29.01.2002. Grenzenlose Trauer - in Schweden gibt es heute nur ein Thema: Der Tod von Astrid Lindgren
Im Grunde hätte man es wissen können, vielleicht sogar wissen müssen. Dass es um die Gesundheit
Astrid Lindgrens schon seit geraumer Zeit nicht zum Besten stand, dass sie fast blind war und ihr Gedächtnis immer größere Lücken aufwies, war eine Art offenes Geheimnis. Und nun die Virus-Infektion seit Beginn des Monats - am Ende fehlte der 94-Jährigen einfach die Kraft. Gestern präsentierten wir viele Links zu Astrid Lindgren (die Sie jetzt weiter unten finden). Heute lesen wir die schwedische Presse.
Die Tageszeitung
Expressen spendet Trost: Nicht nur,
berichtet die Schriftstellerin
Margareta Strömstedt, eine enge Freundin, die Astrid Lindgren erst vor wenigen Tagen besuchte, habe sie bis zuletzt ihre Persönlichkeit bewahren und man habe mit ihr singen können. Auch sei sie ruhig und friedlich im Kreis ihrer Lieben entschwunden. Ihre Tochter Karin, die Schwester Stina, die sieben Enkel, ihre langjährige Sekretärin Kerstin Kvint sowie die beste Freundin seit über siebzig Jahren, Alli Viriden, seien bei ihr am Sterbebett gewesen.
Und dennoch hat die Nachricht von Astrid Lindgrens Tod ganz Schweden fast
ein wenig überrascht. Noch am Montag vermischte sich der Schmerz über ihren Tod in fast allen Stellungnahmen mit einer Art Unglauben, dass diese Frau, die jeder kannte, die stets präsent war und die es doch scheinbar immer gegeben hatte, mit einem Mal nicht mehr seien sollte.In einem Kommentar des
Aftonbladets aus der Feder Hakan Jaenssons
heißt es: "Es zieht eine
Welle der Trauer über das Land. Astrid Lindgren ist tot." Und weiter: "Ich glaube, dass kein Schriftsteller, kein Mensch für Schweden mehr bedeutet hat. Denn sie gehörte - und gehört - uns allen. In einer Zeit, in der die Gemeinsamkeit stets kleiner wird, die Zersplitterung zunimmt und die Solidarität auskonkurriert wird, in der es uns schwer fällt, Schweden und uns selbst wiederzuerkennen, ist das Lebenswerk Astrid Lindgrens ungemein wichtig. Sie schenkte uns
eine Nationalliteratur, ein komplexen Raum von Texten, die wir alle verstehen und die uns alle ergreifen können."
Kein Wunder also, dass die Beileidsbekundungen schier kein Ende nehmen wollten. Im
Expressen findet sich eine
Aufstellung der bekanntesten Namen. So bekannte
König Carl Gustav XVI: "Astrid Lindgren hat uns allen durch ihre einzigartigen Bücher viel bedeutet - den Kindern wie den Erwachsenen. In Schweden wie auf der ganzen Welt haben ihre Erzählungen alle Sinne ebenso fasziniert wie stimuliert....Für meine Familie und mich waren die Treffen mit Astrid Lindgren, in der Realität sowie in ihren Geschichten, wahre Feststunden. Wir alle werden Astrid Lindgren vermissen, freuen uns aber, dass sie in Pippi Langstrumpf, den Brüdern Löwenherz und all den anderen Figuren weiterleben wird." Ähnlich der schwedische Ministerpräsident
Göran Persson: "Mit großem Respekt für die Kinder hat sie auf ihre ganz eigene Art Licht und Schatten, das Leben und den Tod geschildert. In ihren Büchern und ihren unzähligen Figuren finden sich Trost und Kraft - für alle, die dies brauchen." Auch Lindgrens Kollege, der Erfolgsautor
Per Olov Enquist, sparte nicht mit Lob: "Keiner hat die Werte von Generation zu Generation so geprägt wie Astrid Lindgren. Keiner hat in so unglaublich langer Zeit soviele Bücher auf so hohem Niveau geschrieben. Eine
Epoche geht zu Ende. Sie war einzigartig ... ein wunderbarer Mensch." Und in einem Kommentar von Maria Schottenius
heißt es schließlich: "Sie hat uns etwas über Vorurteile gelehrt und Menschen dazu gebracht, Grenzen zu überschreiten: Klassengrenzen, die Grenzen zwischen den Geschlechtern, Altersgrenzen. Aber auch die Grenze zwischen Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit."
