05.06.2002. Wir exhumieren unseren Link des Tages, um auf einen langen Essay von Wolfram Schütte hinzuweisen, der findet, dass Frank Schirrmacher das "einzig Richtige" getan hat.
Der
Perlentaucher hat inzwischen so viel Material zur
Walser-Affäre gesammelt, dass wir Ihnen auf einer
eigenen Seite ein chronologisches Inhaltsverzeichnis dazu bieten.
Arno Widmanns Perlentaucher-Rezension des Walser-Buchs finden Sie
hier,
Katharina Hackers Offenen Brief an
Günter Berg, den Leiter des Suhrkamp Verlags,
hier. Und unser Kommentar zu den
Raubkopien im Netz - ist
hier.
Stand vom 31. Juli Wir exhumieren diesen "Link des Tages", um auf einen
Beitrag Wolfram Schüttes im
Titel-Magazin aufmerksam zu machen. Schütte, emeritierter Feuilletonchef der
FR, der auf nichts mehr Rücksicht nehmen muss, erzählt die Affäre unter Zuhilfenahme seines Insiderwissen gewissermaßen als Schlüsselroman ohne Verschlüsselung. Wer wie, warum handelt, erklärt sich ihm aus
Machtverhältnissen in der Medienwelt. Zumindest in diesem Punkt ist er also gar nicht so weit entfernt von der "literarisch katastrophalen Spottgeburt, die der
spermatogene Laichvorgang Walsers uns mit seinem Romanpamphlet zugemutet hat". Allerdings ist er am Ende doch auf Seiten Schirrmachers: "Auch ein
Machiavellist wie Schirrmacher, der sowohl nachrichten-journalistische Prinzipien des 'Scoops' - als erste & einzige eine News zu haben - und den
Kampagnen-Journalismus im Feuilleton, als auch eine Schubumkehr vom reaktiven Rezensions- zum aktiven, Themen setzenden Feuilleton eingeführt hat, um die Deutungshoheit der
FAZ zu markieren -: auch ein solcher feuilletonistischer Machtpolitiker
kann das moralisch
einzig Richtige tun. Und er hat es getan."
Stand vom 12. Juli Die FAZ druckt eine Rede Marcel Reich-Ranickis vor der Münchner Universität, wo er über seine Trauer und Angst angesichts der Affäre spricht. Mehr
hier.
Stand vom 10. Juli In der
SZ weist
Martin Mosebach in
Martin Walsers "Tod eines Kritikers" die typischen Mängel von
Schlüsselromanen nach. In der
taz trägt
Diedrich Diederichsen "eine individuelle Symptomdichte wie bei
Walser in eine
politische Symptomatologie" ein. Siehe unsere
Presseschau vom Tage.
Stand vom 9. Juli In einem Gespräch mit der polnischen Zeitung
Gazeta Wyborcza, das die Welt ausführlich
zitiert, nimmt
Günter Grass seinen Kollegen
Martin Walser in Schutz und beschuldigt die
FAZ, eine
"widerliche Kampagne" lanciert zu haben. Zu Walser sagt er: "Oft haben wir sehr verschiedene Ansichten, aber ein Antisemit ist er nicht! ... Im Gegenteil: Er ist sich der
deutschen Schuld in solch großem Maße bewusst, dass er sich gern von ihr
befreien würde." Nebenbei kritisiert Grass den Zustand der deutschen
Literaturkritik: "Und
Marcel Reich-Ranicki ist dafür mitverantwortlich. Er hat die Trivialisierung der Kritik herbeigeführt. Meine Vorwürfe haben nichts damit zu tun, dass er Jude ist. Er ist ein
schwacher Literaturkritiker."
Stand vom 6. Juli Die
FAZ spießt
Joachim Kaisers Interview in der
Jungen Welt auf. Siehe unsere
Presseschau vom Tage.
Stand vom 5. Juli In der
SZ nimmt
Georg Klein Walsers "Tod eines Kritikers" zum Anlass für eine Philippika gegen den
Literaturbetrieb. Die
taz beklagt ein Interview, das
Joachim Kaiser der rechtsnationalen
Jungen Freiheit gegeben hat. Links und Zitate in unserer
Presseschau vom Tage.
Stand vom 4. Juli In der
Zeit meditiert
Salomon Korn über das
"Unbehagen am Unbehagen" zwischen Deutschen und Juden. In der
FAZ gibt
Jan Philipp Reemtsma zu, dass er sich an der
falschen Nase kratzte. Aber "an dem ändert das nichts". Siehe unsere
Presseschau vom Tage.
Der
Buchreport meldet, dass Walsers Roman Platz 1 der
Bestsellerliste entert.
