Im Kino

Die Sonne brennt erbarmungslos

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
07.08.2013. Ein unzuverlässiger Erzähler bereitet in Gore Verbinskis "Lone Ranger" die Mythen des klassischen Westerns neu auf. Danny Boyles Thriller "Trance" zelebriert mit einigem Stilwillen aseptische Obsessionen.

Der Mythenvorrat des alten, des wilden Westens ist längst geplündert, ausgestopft, familienfreundlich inventarisiert und aufbereitet. Strahlende Helden in sauberen Hemden reiten durch die Prärie, kleine Jungs kleiden sich in samtene Cowboy-Uniformen - alles warenförmig geronnen, losgelöst von der existenziellen Erfahrung des nation building auf der einen, der nahezu völligen Zerstörung indigener Kulturen auf der anderen Seite. Der wilde Westen als Ausstellungsstaffage: So stellt sich die Situation dar, als der "Lone Ranger" - die Figur aus der Popgeschichte, nicht dieser Film - erstmals in Erscheinung tritt, zunächst in Radio-Hörspielen (Wikipedia spricht von knapp 3000 Episoden!), dann in einer Fernsehserie. Es ist eine Figur, die vom motivischen und ästhetischen Bruch im Genre, der spätestens mit den italienischen Western der 60er auf dramatische Weise kenntlich und bestimmend wurde, noch völlig unbeleckt ist. Der zorro-artig maskierte Held kämpft für das Gute, ein Indianer steht ihm aus Gründen der Ehre verbunden zur Seite. Ganz ohne grobes Textil und Schmutz und Grind, dafür mit der jecken Wilhelm-Tell-Ouvertüre im Gepäck (seitdem in den USA kaum noch mit Schweizer Nationalhelden in Verbindung gebracht), bestreitet ein Westerner buchstäblich aus dem Bilderbuch so manches Abenteuer.

Es ist aber auch die Situation, mit der "Lone Ranger" - jetzt tatsächlich Gore Verbinskis Western, sein zweiter Versuch, nach dem Piratenfilm "Fluch der Karibik" ein zu den Akten gelegtes Trivialfilm-Konzept mit den Mitteln des Blockbusters ins heutige Kino zu transponieren - in Form einer Rahmung anhebt: Da streift ein kleiner, cowboyhut- und spielzeugpistolen-bewährter Junge des noch jungen 20. Jahrhunderts staunend durch eine jahrmarktförmige Ausstellung, die den alten Westen in einer Doppelbewegung heranholt und, durch ihre leblos geronnene Gestalt, auf Distanz bringt. Sogar einen ausgestopften Indianer von methusalem-artigem Äußerem hat man... … doch halt, die Figur, so unwahrscheinlich es auch klingt, blinzelt, lebt, fängt, wenn auch wirr, zu erzählen an, gibt sich als Johnny Depp unter Falten werfendem Seniorenlatex, mithin als Tonto, der treue Begleiter des "Lone Rangers", zu erkennen. Der Tonto? Der Lone Ranger? So gebannt wie ungläubig hört der Junge zu, gebannt halluziniert das Publikum vom alten Westen, den dieser unzuverlässigste Erzähler der aktuellen Blockbuster-Saison zahnlos und johnny-depp-wirr murmelnd heraufbeschwört.


