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Lettre Ulysses Award 2005

Für die Revolution sterben: Eine Reportage von Ricardo Uceda
10.10.2005. "Für uns wurde die Folter zu einer Arbeitsmethode. Du siehst sie als eine Herausforderung und zugleich als eine unangenehme Arbeit an." Am Sonntag wird der Lettre Ulysses Award für literarische Reportage zum dritten Mal verliehen. Aus der Shortlist bringen wir vorab einen großen Auszug aus einer Reportage des peruanischen Journalisten Ricardo Uceda, der jahrelang über den brutalen Kampf seines Landes und der Guerilla-Organisation "Leuchtender Pfad" recherchierte.
Am 15. Oktober 2005 wird zum dritten Mal der einzige internationale Preis für Reportagen, der Lettre Ulysses Award, verliehen. Sieben Autoren haben es in die Endrunde geschafft. Wir veröffentlichen hier einen langen Auszug aus Ricardo Ucedas Reportage "Verhöre in den Anden". Mehr Informationen zu Ucedas Buch und über alle anderen Autoren der Shortlist des Preises finden Sie auf der Website des Lettre Ulysses Awards.


Verhöre in den Anden

Wo sich ihr Traum erfüllte: für die Revolution zu sterben. Von Ricardo Uceda


Auf einmal änderte sich für ihn alles. Vorbei war es damit, Informationen auf den Straßen von Ayacucho zu sammeln und hin und wieder ein paar Verhöre durchzuführen. An einem Morgen, es war Mitte April, verlangte Kommandant Paz von Jesus Sosa, ihn zu begleiten. Mehr sagte er nicht. Sie fuhren zum Flughafen, wo ein Hubschrauber der Peruanischen Luftwaffe (Fuerza Aerea Peruana - FAP) auf sie wartete. Sie flogen nach Cangallo im Zentrum des Verwaltungsbezirks. In der Luft erfuhr der Geheimagent, ihr Ziel sei ein Ort, wo es ständig subversive Unruhen gebe. Paz plante, sich ein paar Gefangene anzusehen: Er wollte sie sich vornehmen und hören, ob er sie ein wenig zum Singen brachte, um aus ihnen die eine oder andere Information herauszuholen, die ihn aus der unangenehmen Lage befreien könnte, in Huamanga herumzusitzen und Schüsse ins Blaue abzugeben.

Sie landeten in Totos, einem Kaff mit vier Straßen, das 3.200 Meter über dem Meeresspiegel an einem Berghang liegt und wo die Durchschnittstemperatur zehn Grad beträgt. Unterhalb des Ortes zieht sich ein seichter Fluß entlang, dessen Bett ihn von Veracruz trennt, einer anderen Ortschaft, die genauso öde und trübselig ist. Eine Holzbrücke verband beide Ufer; sie wurde nur von Fußgängern und Tieren benutzt, denn in diesen Gegenden fuhren nicht einmal Karren. Die Waren kamen auf Lamarücken vom Markt, aus Paras, das sich in einer Entfernung von vier Stunden Fußmarsch befindet. Hier, wo sich der Sendero Luminoso, der Leuchtende Pfad, ganz nach Belieben bewegen konnte, hatte General Noel einen seiner ersten Operationsstützpunkte zur Subversionsbekämpfung eingerichtet. Er stand unter dem Kommando des Infanteriehauptmanns Santiago Picon Pesantes, der sich selbst den Decknamen "Schakal" gegeben hatte. Am 5. April besetzten Schakal und seine fünfzig Soldaten die einzige Mittelschule von Totos. Schüler und Lehrer hatten das Gebäude geräumt. Die meisten der wenigen Schüler, die in Totos geblieben waren, liefen morgens über die Brücke nach Veracruz und erhielten dort ihren Unterricht.

Am Stützpunkt wurden Paz und Sosa von Schakal und Goytizolo erwartet, einem Hauptmann des Nachrichtendienstes der Paz unterstehenden Abteilung. Die beiden energischen und umgänglichen Hauptleute passten gut zusammen. Bevor sie den Stützpunkt für antisubversive Operationen in Totos einrichteten, hatten sie Spähtruppunternehmen durchgeführt, bei denen sie zahlreiche Gewaltakte verübten, damit man ihre Anwesenheit in diesem Gebiet zur Kenntnis nahm. Sie hatten fünf Gefangene am Leben gelassen: jene Männer, die sich Paz ansehen wollte.

Die Militärs hegten nicht den geringsten Zweifel, dass ihre Häftlinge zur Guerilla gehörten. Diese waren in einem Klassenzimmer der ehemaligen Schule eingesperrt, das nun als Gefängnis benutzt wurde. In jeder Ecke saß einer mit einer Kapuze über dem Kopf und auf dem Rücken gefesselten Händen. In der Mitte des Raums hatte man den angeblichen politischen oder militärischen Führer an eine Säule gebunden. Sie alle waren Bauernsöhne und zwischen 25 und 28 Jahren alt, außer einem, der erst annähernd zwanzig war. Paz wandte sich an den in der Mitte. Er trat ihn leicht ans Bein, damit der andere merkte, dass er mit ihm sprechen wollte.