Stand vom 3. Juli Die
Nasen-Affäre nimmt ihren Lauf. Auch die
NZZ weist nach, dass die
"feine Nase" kaum als Beweis für Antisemitismus dienen kann. Siehe unsere
Presseschau vom Tage.
Stand vom 1. Juli Im
Merkur zeigt sich
Karl Heinz Bohrer enttäuscht von der Walser-Affäre: "Skandale, die den Namen verdienen, setzen zweierlei voraus: eine kapitale
künstlerische Provokation (siehe Surrealismus, siehe Botho Strauß) und eine bürgerliche Gesellschaft, die
Ideale hat. Beides ist in Deutschland nicht mehr gegeben. Die Antagonisten stammen aus de gleichen Medienmilieu, wobei sich der eine Teil zur
Sittenpolizei erklärte, die ihre Bigotterien für notwendige politische Tugend hält. Was zurückbleibt, ist die Erinnerung an eine
Farce, in der vornehmlich das alte Personal der literarischen Republik noch einmal auftrat und sich die Ehre gab."
Stand vom 28. Juni Im
Tages-Anzeiger weist Martin Ebel als erster nach, dass Reemtsma sich geirrt hat. Die
"feine Nase", die er als paradoxen Beleg für Walsers Antisemitismus gewertet hatte, gehört in Walsers Roman gar keinem Juden, sondern dem Schriftsteller
Hans Lach gehört. "Spricht vielleicht auch
Voreingenommenheit aus dem Lesefehler, der Reemtsma unterläuft, wenn er feinsinnig über die 'starke, aber feine Nase' des jüdischen Kritikers reflektiert und den besonders raffinierten Antisemitismus dieser Passage herausarbeitet - einer Passage, die sich zweifelsfrei auf den mutmaßlichen Mörder-Autor, auf Hans Lach bezieht? Das sind Irrtümer, die
nachdenklich machen."
Stand vom 27. Juni In der
FAZ wiederholt Jan Philipp Reemtsma auf anderthalb Seiten den Antisemitismus-Vorwurf gegen Walsers Roman. In der
FR schreibt
Ruth Klüger einen offenen Brief an Walser. Als Beweis dient unter anderem die "so kräftige wie
feine Nase", welche Walser laut Reemtsma Andre Ehrl-Königs Vater attestiert. Ein
Verleser, wie sich später herausstellen wird. Und
Jochen Hörisch bespricht den Roman. Die Zitate finden Sie in unserer
Presseschau vom Tage.
In der
Welt schreibt Tilman Krause: "Es ist natürlich ein satirisch überzeichnetes Bild des Literaturbetriebs, das Walser hier entwirft. Und nicht nur, was Andre Ehrl-König angeht, überschreiten die Überzeichnungen mehrmals die Grenzen des
guten Geschmacks. Das scheint, teilweise jedenfalls, auch
Martin Walser eingesehen zu haben. Wie sonst soll man sich erklären, dass in der Druckfassung Ehrl-Königs 'große
rote Ohren', die 'vor jedem Auftritt blassgepudert' werden müssen, dem
Rotstift zum Opfer gefallen sind?"
Und Peter von Becker
meint im
Tagesspiegel: "Nein, Walser denunziert keinen Juden, sondern will den Großkritiker als
Heiliges Monster, als monstre sacre vorführen. Und weil die von ihm geschilderte literarische Welt im Klartext
viel zu harmlos und undämonisch wirkt, sucht Walser die Konstruktion der doppelten Wirklichkeit, des sich selbst erfindenden Kolporteurs."
Zudem finden wir im
Literatur-Cafe ein
Interview mit dem kaufmännischen Geschäftsführer des Suhrkamp Verlags
Philip Roeder über die im Netz zirkulierenden
Raubkopien. Im Weblog
Schockwellenreiter war ein
Link auf solch eine Kopie gesetzt worden. Der Verlag ging dagegen vor. Roeder gibt sich allerdings
gelassen: "Ich glaube, die klassische Walser-Klientel wird den Roman sicher nicht
am Bildschirm lesen wollen - und wahrscheinlich auch nicht ausdrucken. Das ist ja eigentlich auch absurd, dass man sich einen Text herunterlädt und dann wieder ausdruckt. Daher glaube ich nicht, dass ein großer
ökonomischer Schaden entsteht."
Stand vom 26. Juni
Suhrkamp liefert den Roman aus. Siehe unsere
Presseschau vom Tage.