Im frühen 21. Jahrhundert ist vom Rohstoff der zentralen Kinomythen des frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr ohne weiteres zu erzählen. Verbinski wählt eine erzähltechnische Verschachtelung, die - vielleicht ähnlich wie die besten Folge der Sitcom "How I met your Mother" - stets kenntlich macht, dass man den Bildern und erst recht dem Handlungsablauf niemals trauen kann, und sich gleichzeitig als Amalgam sowie als zur Filmgeschichte verhaltende Positionierung zu erkennen gibt. Um eine bloße Reprise fernsehnostalgischer Kindheitserinnerungen handelt es sich gerade nicht, vielmehr gibt sich "Lone Ranger" in vielerlei Belangen als drastische Umformung des Stoffs zu erkennen, schon auch, weil nun Tonto - natürlich schon aus Gründen der Star-Ökonomie: einen Johnny Depp setzt man nicht einfach in der zweiten Reihe ab - dem Filmtitel zum Trotz die Hauptfigur darstellt, die zudem zur alten Tonto-Figur, vom Namen abgesehen, kaum noch ein Verhältnis unterhält. War diese noch ein nobler Wilder von stoischem Gemüt, ist Depps Tonto eine auch maskentechnisch recht bizarre Figur - der Ästhetik heutiger urban-primitivistischer Subkulturen näher als den alten Westernstoffen mit ihren grinsenden Helden aus der Zahnpastawerbung. Ein solcher durch und durch ist Armie Hammers Lone Ranger, doch ist er als handelndes Subjekt in dieser Geschichte entthront: Ganz im Gegenteil ist er als zu Beginn reichlich naiver Staatsanwalts-Aspirant mit hochphilosophisch begründeten Idealen von der zivilsierenden Kraft gerecht gesprochenen Rechts in der Frontier-Welt, die "Lone Ranger" zeigt, mit seinem Buchstabenwissen herzlich deplatziert. Wie jeder gute Held muss auch er erst einen Tod sterben, um als Held wiedergeboren zu werden - dies in einer Geschichte, die vor allem Tontos Rache an einem Haufen Gangster mit ganz wunderbar widerwärtigen Visagen fokussiert.

Was sich in Tontos Gesicht abzeichnet - die Liebe zur Krustentextur, zum Detail von Riss und Schmutz - gilt für den ganzen Film, der eine in Schmutz und Staub erstarrte Welt zeigt, in der sich die lebensweltlichen Vorzüge der Zivilisation in nur wenigen Nischen zeigen. Eindeutig steht "Lone Ranger" diesseits einer von der Achse des Italowestern zweigeteilten Filmgeschichte und blickt von dort zur anderen Seite hinüber. Und zumindest ästhetisch ist das für den Westernliebhaber - ganz anders als Tarantinos zumindest halb missratener "Django Unchained" - ein gewaltiges Geschenk: Die Landschaften sind weit, die Canyons tief, die Dampfloks schön und die Sonne brennt dazu erbarmungslos vom Himmel, während der Score des im heutigen Hollywoodkino leider unvermeidlichen Hans Zimmer immerhin immer wieder von den eigenen fürchterlichen Klangsignaturen absieht, um sich von Ennio Morricone inspirieren zu lassen. Sogar ein, zwei Bildzitate aus Alejandro Jodorwoskys bizarrem Acid-Western "El Topo" gibt die Recherchetiefe her. Und wer völlig begeistert ist, sieht im finalen Konflikt - in dem es um den unguten Filz zwischen Ressourcen-Raubbau, Landerschließung, Militär und Kapitalismus geht - womöglich einen versteckten Seitenhieb auf den letzten großen Krieg der USA.

Was Verbinskis letzten Piratenfilmen zum Vorwurf gemacht wurde - das Durcheinander einer an unübersichtlichen Actionszenen besoffenen, unbalancierten Gemengelage -, trifft auf "Lone Ranger" nicht zu: Geschichte, Atmosphäre, Action verhalten sich ausgewogen zueinander - lediglich der operettenhafte Showdown liefert in seinem auch parodistischem Überschuss zuviel des nicht mehr Guten. Dass Johnny Depp seine Nummer des wirren Narren nach vier Jack-Sparrow-Auftritten ziemlich mechanisch runter rasselt, sei dabei glatt verziehen. Der eigentliche Star dieses Films bildet sich aus dem Genre, dem Dekor, der Landschaft - im Grunde: Kintopp. Ein schöner Abenteuerfilm.

