Im Kino

Potenzial zur Veränderung

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Michael Kienzl
10.09.2020. Der portugiesische Regisseur Pedro Costa verwandelt in seinem preisgekrönten Film "Vitalina Varela" Schmerz und Trauer einer Einwanderin aus Kap Verde in dunklen Glanz. Eher träumerisch, unbestimmt und fließend erzählt Tomomi Mochizuki in seinem Anime "Ocean Waves" von einer ersten Liebe.


Fünfundzwanzig Jahre lang hat Vitalina Varela in Kap Verde gewartet. Erst auf ihren Mann, der nach Portugal gegangen war, dann auf ein Flugticket, um ihm zu folgen. Sie hat allein an dem Haus weitergebaut, das sie gemeinsam begonnen hatten, hat Zementsäcke geschleppt und immer wieder eines der Kälber verkauft, um an Geld für Fenster und Türen zu kommen. Nun, mit 55 Jahren, steigt sie barfuß aus dem Flugzeug in Lissabon, doch sie kommt zu spät: Ihr Mann, sagen ihr die kapverdischen Putzfrauen, ist tot. Vor drei Tagen wurde er beerdigt. Und er hinterlässt ihr nichts: Kein Geld, keinen Besitz und keine Antworten auf all ihre Fragen. Warum ist er gegangen? Warum hat er nie geschrieben? Warum wollte er sie nicht einmal auf dem Sterbebett bei sich haben? Alles hat er mit ins Grab mitgenommen. Die schäbige Wellblechhütte, in der er gewohnt hatte und in die sie sich jetzt einquartiert, gehörte ihm nicht einmal. Das Dach ist undicht, beim Duschen rieselt der Putz, die Fenster sind so verschmutzt wie Kanalgullys. Dafür hat er sie und ihr gemeinsames Haus verlassen? Hat er sich umgebracht? Der Pastor würde ihr gern Trost spenden, doch er kann selbst schon lange nicht mehr glauben. Auch die Geister sprechen nicht zu ihr.

Es ist tiefe Nacht in Vitalinas Leben. Voller Trauer, sprachlos, machtlos, verständnislos beginnt sie, das Leben ihres Mannes zu rekonstruieren, um ein eigenes zu finden in der fremden Stadt. Wie konnte ihn derart der Mut verlassen? Warum war in Portugal nur Bitterkeit? Der portugiesische Regisseur Pedro Costa hüllt die Passion der Vitalina in Schweigen und Dunkelheit. Doch es ist kein religiöser Stoff, den Costa erzählt, sondern die ganz profane, dafür wahre Geschichte einer Einwanderin. In dem Film passiert so gut wie nichts. Es gibt keine Handlung, keine Dialoge. Die wenigen Worte, die gesprochen werden, ergeben nicht einmal einen nennenswerten Monolog. Die Klagen, die geführt werden, sind stumm. Es gibt auch kaum Bewegung, sondern nur lähmenden Schmerz und tiefe Verzweiflung. Geisterhaft schleppen sich ältere Männer durch die Straßen von Fontainhas, dem Armenviertel von Lissabon, in dem die afrikanischen Einwanderer aus Kapverden, Angola und Mosambik in verfallenen Hütten hausen. Ein Nachbar erzählt Vitalina, wie sie gelitten haben in der Kälte von Lissabon. Manchmal haben sie Arbeit gefunden, dann sind sie frühmorgens losgezogen ohne etwas zu Essen im Bauch. Manchmal haben sie Drogen verkauft, dann konnten sie sich Fleisch leisten. Vitalinas Mann ist in Lissabon zum Trinker und zum Dieb geworden, er saß im Gefängnis, und im Krankenhaus von Amadora ist er schließlich gestorben.