Stand vom 24. Juni Sigrid Löffler schreibt in
Literaturen: "Walsers Buch ist
kein Skandal. Es ist weder antisemitisch noch ein Dokument des Hasses. Es ist ein Dokument der gekränkten, aber umso
besesseneren Hassliebe eines Autors zu seinem lebenslangen Leibkritiker und Intimfeind - und insofern unklug; es ist eine ins Dämonische verzerrte Bloßstellung aller wohlbekannten Charakterschwächen und menschlichen Defizite dieses Kritikers - und insofern degoutant ... es ist eine Entlarvung der Mechanismen des Literatur- und Medienbetriebs unter den Bedingungen des Fernsehens - und insofern
gnadenlos klug und fast prophetisch." Prophetisch, weil Walser eben jene medialen Prozesse der Ausschließung und Diffamierung analysiere, deren Opfer er nun selbst geworden sei.
Außerdem unterrichtet uns
Wolfram Schütte, ehemals Feuilletonchef der
FR, dass er im
Titel-Magazin einen
ausführlichen Essay über Martin Walser ins Netz gestellt hat, den er nach Walsers
Friedenspreisrede von 1998 geschrieben hat. Letzter Satz: "
Ignatz Bubis ist zurecht in der Paulskirche sitzen geblieben".
Stand vom 14. Juni
Einige Tage sind ins Land gegangen. Die Lage hat sich merklich
beruhigt. Man leckt die Wunden und zieht Bilanz. In der
SZ kommt kommt
Michael Brenner noch mal auf die Walser- und die Möllemann-Affären zurück, in der
FR Heinz Bude (
siehe unsere
Presseschau). Vorgestern meldete sich noch einmal
Günter Grass mit einer Verteidigung Walsers gegen den Antisemitismus-Vorwurf, wie unter anderem
Spiegel-Online berichtete.
Und gestern kam die Meldung, dass
Raubkopien des Romans "Tod eines Kritikers" ins Internet gestellt wurden. Die
Netzeitung etwa
berichtete und gab einen Link auf ein
Weblog, das den Roman mit den Worten "Lies es jetzt, kauf es niemals" zugänglich machte. Dieser Link funktioniert inzwischen nicht mehr, denn
Suhrkamp will gegen alle Verletzungen dees
Urheberrechts vorgehen. Auch
Heise Online (der Internetdienst der Cumputerzeitschrift
c't)
berichtete und verwies auf einen interessanten
Hintergrundartikel aus seinem Archiv, in dem aufgedeckt wurde, dass inzwischen nicht nur CDs und Filme, sondern auch eine
ganze Menge Bücher im Netz zirkulieren - allerdings zumeist im
pdf-Format, während Suhrkamp Walsers Roman als
Word-Datei verschickt hatte. Kleiner
Kommentar gefällig?
Stand vom 10. Juni
Ein neues Wochenende ist ins Land gegangen. Dankenswerterweise
erzählt uns Eckhard Fuhr in der
Welt schon mal die näheren Umstände des nächsten
Reich-Ranicki-Mords in der deutschen Literaturgeschichte, in
Bodo Kirchhoffs demnächst erscheinendem "Schundroman": "Diesmal stirbt der Kritiker wirklich. Er heißt
Louis Freytag. Jeder Leser wird in ihm Marcel Reich-Ranicki erkennen. Er wird aus Versehen umgebracht. Es ist eher ein Unfall. Im Gedränge einer Flughafenhalle trifft ihn ein
tödlicher Ellbogenstoß auf die Nase, während er in der Zeitung sein eigenes Bild betrachtet. Der Ellbogen gehört einem
Auftragskiller, der es auf etwas ganz anderes, nicht auf den Kritiker abgesehen hat. Es geraten zwei Schriftsteller in den Verdacht des Kritiker-Mordes. Von einem der beiden heißt es, er arbeite an einem Manuskript
'Tod eines Kritikers'."
Und sonst: Im
Profil äußern sich
Klaus Theweleit und
Luc Bondy zur Affäre (siehe unsere
Magazinschau). Die
NZZ brachte am Sonntag eine
Blütenlese des
Reich-Ranicki-Hasses in dreißig jahren deutscher Literatur (mit Zitaten von
Handke,
Heißenbüttel und
Gremliza).
Stand vom 8. Juni In einem
Text des 37-jährigen Autors
Norbert Kron (
"Autopilot") in der
Literarischen Welt schimmert, angenehm ehrlich, ein
gewisser Neid auf die großen Alten des Betriebs durch: "Doch es ist ein anderer Gedanke, der einem am Ende eines solchen Jungautorenstammtisches nicht aus dem Kopf geht. Wir, die hier beisammensitzen, sind zwischen 30 und 40 - und es ist die verblüffende,
verstörende Wahrheit, dass noch immer die
60- bis 80-Jährigen die Richtungsdebatten in Deutschland auslösen. Ob
Walsers Rede in der Frankfurter Paulskirche, ob
Grass' Buch zur Flüchtlingsthematik oder
Handkes Äußerungen zum Serbien-Krieg: Wer von den Jüngeren hätte in den letzten zehn Jahren einen
ähnlichen Skandal ausgelöst - oder ein halb so vieldiskutiertes Buch geschrieben?" Kein Houellebecq in Sicht?