Expressen hat sich übrigens auch auf seiner Homepage große Mühe gegeben und präsentiert ein sehr schönes
Bildextra mit vielen
Lindgren-Fotos.
"Ihr Leben zusammenzufassen",
schreibt Kristina Torell in der
Göteborgs-Posten, "gleicht, einen Ameisenhaufen kontrollieren zu wollen. Die fleißige Verfasserin Astrid hat ihre Phantasie in ein Buch nach dem anderen einfließen lassen." Den Tod aber habe sie nicht verschweigen können. In Zeiten, in denen die Religion für viele keine Rolle mehr spiele, habe sie den Kindern etwas anders geben wollen. Statt des Himmels habe sie den Kindern Nangijala geschenkt. In
Dagens Nyheter fügt Asa Beckman hinzu: "Sie nahm uns an die Hand und führte uns in die Welt, von der sie uns erzählte. Man war ganz einfach dort."
Und - quasi als Antwort und Ergänzung zu beiden -
merkt Kollege Lars Linder unter der Überschrift "Sagan om Astrid är slut" an: "Viele werden in diesen Tagen die berühmten Worte aus den Brüdern Löwenherz zitieren: wir sehen uns in
Nangijala. Ab und an wurden diese als eine Art
ansteckende Todessehnsucht verstanden. Doch alle, die Astrid Lindgren ernsthaft gelesen haben, wissen, dass sie mit ihren Erzählungen gerade eine Antwort auf das Dunkel des Todes geben wollte. Nangilima und Nangijala sind andere Wörter für das Land der Dämmerung, das Land in der Ferne. Dort werden wir uns wiedersehen. Und genau dort werden finden wir und unsere Kinder von Astrid Lindgren Trost finden. Hier und jetzt gibt es sie nicht mehr. Aber im Land der Dämmerung wird sie immer sein."
Mit gleich drei großen Nachrufen wartet das
Svenska Dagbladet auf, von denen sich einer auch mit den
Kritikern beschäftigt, die Astrid Lindgrens Büchern
"Eskapismus", sprich: Flucht aus der Realität vorwerfen - eine Debatte, die wohl in den gesellschaftskritischen siebziger Jahren ihren Anfang nahm und gleichzeitig ihren Höhepunkt erreichte. Gerade durch die Phantasie,
schreibt Ying Toijer-Nilsson, könnten die Kinder
Schmerz und Sorgen überwinden. Sie sei ein Instrument, sich in der Welt zurecht zu finden. Lindgrens Bücher seien tatsächlich eine Revolte - ein Aufbegehren gegen Tod und Verfall.
Auch Lena Kareland, Literaturwissenschaftlerin an der
Universität von Uppsala,
sucht das Werk Lindgrens einzuordnen. Ähnlich wie
August Strindberg und
Selma Lagerlöf habe sie Schweden in der ganzen Welt bekannt gemacht. Sie sei gleichzeitig eine nationale und internationale Autorin. Auf der einen Seite seien ihre Figuren weltweit bekannt und hätten ein grenzenloses Universum für Kinder geschaffen. Andererseits gebe es nicht viele Verfasser, die der schwedischen Tradition so verbunden seien wie Lindgren. Vieles, was sie geschrieben habe, habe symbolischen Wert und stehe als Inkarnation des
typisch Schwedischen. Ihr Werk bestätige die für die Schweden so selbstverständliche Bindung an das Land und seine Natur. "In Astrid Lindgrens Büchern, die in einer breiten literarischen Tradition mit Wurzeln im volkstümlichen, im mystischen und im romantisch-visionärem beheimatet sind, wird die Grenze zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur überschritten. Dass sie nie den Nobelpreis für Literatur erhielt oder Mitglied der Schwedischen Akademie geworden ist, bezeugt das Unvermögen unserer literarischen Institutionen, Kinderbücher als Belletristik zu begreifen."