Alles in Costas Film schimmert in dunklem Glanz. Schmerz und Trauer werden zu Bildern in Chiaroscuro oder gleich ganz Schwarz auf Schwarz. Woher sollte auch das Licht kommen? Wie eine Galerie Alter Meister ziehen die kunstvoll komponierten Einstellungen des Films an einem vorbei. Die Dunkelheit verlangt viel Konzentration, sie zwingt zum genauen Hinsehen. Aber sie macht unglaublich schön, selbst den Schmerz. Man kann den Blick nicht abwenden vom Gesicht der Vitalina Varela. Sie ist keine professionelle Schauspielerin, sondern eine einfache Frau aus Kap Verde, die in diesem Film ihre eigene Geschichte erzählt. Das Gesicht ist voller Kraft, Ernst und Würde. Beim Filmfestival in Locarno ist nicht nur der Film, den der portugiesische Regisseur, wie stets, mit den Bewohnern von Fontainhas erarbeitet hat, mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet worden. Auch Vitalina Varela wurde für ihr Schauspiel mit einem Preis bedacht. In einem Film, der fast ohne Worte und Musik auskommt, erzählt sie allein mit ihren Blicken und Gesten die unendlich traurige Geschichte eines ungetrösteten Lebens, das einzig und allein aus sich selbst heraus Hoffnung schöpfen muss.

Thekla Dannenberg

Vitalina Varela - Portugal 2019 - Regie: Pedro Costa - Darsteller: Vitalina Varela, Ventura - Laufzeit: 124 Minuten.

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Als Taku das Mädchen mit dem urbanen Safari-Outfit auf dem Bahnsteig gegenüber sieht, erstarrt er. Nur seine Haare wehen noch ein wenig im Wind. Wer die Unbekannte ist und warum die Reaktion des Jungen so heftig ausfällt, das klärt das poetische Jugenddrama "Ocean Waves" ohne Eile in einer Reihe von Erinnerungen auf. Die Bilder bekommen auf einmal einen dicken weißen Rand, rücken in die Ferne und vermitteln damit, dass die Handlung zwar nur zwei Jahre zurückspringt, der junge Protagonist damals aber noch ein anderer war.

Wir befinden uns in der Stadt Kochi auf der Südseite der japanischen Insel Shikoku. Wenn man den Blick hier aufs Meer richtet, hat man das gesamte Land im Rücken und die unendliche Weite des Pazifiks vor sich. Kochi scheint ein perfekter Ort zu sein, um zu träumen - nicht nur wegen seiner schönen Ländschaft, sondern auch, weil den Jugendlichen hier aus Mangel an Alternativen nur das Träumen bleibt. Es ist Sommer, man hört das rhythmische Singen der braunen Zikaden, die Klassenzimmer werden von einem magischen Licht durchflutet und dann erscheint plötzlich eine neue Mitschülerin aus Tokio.

Takus bester Freund Yukata, ein erwachsen wirkender Klassensprechertyp mit Brille, ist sofort gebannt von der schönen Rikako. Auch Taku will einen Blick erhaschen, aber er kann sie nicht sehen; einerseits weil sie ihm den Rücken zugedreht hat, andererseits aber auch im übertragenen Sinn, weil er das Besondere an ihr nicht erkennen will. Rikako sorgt für einen kleinen Aufruhr in der Schule. Sie sieht nicht nur gut aus, sondern ist auch blitzgescheit und ein Ass in Tennis. Die Jungs liegen ihr deshalb zu Füßen, die Mädchen toben vor Neid. Allerdings kann Rikako auch eine hochnäsige Gans sein. Wenn sie mit Taku spricht, muss sie immer wieder kichern, weil sein provinzieller Dialekt sie an die Samuraifilme aus dem Fernsehen erinnert. Zwar ist der Junge von ihrer unmöglichen Art schnell genervt, aber irgendwas fasziniert ihn doch an Rikako.