Stand vom 7. Juni Die
SZ meldet, dass Walser seinen Roman "Tod eines Kritikers" ab dem 10. Juni in Auszügen im
Deutschlandradio lesen wird.
Stand vom 6. Juni
Katharina Hacker, Autorin des
Suhrkamp Verlags publiziert im Perlentaucher einen
Offenen Brief an
Günter Berg, den Leiter des Verlag.
Unsere Presseschau mit Raktionen der
Zeit, der
FAZ, der
SZ, der
FR, der
taz und der
NZZ finden Sie
hier:
In der
Welt kommentiert Matthias Kamann
Marcel Reich-Ranickis Auftritt in seine "Solo"-Sendung und die wiederholte Attacke gegen Walser: "Wann hätte Reich-Ranicki je eine Anklage von solchem Gewicht erhoben? Wann hätte er gesagt, was dem Satz 'meine Frau und ich sind tief getroffen' vergleichbar wäre? Kein Zweifel: Hier sprach ein
völlig anderer Marcel Reich-Ranicki. Einer, der sich
leidend gezwungen sah, Position zu beziehen in einem Antisemitismus-Streit, in dem er zum Opfer geworden scheint, fatal reduziert darauf, Jude zu sein." Und Eckhard Fuhr
schreibt über die Entscheidung des
Suhrkamp Verlags: "Die Tradition der Aufklärung jedenfalls, auf die sich das Haus Suhrkamp beruft, gebietet die Entscheidung, die jetzt gefallen ist."
Stand vom 5. Juni Am Mittwochvormittag kam die erlösende Meldung: Der
Suhrkamp Verlag hat sich entschlossen,
Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" zu veröffentlichen.
Marcel Reich-Ranicki nannte die Entscheidung laut einer
dpa-
Meldung, die wir bei
Yahoo finden, "bedauerlich", aber keinen Skandal. In seiner gestrigen "Solo"-Sendung hatte MRR seine
Antisemitismusvorwürfe gegen das Buch noch einmal wiederholt und Suhrkamp aufgefordert, das Buch nicht zu bringen. Die Mitteilung des
Suhrkamp Verlags finden Sie
hier.
Auch die
Tagesthemen brachten am Abend einen ausführlichen Bericht, den man sich auf
dieser Seite mit Real Player ansehen kann
Hier noch ein paar interessante Artikel vom Morgen des 5. Juni. In der
Welt klagt Eckhard Fuhr: "Im Streit um Martin Walsers noch nicht erschienenes Buch 'Tod eines Kritikers', der die Feuilletons seit Tagen in Atem hält, sieht sich das
Publikum in die Rolle eines
unmündigen Zaungastes gedrängt." In der selben Zeitung die
Meldung von Walsers Umzugsgedanken. Abgeblich überlegt er, nach Österreich zu emigrieren. Ebenfalls in der Welt: Georg Klein (mehr
hier)
kritisiert im Interview
Frank Schirrmacher: "Alle, die bei
Suhrkamp Arbeit im Interesse der Leser und Autoren machen wollen, sind ohne eigenes Verschulden unter einen enormen Druck geraten. Sie werden zu einem Spiel gezwungen, das sie nicht gewollt haben, das sie nicht haben kommen sehen. Ich vermute, Frank Schirrmacher, der für das Feuilleton verantwortliche Mitherausgeber der
FAZ, hat dagegen das Spiel bekommen, das er gewollt und initiiert hat. Jetzt bin ich gespannt, ob und wie er sich dem weiteren Verlauf stellt."
Harald Jähner
schreibt in der
Berliner Zeitung, über den Suhrkamp-Verlagsleiter
Günter Berg, der die Verlagskrise ohne den erkrankten Verlger
Siegfried Unseld durchstehen musste: "Wenn Berg heute zu seiner Entscheidung steht, dann wäre der letzte Rest der berühmten
'Suhrkamp-Kultur' erst einmal gerettet.
Urs Allemann beklagt in der
Basler Zeitung die Manipulation der Wahrnehmung, die Schirrmacher auch bei den Kritikern durch seine nicht zu überprüfende Vorverurteilung bewirkte: "Es ist Frank Schirrmacher gelungen (ich verüble es ihm), auch mich auf Zeit vom Leser zum
Ermittlungsbeamten umzufunktionieren. Ich habe den Text von Walsers Roman nur
scheinbar frei, in Wirklichkeit aber in einer Dependance des Polizeilabors gelesen - mit der Lupe nach Belastungs- und Entlastungsmaterial forschend. Das ist ein Unrecht gegen das Buch, für das ich mich bei dessen Autor hier entschuldigen möchte."