Thomas Groh

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"Rembrandt is in the painting", meint Simon (James McAvoy) anfangs. Im 1990 gestohlenen Gemälde "Christus im Sturm auf dem See Genezareth" macht er, gemeinsam mit der Filmkamera, den Maler ausfindig, wie er auf dem von ihm selbst gezeichneten Schiff steht und den Betrachter anblickt. Dass es im Film im Weiteren um den Diebstahl eines ganz anderen Bildes, nämlich eines weit weniger genau inspizierten und interpretierten Goya-Meisterwerks, geht, ist nur eine von vielen Irritationen, die Danny Boyles neuer Film "Trance" aufwirft, ohne, dass man jeweils wüsste, ob da nun System dahintersteckt, oder ein missratenes Drehbuchlektorat. Simon, der zunächst über Autorenschaft und ihre Repräsentation sinniert, ist jedenfalls Teil des Wachschutzes eines Auktionshauses - und, wie sich bald herausstellt, gleichzeitig Teil einer Diebesbande, die am selben Ort einen Coup plant. Der verläuft zuerst nach Plan, allerdings stellt sich hinterher heraus, dass Simon seinen Mitstreitern, scheinbar ohne selbst zu wissen, wie das passieren konnte, einen Bilderrahmen ohne Inhalt angedreht hat. Der Goya selbst bleibt verschwunden. Die Suche führt in Simons Kopf hinein: Eine amerikanische Psychologin namens Elizabeth (Rosario Dawson) soll die Blockade im Gedächtnis des Diebes lösen, per Hypnose.

Vermutlich möchte Boyle, dass man die Inhaltsangabe an dieser Stelle so fortsetzt: "Aber Elizabeth findet in Simons Kopf mehr, als allen Beteiligten lieb ist und die Ereignisse geraten außer Kontrolle". Das wäre vorderhand richtig, dann aber auch wieder grundfalsch. Denn es ist gerade das Nebeneinander von ausgestelltem Kontrollverlust und gleichzeitiger, ungehemmter Kontrolllust, das diesen eigentlich gründlich gegen die Wand gefahrenen Film immerhin interessant macht. Pate standen wohl ursprünglich die abgründigen, obsessiven Thriller Alfred Hitchcocks und Brian de Palmas. Wenn sich Trance komplett anders anfühlt als diese Vorbilder, dann liegt das vielleicht an der speziellen Form von Obsessivität, die Boyle vorführt. Werke wie Hitchcocks "Marnie" oder de Palmas "Femme Fatale" handeln von Obsessionen, die ihren Ursprung nominell in einer fiktionalen Figur haben mögen, die aber schnell auf den gesamten Film übergreifen und ihn gründlich aus dem Gleichgewicht bringen: infektiöse Obsessionen sind das, die die Kohärenz der klassischen Dramaturgie zersetzen und sich in extravaganten, in jeder Hinsicht unverhältnismäßigen set pieces ausagieren.

Boyles Obsessionen bleiben dagegen steril, aseptisch (nicht umsonst heftet sich eine von ihnen an die weibliche Schamhaarrasur), haben klar definierbare Grenzen, werden nicht übergriffig: "Trance" ergibt handlungstechnisch noch weniger Sinn als die durchgeknalltesten De-Palma-Filme, schnurrt jedoch stets fleißig vor sich hin, eilt atemlos von einer absurden Plotwendung zur nächsten. Angetrieben wird der Film von aufdringlichen elektronischen Beats, die Rick Smith zusammengebaut hat, der seinerseits eine Hälfte des Elektronic-Duos Underworld ist und schon bei "Trainspotting" mit Boyle zusammengearbeitet hatte. Die typisch-stumpfe Wucht des Underworld-Sounds läuft im neuen Film allerdings auf seltsame Art ins Leere.


