Intervention

Glückwunsch, lieber Waldemar

Von Uta Ruge
19.10.2020. Du bist Bauer. Also hast Du Anteil am  diesjährigen Friedensnobelpreis, den die Medien so schnell vergessen haben. Auf welchen Feldern wird das Getreide angebaut, dessen Mehl in Säcken vom Welternährungsprogramm der UN in Flüchtlingslager und in die Dörfer transportiert werden? Sind es Produkte riesiger Agrarunternehmer?  Oder Produkte europäischer Bauern, die billig in den Markt gedrückt werden? Bio oder konventionell: Oder ist das hier nicht ganz egal? Einige Fragen wären zu diesem interessanten Nobelpreis zu stellen. Brief an meinen Bruder
Lieber Waldemar*, herzlichen Glückwunsch zu Deinem Anteil am Friedensnobelpreis!

Bisher ist dir und allen anderen Bauern der Welt wohl noch nicht für Euren Beitrag zum Weltfrieden gedankt worden. Das möchte ich hiermit gerne nachholen.

Denn wer sät und erntet das Getreide, dessen Mehl vom jetzt ausgezeichneten Welternährungsprogramm der UN in den Hungergebieten der Welt verteilt wird - in jenen bekannten weißen Säcken mit der blauen Aufschrift der UN-Organisation? Wer legt Mais, Bohnen und Erdnüsse, setzt Reis- und Rohrzuckerpflanzen, wer baut die Ölpflanzen an - Raps, Sonnenblumen, Lein und Kokospalmen? Und wer melkt die Kühe, deren Milch in Form von Milchpulver in alle Welt verschickt wichtige Zutat ist für Energiekekse und Vitaminstreusel auf Getreidebrei für hungernde Kinder?

Natürlich spricht die Welthungerhilfe am liebsten nur von den Kleinbauern in ernährungsunsicheren Ländern und Regionen, denen sie hilft, sich und ihre Familien zu ernähren. Es gibt viele WFP-Programme dafür - nachhaltigkeitszertifiziert und mit aufwendiger Kontrolle von Lieferketten und Fairness. Auch diesen Bauern - die meisten von ihnen sind übrigens Bäuerinnen! - gratuliere ich aufs Schärfste. Sich selbst und die eigenen Kinder ernähren, sie zur Schule schicken und nicht aufs Feld  mitnehmen müssen - das sind großartige Fortschritte. Auch in Europa werden Bauernkinder erst seit gut hundert Jahren nicht mehr nur zur Mitarbeit in Stall und Feld und als Altersversorgung ihrer Eltern geboren. Und friedensfördernd ist es allemal, wenn aus satten Dorfkindern nicht Kindersoldaten werden, sondern Ärztinnen und Ingenieure.

Aber bei schweren Fällen von jahrelanger Dürre und ebenso jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, bei Erdbeben und Überschwemmungen, wenn die Landbevölkerung selbst hungert und auf den städtischen Märkten keine Lebensmittel mehr ankommen, werden die erwähnten großen weißen Säcke eingeflogen. Sie werden auf Lastwagen geladen, ins Landesinnere transportiert und bis sie die Bedürftigen erreicht haben, sind nicht selten große Anteile in den Mägen rebellierender oder vom Staat nicht mehr bezahlter Soldaten und ihrer Familien gelandet. Und jeder weiß, dass ohne diese Leckage oft gar nichts dort ankäme, wo es am dringendsten gebraucht wird.

Noch einmal: Auf welchen Feldern wird das Getreide und werden die Ölfrüchte angebaut, deren Mehle und Öle in Säcken und Kanistern in Flüchtlingslager, zu Notunterkünften und in die Dörfer hungernder Einwohner transportiert werden?

Sind es Produkte us-amerikanischer, brasilianischer oder russischer Großfarmer oder Agrarunternehmen, deren Weizen- und Sojabohnenfelder, deren Erdnuss- und Palmölplantagen in Tausenden von Quadratkilometern gemessen werden?  Oder sind es die Überschüsse, die den Bauern in Europa und anderswo teuer abgekauft und dann billig auf den Weltmarkt gebracht werden? (Und es soll nicht vergessen werden: So oder so stecken in ihnen die Arbeit und Mühe von bäuerlichen Familien oder Landarbeitern, die sich um Saat und Pflege, Be- und Entwässerung, Ernte und Lagerhaltung gekümmert haben!)

Ich habe einen ganzen Morgen im Internet mit der Suche nach diesen Lebensmitteln verbracht - und keine Antwort gefunden.
Aber in einer Nebenbemerkung habe ich gelesen, dass das WFP auf dem Weltmarkt zu den billigsten Preisen einkauft.  Das ist verständlich - eben damit so viele Mägen wie möglich gefüllt werden können.  

Könnten vielleicht trotzdem einmal ein paar investigative ReporterInnen einschlägiger Medien recherchieren, was es mit diesen billigen Lebensmitteln auf sich hat? Von welchen Feldern aus strömen sie auf welche Märkte und dann über die Ladeluken der WFP-Flugzeuge in welche Länder?  Welche Landwirte beteiligt die Welthungerhilfe am Geschäft des Friedens - und welche schließt sie aus?

Wer die Welternährungs-Lebensmittel produziert, hat sozusagen gute Lebensmittel produziert. Ob konventionell oder biologisch angebaut, wird keiner fragen. Und vermutlich fiele auch keinem ein, von Zwangsschwangerschaften jener Kühe zu reden, die die Milch gaben fürs Milchpulver zur Ernährung fast verhungerter Kinder.

Wenn ich es recht bedenke ist es eigentlich ein sehr interessanter Friedensnobelpreis, der da vor ein paar Tagen so ohne Sang und Klang über die mediale Bühne huschte. Denn er könnte viele Fragen aufwerfen und spannende Antworten liefern.

Mein Glückwunsch an alle Bauern und Bäuerinnen in allen Ländern! Steckt Euch die Medaille an und fragt gelegentlich Euch und andere, ob eigentlich auch Ihr ein bisschen mitgemeint gewesen seid beim Friedensnobelpreis 2020.

Uta Ruge


*Waldemar wird der Bauer als Bruder der Autorin genannt in Uta Ruges "Bauern, Land - Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang" (Leseprobe im Perlentaucher), das kürzlich im Verlag Antje Kunstmann erschien (bestellen).