"Kamerad, wie heißt du?"
"Chef, Chef, ich weiß nichts, Chef", sagte der, während er den Kopf unter der Kapuze schüttelte.

Der Kommandant befragte nacheinander die Häftlinge. Man hatte sie noch nicht ordnungsgemäß verhört, und alle antworteten, dass sie unschuldig seien. Während Paz mit ihnen sprach, sahen Schakal und Goytizolo zu. Jesus Sosa stand beiseite.

Nach einer Weile wandte sich der Kommandant von den Gefangenen ab und ging zu seinen Leuten. Sie traten auf den früheren Schulhof hinaus. An einer Seite hatte man unter einem Laubdach den Speisesaal der Truppe eingerichtet. Ein kleineres Laubdach schützte die Küche. Die Offiziere speisten unter freiem Himmel am anderen Hofende; sie saßen auf Bänken an mehreren Tischen. Paz nahm Goytizolo zur Seite, und sie unterhielten sich einen Augenblick. Als sie sich trennten, rief der Kommandant Jesus Sosa zu sich.

"Kleiner", sagte er, "du löst den Hauptmann ab."
Der Agent reagierte überrascht.
"Aber, Herr Kommandant, Sie haben mir nichts gesagt. Ich habe nichts mitgebracht. Sehen Sie, bloß meine Jacke."
"Mach dir keine Sorgen. Hier brauchst du nicht viel. Später schicke ich dir deine Sachen. Das ist für eine Woche. Danach kommt ein anderer und löst dich ab."
Sosa fügte sich dem Befehl, doch er hatte seine Überraschung noch nicht verwunden. Warum kehrte Goytizolo nach Huamanga zurück?

Nachdem ihn Paz allein gelassen hatte, ging Goytizolo zu Jesus Sosa. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihm den Schnurrbart ans Ohr. Wenn man sie so zusammen sah, bildeten sie ein ungleiches Paar: Der Hauptmann war groß und sehr kräftig und der Geheimagent ein Winzling. Er hatte bei weitem noch nicht die Boxerschultern, die er später bekommen würde.

Bei dieser Gelegenheit sprach er zum ersten Mal mit dem Hauptmann, denn im Februar und März, während Sosa als Straßenverkäufer gearbeitet und seine ersten Gehversuche in der Abteilung gemacht hatte, beteiligte sich Goytizolo an den Einsätzen in den Landgebieten, die die Truppen der Kaserne Los Cabitos gegen den Sendero Luminoso durchgeführt hatten. Der Hauptmann war der einzige Offizier des Nachrichtendienstes, der eingriff, wo es brannte, während die übrigen - Paz, Coral, Vasquez - Büroarbeit leisteten und die Agenten führten. Anders als bei den Ereignissen Anfang Januar war Goytizolo nun offenbar derjenige, der am meisten über die Subversion wusste. Dieser Offizier schien wie geschaffen für Sondereinsätze, was so weit ging, dass er es verabscheute, Aktennotizen und Geheimdienstmeldungen zu schreiben. Er hatte eine direkte und herzliche Beziehung zu den Agenten, die ihn schätzten und "Onkel Goyti" nannten. So war es ihm lieber. Manchmal redete ihn ein neuer Agent mit seinem Dienstgrad an: "Herr Hauptmann." Und er antwortete mit seiner Stentorstimme:

"Hören Sie mal, verdammich! Sie wissen wohl nicht, dass man beim Nachrichtendienst keine Dienstgrade verrät? Sagen Sie einfach Goytizolo zu mir. Oder sonst nennen Sie mich wie die Jungs: Onkel Goyti."

Der Hauptmann sprach Jesus Sosa freundlich an.
"Kleiner, du löst mich ab. Und du wirst für alle Hauptmann Bazan sein. Außer natürlich für Schakal. Der weiß ja genau, wer du bist. Aber die übrigen werden glauben, dass du Hauptmann bist. Mir würde es auf die Eier gehen, wenn mich ein Unteroffizier ablöste, wo ich doch Hauptmann bin."

Jesus Sosa nickte zustimmend. Am Stützpunkt gab es außer Schakal einen Oberleutnant und zwei Leutnants der Reserve sowie einen Sanitätsunteroffizier. Die übrigen gehörten zu den Mannschaften. Im Nachrichtendienst war es eine übliche Methode, Dienstgrade und Namen geheimzuhalten. Alle im Stützpunkt benutzten Decknamen.

Anschließend rief Goytizolo die Offiziere nacheinander zu sich.
"Hauptmann Bazan, Oberleutnant Negro", stellte er vor, als ein athletischer Pilot des Heeres herankam. Dann folgte ein kleiner Dicker mit lebhaft funkelnden Augen.
"Und das ist Leutnant Frejolito. Frejolito, Hauptmann Bazan."
Später kam der dritte:
"Hauptmann, ich möchte Ihnen Leutnant Vizcacha vorstellen."

