Im Kino

Auf eine Weise universell

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
20.05.2016. Cannes vor der Wahl: Es gibt wieder Filme, die Grenzen sprengen und die dennoch ein Publikum finden können. Neue Produktionen von Xavier Dolan, Christian Mungiu und den Dardenne-Brüdern machen es der Jury nicht einfacher.
Wie so viele lebt auch das Festival in Cannes von einem Mythos, mit einem Mythos und gegen die Last des Mythos. In diesem Fall ist es die Idee, dass sich hier Kunst und Kommerz vereinen lassen. Dass hier Filme laufen, die komplex erzählt, ästhetisch bahnbrechend und gesellschaftspolitisch auf der Höhe der Zeit sind - und die doch gleichzeitig ein größeres Publikum erreichen können. In den Zeiten, die aus nachträglicher Betrachtung die Guten waren, gab es das tatsächlich manchmal, wie die Liste der Gewinner der Goldenen Palme mit "Taxi Driver" (1976), "Wild at Heart" (1990), "Pulp Fiction" (1994), "Dancer in the Dark" (2000) zeigt.

Aber seitdem haben sich die beiden Sphären zunehmend auseinanderentwickelt. Und dem Festival wird wechselseitig vorgeworfen, entweder vor dem Kommerz die Beine breit zu machen, oder randständige Kunstfilme auszuzeichnen, wie 2010 den thailändischen Zottelmonsterfilm "Uncle Bonmee" oder auch in den vergangenen beiden Jahren, wo (2014) die großartige türkische Dreistundenreflexion "Winterschlaf" gewann oder (2015) Jacques Audiards Flüchtlingsdrama "Dheepan", das in Deutschland unter dem Titel "Dämonen und Wunder" unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit lief.

Das ist also die Bürde, die dieser Tage auf der Jury von Cannes lastet: Einen Film finden, den die Leute sehen wollen und der gleichzeitig irgendwie wegweisend ist. Aber, für alle, denen die Betrachtungen oben viel zu kulturpessimistisch klingen, gibt es eine gute Nachricht aus Cannes - die Aufgabe ist dieses Jahr gar nicht mehr so schwer. Filme mit Blockbuster-Potenzial gab es zwar auch 2016 nicht. Die Zeiten sind lange vorbei, dass große Hollywood-Studios ihr Produkt missmutigen Kunstkritikern und Juroren zum Fraß vorwerfen. Aber ein Großteil der in diesem Festival gezeigten Filme dieses Jahr sind in ihrer Form zugänglich, sie sind auf eine Weise universell, dass ihre Geschichten allen überall etwas zu sagen haben können und schließlich versuchen sie, ihre Zuschauer in ihren Bann zu ziehen, statt sie (nur) vor den Kopf zu stoßen. Da könnte man fürchten, dass es nur noch konventionelles Erzählkino gibt in Cannes. Doch, obwohl auch das dabei war, und durchaus in solider Qualität (Filme von Ken Loach, Jeff Nichols, den Dardenne-Brüdern) - die Botschaft dieses Jahr von dem meistbetrachteten Filmfest der Welt ist, dass man die Regeln sprengen und sein Publikum dennoch gewinnen kann.

Das könnte die Jury belohnen: Allen voran mit einem Preis für Maren Ades so unbekümmerte Vater-Tochter-Geschichte "Toni Erdmann", die seit einer Woche, trotz unzähliger anderer Filme, Bilder, Eindrücke vielen Festivalbesuchern nicht aus dem Sinn gegangen ist.



Marion Cotillard in Xavier Dolans "It's Only the End of the World"

Aber Maren Ade, mit gutem Recht als Favoritin gehandelt, kam nicht allein. Xavier Dolan, der kanadische Kino-Neuerfinder zeigte mit "It's Only the End of the World" einen für seine Verhältnisse zurückhaltenden Film. Vor zwei Jahren triumphierte Dolan hier mit "Mommy" der schrillen Geschichte einer so dysfunktionalen wie zärtlichen Mutter-Sohn-Beziehung, die ein Tempo und eine Farbe ins altehrwürdige Kino brachte, wie sie nicht einmal viele hippe Youtube-Clips hinbekommen. Der neue Film hat eine eher klassische Erzählstruktur, was auch daran liegt, dass Dolan hier ein Theaterstück des früh gestorbenen Dramatikers Jean-Luc Lagarce adaptiert. Aber die Geschichte ist trotz ihrer klassischeren Struktur immer noch ein genau geführter Angriff auf soziale Konventionen: Louis (Gaspard Ulliel) kehrt nach zwölf Jahren der Abwesenheit an seinen Heimatort zurück und zu seiner Familie. Er weiß dass er sterben muss und deshalb erwartet er irgendetwas von diesem Besuch. Vielleicht nicht einmal Versöhnung, aber eine Verbindung sucht er schon und gleichzeitig die Bestätigung, dass er Herr seines eigenen Lebens war, wie er schon im Flugzeugsitz auf dem Weg in die Heimat sagt.

