichneten Bewegung, jedem röchelnden Atemzug.



Oder auch: in jeder filmischen Geste. Serras affirmierende Negation des Dokumentarischen manifestiert sich zuallererst in der visuellen Form. Nicht das Geringste haben die Filme zu tun mit den derzeit geläufigen Rhetoriken der Authentizität, mit Handkamera-Unmittelbarkeit oder Low-Tech-Artefakten. Jedes Bild ist exakt als Bild ausgearbeitet, Kamerabewegungen sind auf ein Miminum reduziert, der Fokus liegt auf Gesichtern, die von der Kamera geduldig, fast bildhauerisch bearbeitet werden. Wenn man sich "La mort de Louis XIV." ansieht, hat man den Eindruck, dass das breite Cinemascope-Format ausschließlich dafür erfunden wurde, um Jean-Pierre Leauds ausgestreckten Körper zu filmen; die einzigartige Textur der innerlich glühenden, mit Vorliebe im rötlich-schwarzen Spektrum oszillierenden Bilder dürfte wiederum viel damit zu tun haben, dass Serra wie schon im genauso umwerfenden Vorgängerfilm "Historia de la meva mort" (das ist der Casanova-Dracula-Film) eine eigentümliche Mischung alter und neuer Filmtechnik nutzt: Die ursprünglich digital gedrehten Bilder wurden in der Postproduktion analog ausbelichtet.

Die Frage, welche Effekte dieses Verfahren exakt zeitigt, sei den Experten überlassen. Ich habe zumindest den Eindruck, dass Serras Film sich, wenn er in einigen Passagen fast komplett zum Stillstand kommt, erstaunlicherweise weniger der Fotografie als der bildenden Kunst angleicht. Der ausgestreckte Leaud im abgedunkelten Schlafgemach, am Fußende des Bettes ein Arzt, der sich über den Problemfuß beugt - das Bild könnte so auch im Museum hängen; nur das rhythmische Heben der königlichen Bauchdecke verwandelt das Gemälde in Kino. Und irgendwann hebt sich die Bauchdecke eben nicht mehr. Das wäre dann die finale, bittere Pointe des Films: Das Kino ist gerade dann, wenn man es als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Entlebendigungsmaschine.

Lukas Foerster

La mort de Louis XIV - Spanien, Frankreich 2016 - Regie: Albert Serra - Darsteller: Jean-Pierre Leaud, Patrick d'Assumçao, Marc Susini, Bernard Belin - Laufzeit: 115 Minuten.

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In Interviews sagt Sofia Coppola über ihren sechsten Langspielfilm "Die Verführten" immer dasselbe: sie habe die weibliche Perspektive auf das 1971er Drama "The Beguiled" von Don Siegel interessiert, in dem Clint Eastwood als schwer verwundeter Union-Soldat im US-Bürgerkrieg von den letzten verbliebenen Bewohnerinnen einer Mädchenschule im Süden aufgenommen wird. Die weibliche Perspektive nimmt sie in ihrer eigenen Version tatsächlich ein. Trotzdem ist es nicht leicht zu sagen, was genau die Regisseurin an ausgerechnet diesem Stoff interessiert. Aber das schmälert nicht den Reiz des von Schweißtröpfchen benetzten Southern Gothic-Dramas.

"Die Verführten" ist ein radikaler Sofia-Coppola-Film. Mit Kirsten Dunst und Elle Fanning hat sie aus früheren Zusammenarbeiten bekannte Schauspielerinnen besetzt. Eine Gruppe Mädchen und Frauen sind im Bundesstaat Virginia des Jahres 1863, im dritten Jahr des Bürgerkriegs, isoliert von der Außenwelt. "We haven't anywhere else to go", sagen sie, und harren aus in ihrem zweistöckigen Plantagenhaus inmitten eines verwachsenen Gartens. Von schmiedeeisernen Toren vor den Soldaten geschützt, fernes Kanonengrollen als permanente Geräuschkulisse. Die Schuldirektorin Martha (Nicole Kidman) und die Lehrerin Edwina (eine überaus verhärmte Kirsten Dunst). Dazu Alicia (Fanning), eine Schülerin im Teenageralter und einige jüngere Klassenkameradinnen. Gleichzeitig ist "Die Verführten" aber auch der bisher wohl untypischste Sofia-Coppola-Film: genrelastiger Gore, mit Gothic-Horror-Elementen. Keine Chucks im Schuhschrank. Keine Außenwelt im Kontrast zum Eingesperrtsein. Wobei sich Amy (Oona Laurence) am Anfang verbotenerweise vom Grundstück stiehlt, um Pilze zu sammeln. Dabei findet sie John McBurney (Colin Farrell), einen verwundeten Corporal der gegnerischen Armee, der nach kurzem Hin und Her ins Haus aufgenommen wird. Aus christlicher Nächstenliebe, versteht sich.