Eine Aussage, die auch die Leser des
Aftonbladets zu teilen scheinen. In einer kurz nach Bekanntwerden von Lindgrens Tod gestarteten
Umfrage, ob Lindgren des
Nobelpreis verdient hätte, antworteten
87 Prozent der Teilnehmer mit "Ja". Vielmehr: Etwa
73.000 Menschen stimmten ab - für schwedische Verhältnisse eine enorme Zahl. Nun soll eine Initiative gestartet werden, Lindgren den Preis posthum zu verleihen, was nach den geltenden Regeln allerdings verboten ist. Schließlich
erzählt das Blatt die Geschichte des
Bonnier-Verlages, der Lindgrens Bücher Ende der vierziger Jahre gleich
zweimal ablehnte. Auch dort dürfte man um die Autorin trauern - und das nicht erst seit gestern!
Marc-Christoph Wagner, Kopenhagen
Und hier der
Link des Tages. Vom 28. Januar. Astrid Lindgren (hier ein spätes
Foto) ist tot. Im Alter von 94 Jahren ist die weltbekannte und beliebte schwedische Kinderbuchautorin gestorben,
meldet dpa. Ihre anarchistischen Geschöpfe
Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Lotta aus der Krachmacherstraße, Kalle Blomquist, Ronja Räubertochter und Karlsson vom Dach und die vielen anderen haben in über 80 Ländern die Kinder seit Generationen begeistert. Nach der Autorin, die mit zahlreichen Preisen wie dem
Alternativen Nobelpreis und dem
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, ist in Schweden sogar ein
Gesetz benannt worden: die
Lex Lindgren, ein
Tierschutzgesetz.
Umstritten war sie eine Zeit lang unter den
68ern, die sich fragten, ob es legitim sei, Kindern eine Welt zu schaffen, in die sie sich vor der realen Welt flüchten können. Andere haben ihre "Brüder Löwenherz" in Kinderkliniken vorgelesen und so Kindern die Angst vorm Sterben genommen. Die kleinen Leseratten überall auf der Welt aber haben Astrid Lindgren täglich mit Waschkörben voll Briefen überschüttet und wollten zum Beispiel wissen, wo
Bullerbü liegt. Nicht die Antwort auf diese Frage, aber einiges über Astrid Lindgren, ihr Leben und Bücher gibt's auf
diesen Seiten:
Das
Projekt Runeberg der schwedischen Linköping University stellt Infos über
nordische Literatur ins Netz, und hier finden sich die Titel der Autorin im
schwedischen Original. Der Link zu
"Astrid Lindgrens World", einem Park, in dem bei Lindgren beschriebene Landschaften nachgebaut sind, funktioniert zur Zeit etwas verlangsamt, ebenso wie die
website von
Astrid Lindgren selbst. Eine
unofficial homepage of Astrid Lindgren ist hingegen erreichbar. Gästebuch, Leben, Werk, Interessen, die
schwedische Briefmarke mit Lindgren und
Links zu schwedischen Seiten finden sich hier.
Auf einer
spezielle Seite für
Pippi Langstrumpf-Fans kann man herausfinden, wie Pippi in anderen Ländern heißt, wie sie auf der schwedischen Briefmarke aussieht, wie ihre Zöpfe ganz einfach nachgemacht werden können und natürlich gibt es
Pippis Song zu hören (mit
Text) und einige
Ausschnitte aus den Filmen zu hören. Auch über das traurige Schicksal der Pippi-Schauspielerin
Inger Nilsson gibt es hier
Informationen: Sie sucht Arbeit!
Wir werden diesen Link des Tages morgen um eine
Presseschau ergänzen.
Miriam Haardt