Der Wille zur Stilisierung jeder einzelnen Einstellung ist unverkennbar; das beginnt bei erratisch ausgewählten Bildausschnitten und endet noch lange nicht bei der absurd überdimensionierten Inneneinrichtung, die das Leben in jenem corporate London, in dem der Film spielt, zu dominieren scheint (der öffentliche Raum zerrinnt einem unter den Fingern, der private bekommt etwas derart Monströses, dass man sich fast schon im eigenen Appartment zu verlaufen droht). Ein Film wie eine Serie von Fetischbildern, denen das Fetischobjekt abhanden gekommen ist: Die gülden leuchtende Illumination, die sich in der Eingangsszene über den Protagonisten legt, woher kommt die? In der gleichermaßen digitalisierten und säkularisierten Welt von "Trance" kann sie eigentlich weder physischen noch metaphysischen Ursprungs sein. Vielleicht schaut in solchen Momenten Boyle aus seinem Film heraus, wie Rembrandt aus seinem Bild: eine Inskription von Autorenschaft in das Werk, die in diesem Fall allerdings zur leeren grafischen Geste verkommt.

Passend dazu dieser Protagonist selbst, die wandelnde Leerstelle im Zentrum des Films; auch de Palma hat eine Vorliebe für Schauspieler, die auf den ersten Blich etwas bland, charakterlos rüberkommen. Aber bei aller Milchbubihaftigkeit sind sie doch alle, von John Travolta über Craig Wasson bis Antonio Banderas, neugierig und mit eher dümmlichem Grinsen der Welt zugewandt. James McAvoy wirkt dagegen wie ein verstockter Junge, der alles, was sich außerhalb seiner eigenen kleinen Welt befindet, bestenfalls als Schattenspiel erlebt, das sich auf einer transparenten Wand abzeichnet (wie in einer der interessantesten Einstellungen des Films). Der Rest des Casts, allen voran ein etwas zu souveräner Vincent Cassel und eine nuanciert agierende Rosario Dawson - deren in einer Szene äußerst freizügiges Auftreten für einen kleinen Skadal gut war; Boyle filmt die entsprechende Einstellung allerdings mit derselben slicken Indifferenz wie den gesamten restlichen Film -, versucht mit fast schon sozialarbeiterischer Geduld, diese weiche, zurückweichenden Gesichtszüge auf irgendetwas festzulegen; und sei es nur auf den in allen Figuren verborgenen Zynismus. Das Problem an der Sache ist, dass ihnen das schließlich tatsächlich gelingt.

Seine offensichtlichen Vorbilder verfehlt der Film nicht aufgrund seiner allerdings unübersehbaren Unterlegenheit in Sachen filmischer Intelligenz, sondern aufgrund eines grundsätzlich anderen Menschenbilds (die Differenz entspricht nicht vollständig, aber der Tendenz nach der zwischen der freudolacanianischen Psychoanalyse und rein funktional orientierten kognitivistischen Modellen). Bei Hitchcock und seinem besten Hermeneuten de Palma bleibt die Psyche jedes einzelnen Menschen ein Fass ohne Boden, eine undurchsichtige Gemengelage, der man höchtens einzelne, bizarre Splitter entlocken und dann wie Exponate einer Ausstellung isoliert vorführen kann. Für "Trance" ist Innerlichkeit dagegen etwas, das man, ähnlich wie in "Inception" von Christopher Nolan, einem Boyle ideologisch deutlich näher stehenden Regisseur, erkunden und umgestalten kann wie ein Bauwerk. Eine Psychose resultiert nicht mehr in einem, in letzter Instanz unwiderruflichen, Bruch mit dem Realitätsprinzip, sondern lediglich in einem etwas barocker ausgeformten Bauwerk.

Lukas Foerster


The Lone Ranger - USA 2013 - Regie: Gore Verbinski - Darsteller: Johnny Depp, Armie Hammer, William Fichtner, Tom Wilkinson, Ruth Wilson, Helena Bonham Carter, James Badge Dale - Laufzeit: 149 Minuten.

Trance - GB 2013 - Regie: Danny Boyle - Darsteller: James McAvoy, Vincent Cassel, Rosario Dawson, Dany Sapani, Matt Cross, Wahab Sheikh, Mark Poltimore, Tuppence Middleton - Laufzeit: 101 Minuten.