Dolans Film ist vollgestopft mit Stars, Nathalie Bayer, Léa Seydoux, Vincent Cassel und Marion Cotillard geben die Mitglieder der Familie. Die Topschauspieler tun dem Neuerer-Anspruch von Xavier Dolan nicht unbedingt gut und lassen auch Böses befürchten, wenn man hört, dass Dolan jetzt an seiner ersten großen US-Produktion mit Jessica Chastain, Kathy Bates und Susan Sarandon arbeitet. Aber "It's Only the End oft he World" funktioniert eher trotz des Promi-Casts, nicht wegen ihm. Denn der Reiz des Filmes liegt darin, wie Dolan die hysterischen, überdrehten, verzweifelten Familienbeziehungen kontrastiert mit dem ruhigen und auf ganz andere Weise verzweifelten Blick desjenigen, der quasi aus dem Totenreich hinüberblickt auf seine Herkunft.


Szene aus Christian Mungius "Bacalaureat"

Überhaupt ist es das Festival der Familienbeziehungen. Der zweite große Vater-Tochter-Film des Festivals nach Maren Ades "Toni Erdmann" ist "Bacalaureat" des Rumänen Christian Mungiu, der in Cannes bereits zwei Mal abgeräumt hat. Ein Film, der die ganze Geschichte um Korruption, Verstrickung und Moral auf die ganz private Ebene hebt, nämlich das Verhältnis zwischen Romeo, einem Arzt, der einmal mit den höchsten ethischen Ansprüchen gestartet ist und seiner Tochter Eliza, die mitten im Abitur steckt. Es geht darum, wie der kleine Kompromiss des Alltags nicht nur die privaten Beziehungen erodiert, sondern die ganze Gesellschaft (oder andersherum). Romeo will, dass die Tochter in England studiert und der - aus seiner Sicht - zerrütteten rumänischen Gesellschaft entkommt.

Und dann schauen wir ihm dabei zu, wie er selber immer mehr Teil dessen wird, was er immer abgelehnt hat. Man könnte an dieser Stelle sagen: Ist ja klar, Rumänien und Korruption. Doch die Filme von Mungiu sind zwar in seinem Heimatland verortet, aber sie berühren sehr, weil sie universelle Geschichten erzählen. Wie dem Nachwuchs moralische Werte weitergeben, wenn man selbst nicht immer widerstehen konnte, das ist hier die Frage. Die Qualität von Mungius Filmen kommt offenbar auch deshalb zustande, weil er jede Szene etwa vierzig mal drehen lässt, wie seine leicht genervten Darsteller im Anschluss an die Vorstellung erwähnen. Er suche den Moment, in dem großes Kino entsteht, gesteht Mungiu - und das gelingt ihm.

Koproduzenten von "Bacalaureat" sind übrigens Jean-Pierre und Luc Dardenne, die Altmeister des fein entwickelten Sozialfilms aus Belgien, die auch schon zweimal in Cannes gewonnen haben. Sie haben dieses Jahr "La Fille Inconnue" mitgebracht, einen Film deren Hauptfigur auch Medizinerin ist. Auch hier geht es nicht um die gesellschaftspolitischen Strukturen, sondern die ganz privaten: Die Ärztin Jenny befindet sich mitten im rasanten Aufstieg, als ein Ereignis in ihrem Umfeld sie aus der Spur wirft: Ein Mädchen hat nach Dienstschluss in der Praxis geklingelt, die sie vertretungsweise übernommen hat. Jenny hat nicht mehr geöffnet, das Mädchen wird am nächsten Morgen tot gefunden. Mit polizeilicher Kleinarbeit macht sich Jenny auf der Suche nach dem namenlosen Mädchen und den Umständen ihres Tods und gleichzeitig auf die Suche nach ihrer Rolle in der Welt. Der Film wird getragen durch ihre Hauptdarstellerin Adèle Haenel, die fast in jeder Einstellung im Bild ist.

In Cannes wird jetzt schon die Preisverleihung vorbereitet, die Jury führt wahrscheinlich ihre letzten Diskussionen. Was macht sie mit der Last des Mythos? Vielleicht: Sich einfach davon befreien!

Lutz Meier