In Filmen wie "The Bling Ring" oder "The Virgin Suicides" hatte Coppola die Verbindung unter ihren Figuren idealisiert, die Freundschaft oder Schwesternschaft zum stärksten verbindenden Element, zur Zuflucht oder gar zur Waffe erhoben. Die Frauen in "Die Verführten" stehen nicht in so engen Verhältnissen zueinander. Ihre Konstellation gleicht eher einer Schicksals-, vielleicht auch einer Zweckgemeinschaft, mit Miss Marthas Wort ("Yes, Mam") als oberstem Gesetz. Sie sehnen sich nach der Außenwelt und streben ihr doch nicht aktiv entgegen - wie der Film selbst, der im Gegensatz zum Vorgänger konsequent auf Flashbacks und Archivmaterial und fast gänzlich auf Exkurse außerhalb der Gartentore verzichtet. Sie leiden unter dem Krieg und reden doch nicht über ihn und seine Konsequenzen. "Die Sklaven sind gegangen", bleibt der einzige Satz, der zur Sprache bringt, warum es in "Die Verführten" ausschließlich Weiße gibt. Sofia Coppola konzentriert sich auf die Dynamik dieser wenigen Figuren untereinander, verknappt Momente der Eskalation und zielt auf die Zwischenstadien.



Die Kamera liebt Colin Farrells Haut mit den kräuseligen Brusthaaren, kriecht ganz nah an ihn heran. Ob Miss Martha, während sie ihn behutsam wäscht, vor Hitze oder Wollust keucht, macht gar keinen Unterschied. Nach und nach trauen sich auch die anderen Frauen der Mädchenschule in das stets abgeschlossene Musikzimmer mit dem feindlichen Soldaten. Sie bringen ihm Wasser, ein Gebetbuch, einen Gutenachtkuss, werden immer mehr zu Konkurrentinnen um seine Gunst. Die anfangs hochgeschlossenen Baumwollblusen weichen freigiebigeren Abendkleidern und schließlich sogar leichten Nachthemden, bis sich das schrittweise Entblättern infolge einer schicksalhaften Nacht wieder in sein Gegenteil verkehrt. Aber es wäre falsch, "Die Verführten" als einen Film zu bezeichnen, in dem sich Frauenfiguren gegenseitig zerfleischen. In Extremsituationen beraten sie, wie mit McBurney zu verfahren ist. Entscheidende Impulse kommen dabei meist von den jüngsten Mädchen, gehandelt wird gemeinsam.

Eine Melodie schwebt über den Bildern, manchmal monoton, manchmal flirrend, die an Popol Vuhs Musik in den Filmen von Werner Herzog erinnert. Geschrieben von der Band Phoenix (Leadsänger Thomas Mars ist seit 2011 Coppolas Ehemann) basiert sie auf Monteverdis Magnificat, dem großen Revolutionslied der Bibel, das Lukas in seinem Evangelium ausgerechnet einer Frau in den Mund legte. Maria beschwört darin den Sieg der Armen auf Kosten der Reichen. Ohne überdurchschnittliche musikalische Bildung ist diese Referenz in den gedehnten Klängen kaum auszumachen, es braucht den Verweis im Abspann. Aber das passt zu "Die Verführten", einem Film ohne allzu klare Agenda. Es stellt sich noch nicht einmal ein sicheres Gefühl für das herrschaftliche Gebäude ein, in dem er sich für immerhin anderthalb Stunden fast ausschließlich aufhält. Dank des Blicks aus dem Fenster ist manchmal ein Raum im oberen Stockwerk zu verorten und das Musikzimmer findet sich am unteren Fuß der Treppe. Sonst scheinen die einzelnen Zimmer für sich, losgelöst voneinander zu existieren. Immer wieder stehen die Mädchen auf der Terrasse, schauen durch ein Fernrohr nach Soldaten. Oder sie drängen sich an den Fenstern, spähen hinab in den Garten, vor das Tor. Die Kamera tut es ihnen gleich, blickt mit ihren Augen durch das unebene Glas hinaus in die dicht bewachsene Umgebung. Sonnenstrahlen, manchmal auch der Mondschein, fallen durch das moosbehangene Geäst, durch Dunstschwaden. Im Gegensatz zu Sofia Coppolas früheren Arbeiten ist "Die Verführten" weniger ein Film der spiegelnden Oberflächen als vielmehr ein Film der absorbierenden Texturen.

Katrin Doerksen

Die Verführten - USA 2017 - OT: The Beguiled - Regie: Sofia Coppola - Darsteller: Colin Farrell, Nicole Kidman, Kirsten Dunst, Elle Fanning, Oona Lawrence - Laufzeit: 93 Minuten.