10.12.2020. Vor 25 Jahren wurde mit dem Abkommen von Dayton der Krieg um Bosnien-Herzegowina beendet. Aber der Bosnien-Krieg ist als Trauma auf dem Balkan weiter präsent, woran sich vor allem eins zeigt: Je länger man entfesselte Gewalt gegen ganze Bevölkerungsgruppen zulässt und je mehr Konzessionen man den Tätern macht, umso schwieriger, aufwendiger und langwieriger wird es, ein Minimum an zivilisatorischer Sicherheit wiederherzustellen.
Das Friedensabkommen, das im November vor 25 Jahren in Dayton im US-Bundesstaat Ohio ausgehandelt und am 14. Dezember 1995 in Paris von den Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosniens formell unterzeichnet wurde, beendete den seit 1992 währenden
Krieg um Bosnien-Herzegowina - den ersten in Europa seit 1945. Zustandegekommen ist es unter massivem Druck der USA, die eingriffen, nachdem sich Europa diesbezüglich
als handlungsunfähig erwiesen hatte. Doch wies das Abkommen auch Defizite auf, deren Folgewirkungen bis heute spürbar sind.
Zwar wahrte der von den Anführern aller Kriegsparteien nur höchst widerwillig angenommene Friedensvertrag die staatliche Einheit Bosnien-Herzegowinas, doch unterteilte er das Land in weitgehend autonome nach ethnischen Kriterien definierte Entitäten. Das Abkommen akzeptierte damit implizit die
Prämissen der Ideologie des ethnischen, insbesondere des großserbischen Nationalismus. Dieser aber hatte die Region in das Gemetzel mit mindestens 100.000 Toten und über zwei Millionen Flüchtlingen infolge "ethnischer Säuberungen" gestürzt. Schon wenige Jahre später sollte sich an der Eskalation des Konflikts um den Kosovo zeigen, dass die
mörderische Energie des Ethno-Nationalismus noch nicht gebrochen war. Erst die massive Nato-Intervention 1999, die Serbiens Truppen zum Rückzug aus dem Kosovo zwang, konnte ihm fürs erste die kriegerische Spitze abbrechen.
Überdies zog das Abkommen die ethnischen Grenzlinien innerhalb Bosniens im wesentlich entsprechend dem Ergebnis des Krieges, wodurch die in seinem Verlauf begangenen Gräuel indirekt legitimiert wurden. Zwar schrieb der Friedensvertrag Bewegungsfreiheit innerhalb Bosniens und das Recht auf Rückkehr der Vertriebenen an ihre Heimatorte fest. Doch angesichts der tatsächlichen Verhältnisse der Nachkriegsjahre blieb das ein Lippenbekenntnis.
Immerhin ist es gelungen, bis heute neue Ausbrüche von kriegerischer Gewalt auf dem Balkan zu verhindern. Doch bleibt die Region von zuletzt wieder zunehmenden explosiven, vom Ethno-Nationalismus geschürten Spannungen geprägt und zerrüttet - eine Instabilität, die sich
antieuropäische Mächte wie Putins Russland zunutze machen. Der Bosnien-Krieg ist als Trauma auf dem Balkan weiter präsent, woran sich vor allem eins zeigt: Je länger man entfesselte Gewalt gegen ganze Bevölkerungsgruppen zulässt und je mehr Konzessionen man den Tätern macht, umso schwieriger, aufwendiger und langwieriger wird es, ein Minimum an zivilisatorischer Sicherheit wiederherzustellen.
Jahrelang hatte der Westen dem mörderischen Treiben auf dem Balkan
weitgehend passiv zugesehen. Zum einen, weil die führenden westlichen Mächte, allen voran Frankreich, aus Angst vor Instabilität zu lange auf der staatlichen Einheit Jugoslawiens beharrten und daher mehr oder weniger offen mit Serbien als dem vermeintlichen Garanten dieser Einheit sympathisierten. Und zum anderen, weil die Realität eines blutigen Kriegs mitten in Europa nicht in die euphorische Stimmung passte, die den Westen nach dem Ende des Kalten Kriegs ergriffen hatte. Weite Teile der westlichen Öffentlichkeit reagierten auf die Berichte über die Gräuel auf dem Balkan daher mit
Verdrängung oder Indifferenz, vielfach verbunden mit einer gedankenlosen Relativierung des Täter-Opfer-Verhältnisses: In allen politischen Lagern konnte man damals hören, auf dem Balkan hätten doch alle Beteiligten irgendwie Dreck am Stecken, und man solle sich davor hüten, sich in diese unübersichtliche Gemengelage einzumischen.
In Wahrheit wurden Kriegsverbrechen zwar tatsächlich von allen Seiten begangen, also auch von bosnisch-muslimischer und noch mehr von kroatischer Seite. Doch gingen
80 bis 90 Prozent davon auf das Konto des
serbischen Regimes und den von ihm gestützten Freischärlern. Eindeutig war die militärische Aggression zudem von Serbien ausgegangen. Mit der Rückendeckung seines Verbündeten Russland agierte das serbische Regime damals gemäß eines Prinzips, dem der Kreml später selbst folgen sollte: Unter dem Vorwand, vermeintlich eigene Volkszugehörige außerhalb der eigenen Grenzen schützen zu müssen, einen Aggressionskrieg zu führen.
Als Reaktion auf die ethnischen Massaker auf dem Balkan und andere Massenverbrechen wie den Genozid in Ruanda 1994, denen die internationale Gemeinschaft tatenlos zugesehen hatten, setzten die UN 2005 mit der Zustimmung fast aller ihrer Mitgliedsstaaten die "
Schutzverantwortung" (Responsibility to Protect) in Kraft. Sie verpflichtet die internationale Gemeinschaft
zum Eingreifen, wenn eine Regierung Massaker gegen Teile ihrer eigenen Bevölkerung begeht oder sich als unfähig erweist, diese vor solchen Gräueln zu schützen. Obwohl im streng legalen Sinne völkerrechtlich nicht bindend, handelt es sich bei der Schutzverantwortung doch um die wichtigste Fortentwicklung des Völkerrechts seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Regierungen, die innerhalb ihrer eigenen Grenzen genozidale Verbrechen begehen, können sich nun nicht mehr hinter der Unantastbarkeit nationaler Souveränität verstecken.
Doch von dem damals proklamierten Vorsatz der Weltgemeinschaft, derartige Untaten nicht mehr zuzulassen, ist so gut wie nichts übrig geblieben. Weil Russland und China mit ihrem Veto im Sicherheitsrat einschlägige Initiativen ersticken können, und weil der Westen zunehmend unwillig ist, sich auf humanitäre Interventionen einzulassen, ist die Schutzverantwortung zur leeren Worthülse erstarrt.
Den Vernichtungskrieg in Syrien hingenommen zu haben, dem über eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen sind und in dessen Verlauf um die Hälfte der syrischen Bevölkerung in die Flucht getrieben wurden, markiert das ultimative Versagen der zivilisierten Welt. Doch umso dringlicher ist es, die in der Schutzverantwortung festgelegten Prinzipien dem Zynismus einer vermeintlich "realistischen" Machtpolitik entgegenzuhalten. Denn lässt man die Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen irgendwo auf der Welt zu, wird man davor bald nirgendwo mehr sicher sein.
Richard HerzingerDer Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden
schreibt. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.