Mit "Ocean Waves" von Tomomi Mochizuki versuchte sich das berühmte Animationsstudio Ghibli 1993 an einem Experiment. Für den japanischen Fernsehsender NTV sollte eine vergleichsweise billige Produktion entstehen, bei der sich ausschließlich die jüngere Belegschaft des Studios austoben durfte. Herausgekommen ist ein schöner kleiner Film, der ein gutes Gespür für jugendliche Gefühlswelten hat und viel Wahrheit im Alltäglichen findet. Die Bilder sind realistisch gehalten, von einer warmen Atmosphäre erfüllt und schweifen immer wieder zu Details wie einem grummelig rauchenden Koch oder einem ausgestopften Kugelfisch ab. Existenziellen Fragen darüber, wie man einmal sein Leben führen will, widmet sich Mochizuki mit offensiver Leichtigkeit - nicht zuletzt dank der flirrenden Synthesizerflächen und romantisch beschwingen Klavieretüden auf Shigeru Nagatas Soundtrack.

Müsste man die Handlung des Films zusammenfassen, würde man die Geschichte wohl darauf reduzieren, dass sich zwei beste Freunde in dasselbe Mädchen verlieben. Irreführend ist das jedoch, weil fast alle Erwartungen, die an so einem Plot hängen, enttäuscht werden. So wie Taku und Rikako sich eher konsequent abstoßen, als einander langsam annähern, wird auch das Konkurrenzverhältnis zwischen den Jungen nie wirklich zum Anlass eines Konflikts, sondern einfach stumm hingenommen. Obwohl "Ocean Waves" in einem Happy End gipfelt, ist seine Erzählbewegung nicht zielgerichtet, sondern schlängelnd und suchend. Bis Taku überhaupt erst bewusst wird, dass er verliebt ist, muss er erstmal viel an sich selbst arbeiten.

Die unscheinbare und offene Art des Films drückt sich vor allem in einem heimlichen Trip nach Tokio aus, bei dem Taku die neue Mitschülerin begleitet. Rikako, die wegen der Trennung ihrer Eltern in die Provinz ziehen musste, will eigentlich nur zurück in die Großstadt und in die Arme ihres idealisierten Vaters. Und auch wenn sich die Reise in jeder Hinsicht als große Enttäuschung erweist, erfahren die beiden das eine oder andere über sich selbst. Während Rikako etwa bewusst wird, dass es nicht das Wahre ist, wie sie mit ihren Schnösel-Freunden auf dicke Hose macht, bekommt der wenig ehrgeizige Taku bei einem Stadtbummel die Eingebung, später einmal in Tokio zu studieren. "Ocean Waves" begreift das Leben als ständigen Lernprozess, bei dem man erst im Scheitern und Verzicht Potenzial zur Veränderung entdeckt. Dabei deutet Mochizuki auch an, dass einige Träume unerfüllt bleiben. Etwa wenn Takus Mutter den Freiheitsdrang von Rikakos Mutter leidenschaftlich verteidigt und dabei klar wird, dass sie selbst schon ähnliche Fluchtgedanken gehabt hat oder wenn ein schüchterner, dicker Mitschüler bei einem Klassentreffen endlich seinem Schwarm seine Liebe gestehen will und sich soviel Mut antrinkt, dass er kurz davor zusammenbricht.

Seinem Sinn fürs Beiläufige entsprechend, lässt "Ocean Waves" seine Liebenden am Schluss eher zufällig und indirekt zueinander finden. Obwohl Rikako nicht zum Klassentreffen erscheint, "sieht" Taku sie schließlich doch noch. Die angetrunkenen Jugendlichen laufen durch die Nacht und bleiben vor der Burg von Kochi stehen. Taku erinnert sich, dass er es früher immer für Energieverschwendung hielt, das Wahrzeichen in der Nacht anzustrahlen. Und während ihm die vielen, meist weniger erfreulichen Erlebnisse mit seiner Mitschülerin durch den Kopf schießen, fällt ihm auf, wie schön die Burg eigentlich ist.

Michael Kienzl

Ocean Waves - Japan 1993 - OT: Umi ga kikoeru - Regie: Tomomi Mochizuki - Laufzeit: 76 Minuten. Ocean Waves bei Sky und bei Netflix.