Intervention

Aneignung des Gedenkens

Von Richard Herzinger
30.01.2020. Die Gedenkfeier in Yad Vashem zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz war in mehrerer Hinsicht höchst problematisch: Weil der Präsident des Landes sprechen durfte, das einst Polen überfiel, aber nicht der Präsident Polens. Weil die Feier wie eine Legitimierung von Wladimir Putins jüngsten geschichtsrevisionistischen Äußerungen wirkte. Und weil sie eine neue Phase der Instrumentalisierung des Holocausts einleitet.
Wladimir Putin treibt seine Aggression auch auf dem Feld der Geschichtspolitik voran. Jetzt versucht er, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Sinne seines neoimperialen, neosowjetischen Narrativs umzuschreiben, indem er ausgerechnet Polen zum Wegbereiter von Hitlers Vernichtungskrieg stempelt - den Staat, der als erster dessen Opfer wurde. Zugleich leugnet Putin die aktive Komplizenschaft der Sowjetunion mit der NS-Kriegsmaschinerie in den Jahren 1939-41. Dabei setzt er den vom Januar 1934 bis April 1939 gültigen deutsch-polnischen Nichtangriffspakt mit dem Hitler-Stalin-Pakt gleich, der in Wirklichkeit ein deutsch-sowjetischer Aggressionskriegspakt zur Aufteilung Polens und der Einflusszonen beider totalitärer Mächte in Ost- und Mitteleuropa war. Wobei Putin zudem verschweigt, dass Polen einen weitgehend gleichlautenden Nichtangriffspakt wie den mit Deutschland bereits 1932 auch mit der Sowjetunion geschlossen hatte.

Dass der Kreml-Herrscher ungeachtet seiner geschichtsrevisionistischen Offensive die Gelegenheit erhielt, bei der Gedenkfeier in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zum 75. Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau zu sprechen, während dem polnischen Präsidenten das Wort verweigert wurde, hat indes ein fatales Zeichen gesetzt. Es entstand so der Eindruck, Putins Manipulation der historischen Wahrheit zu globalpolitischen strategischen Zwecken werde auf höchster internationaler Ebene legitimiert, und das Holocaust-Gedenken werde aktuellen machtpolitischen Kräfteverhältnissen untergeordnet.

Ein fragwürdiger Aspekt der Zeremonie in Yad Vashem war auch, dass mit dem deutschen Bundespräsidenten der Repräsentant jener Nation reden durfte, die einst Polen überfiel und, nachdem sie die polnische Staatlichkeit ausgelöscht hatte, auf polnischem Boden den industrialisierten Judenmord betrieb, das Oberhaupt des Landes, das Opfer dieser Vernichtungspolitik wurde, jedoch nicht zu Wort kam.

Putins Aufritt in Yad Vashem könnte somit den Beginn einer neuen Dimension der Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens für weltpolitische Ambitionen markieren. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 musste die Erinnerung an den NS-Judenmord gegen die (nicht nur in Deutschland) weit verbreitete Forderung durchgesetzt werden, es solle endlich ein "Schlussstrich" unter die Vergangenheit gezogen werden. Doch im Verlauf der 1980er- und 1990er-Jahre wurde es zuerst in den westlichen Demokratien, und dann auch weitgehend auf globaler Ebene zum Konsens, dass es sich bei dem Holocaust um ein singuläres Verbrechen gegen die Menschheit gehandelt hat - und nicht etwa nur um eines unter anderen Kriegsverbrechen oder Genoziden, wie es sie in der Geschichte vielfach gegeben hat. Die Shoa (als "Holocaust" wurde die NS-Judenvernichtung erst seit Ende der 1970er Jahre bezeichnet) stand nun als universales Geschichtszeichen für den ultimativen "Zivilisationsbruch". 

Diese Universalisierung des Holocaust zum Inbegriff äußerster Unmenschlichkeit setzte jedoch sogleich eine Art Opferkonkurrenz in Gang. Verschiedenste Gruppen bemächtigten sich des Begriffs und reklamierten für sich, mindestens ebenso schreckliches Leid erlitten zu haben wie die Juden unter dem Nationalsozialismus. So wurde es in Ländern, die einst Opfer des europäischen Kolonialismus geworden war, zur gängigen Praxis, diesen als den ersten, noch größeren Holocaust zu geißeln. Und in arabischen Ländern wurde es üblich, die angebliche Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung durch Israel als "Holocaust" zu bezeichnen.

Doch jetzt werden wir Zeugen einer Instrumentalisierung, die das Gedenken an die Shoa keineswegs negiert oder zu minimieren versucht, sondern sogar aktiv hochhält, es aber so umdeutet, dass es sich nahtlos in die jeweils eigene nationale Heldengeschichte fügt. Putin geht hier mit kalter Systematik voran. In Yad Vashem setzte er unwidersprochen die verbrecherische Dimension der Belagerung Leningrads mit der des Holocaust gleich und unterstrich damit, dass er den Opferstaus der Völker der einstigen Sowjetunion ebenso wie den Heroismus ihres gemeinsamen Sieges über Hitler-Deutschland alleine für Russland beansprucht.

Doch auch andere Nationen beteiligen sich an dieser Aneignung des Holocaust-Gedenkens für eigene Zwecke. So ist die aktuelle polnische Regierung ihrerseits eifrig bemüht, es ihrem nationalistischen Selbstbild gemäß zurechtzubiegen. Glaubt man den Ideologen der Regierungspartei PiS, bestand das polnische Volk fast nur aus selbstlosen Helfern verfolgter Juden. Überdies betonen sie, die meisten jüdischen Opfer in Auschwitz seien doch Polen gewesen - obwohl dies völlig an der Sache vorbei geht. Denn die Juden wurden von der NS-Mordmaschinerie unabhängig von ihrer jeweiligen Nationalität und allein aufgrund der Tatsache vernichtet, dass sie Juden waren.

Tatsächlich gab es viele Polen, die Juden gerettet haben oder zu retten versuchten. Unter den von Yad Vashem als "Gerechte der Völker" Geehrten finden sich mehr Polen als Angehörige irgendeiner anderen Nation. Die ebenso reale dunkle Seite polnischer Kollaboration und des tief verwurzelten polnischen Antisemitismus jedoch möchte die PiS-Regierung möglichst ganz aus ihrer Geschichtserzählung ausblenden. Wer sie zu intensiv beleuchtet, wird von ihr sogar per Gesetz mit Strafen bedroht.

Doch das kann in keiner Weise rechtfertigen, dass man die Leidensgeschichte Polens relativiert und es gar in die Nähe seiner Peiniger rückt. Dies gilt umso mehr, als dieser Versuch von einer Macht kommt, die ihre sowjetische Vergangenheit glorifiziert - zu der nicht zuletzt ein brutaler Antisemitismus gehört. Wenn ausgerechnet Putin die antisemitische Vergangenheit Polens wie auch das Versagen des Westens im Zeichen der Appeasement-Politik der 1930er-Jahre anprangert, ist das ein makabres Beispiel dafür, dass man - um ein Wort Wolf Biermanns aufzugreifen - sogar mit der Wahrheit lügen kann.

Richard Herzinger


Der Autor ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt und Welt am Sonntag. Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. Hier der Link zur Originalkolumne. D.Red.