Damit waren die Vorstellungen zu Ende, und Jesus Sosa wusste immer noch nicht, warum Goytizolo nach Huamanga zurückkehrte. Er fragte sich auch, aus welchem Grund Kommandant Pato ausgerechnet ihn ausgesucht hatte. "Vielleicht", dachte er, "glaubt Paz, dass ich Vasquez zuviel Ärger mache, und auf diesem Weg wird er mich los. Oder vielleicht war ich einfach da, als Onkel Goyti beschloss, noch heute morgen aus diesem Scheißkaff zu verschwinden."

Zwei Monate später hatte Jesus Sosa genug von Totos. Aus der Abteilung kam jedoch kein Befehl, dass er zurückkehren sollte. Die erste Woche war abgelaufen, ohne dass man eine Ablösung für ihn geschickt hatte, und dann verging eine zweite Woche, an deren Ende er für ein paar Tage nach Huamanga zurückkehrte. Dort traf er mit Goytizolo zusammen.

Der Hauptmann sagte zu ihm:
"In der Gegend zu sein, aus der du jetzt kommst, ist ein Scheißdreck. Das habe ich Pato gesagt, der mich wieder hinschicken wollte."

In diesen Tagen bemerkte Jesus Sosa, dass sich der Hauptmann verändert hatte. Er schien nicht ganz richtig im Kopf. Ganze Stunden verbrachte er auf dem Dach, manchmal halb nackt, und hielt besorgt Ausschau, ob vielleicht ein terroristischer Angriff bevorstand. Ab und zu blieb er bis in die Nacht wach und begleitete den diensthabenden Unteroffizier. Dabei hatte er ein Gewehr in Reichweite, und er trug seine unerlässliche Zigarettenschachtel bei sich. Er schwatzte mehr als früher, und immerzu erzählte er blutrünstige Geschichten von Zusammenstößen mit Terroristen.

"Onkel Goyti ist mit den Nerven fertig", kommentierten die Agenten. Das verstanden sie, denn er hatte lange an Spähtruppunternehmen teilgenommen.

Als Jesus Sosa wieder in Totos war, blieb er anderthalb Monate, ohne nach Huamanga zurückzukehren. Der Agent begriff zum ersten Mal, wie vernünftig die Kommandeure der Marineinfanteristen handelten, die die Seestreitkräfte in Huanta stationiert hatten: Man schickte sie nach genau einem Monat Dienst im Unruhegebiet wieder nach Lima, damit sie sich erholten und zur Normalität zurückfanden. Um ihn kümmerte sich Paz hingegen nicht, obwohl er nun bald zwei Monate auf dem Stützpunkt zugebracht hatte. In der zweiten Juniwoche hatte Sosa dem Kommandanten über Funk mitgeteilt, dass der 15. sein Geburtstag sei und dass er ihn in Huamanga verbringen wolle. Paz bot an, ihn abzulösen, doch als der Tag kam, brachte der Hubschrauber keinen Ersatzmann für ihn. Da stieg er in die Maschine, bevor sie in die Stadt zurückflog, ohne bei jemandem nachzufragen.

An diesem Tag wurde Jesus Sosa 24 Jahre alt. Er betrank sich mit Nelson Carbajal - Petete - und kletterte schließlich auf das Pferd des Denkmals, das Marschall Antonio Jose de Sucre darstellt und auf dem Hauptplatz von Huamanga steht. Man erteilte ihm keinen Verweis, weil er ohne Befehl zurückgekommen war, doch drei Tage danach wurde er wieder nach Totos geschickt, was er nicht vorausgesehen hatte. Für wie lange noch? Er wusste es nicht.

Beim Rückflug wurde ihm klar, was man von ihm auf der "Trauminsel" erwartete - Totos war in der Kaserne "Los Cabitos" und in der Abteilung bereits unter dem Namen der berühmten Fernsehserie Fantasy Island bekannt. Es hieß, dass Totos wie im Film ein magischer Ort sei, wo Wünsche in Erfüllung gingen. Die Terroristen könnten dort ihren Traum verwirklichen: für die Revolution zu sterben.

Und Totos, witzelte man, habe auch seinen Tattoo, den gastfreundlichen Zwerg aus Fantasy Island. Das war Jesus Sosa. Während dieser Monate verzichtete man in der Abteilung darauf, ihm den Spitznamen "Kleiner" zu geben. Nun nannte man ihn "Tattoo". "Tattoo" hieß es hier, und "Tattoo" hieß es dort.

Schick mir zwei Hammel ?
Als Paz zwei Monate zuvor Jesus Sosa in Totos zurückgelassen hatte, hatte er ihm Anweisungen gegeben, bevor er in den Hubschrauber stieg, um nach Huamanga zurückzufliegen.
"Solange du hier bleibst, bist du für die Gefangenen zuständig. Du musst sie verhören. Jede Information, die für unsere Arbeit in Huamanga nützlich ist, schickst du über Funk an die Abteilung. Das übrige schreibst du in einer dienstlichen Meldung. Wir schätzen dann die Lage jedes Häftlings ein: ob man nach ihnen sucht, ob ihre Angehörigen Krach schlagen, ob niemand nach ihnen fragt und so weiter. Und davon ausgehend entscheiden wir über ihr Schicksal. Jeder Gefangene bekommt eine Nummer, die du und ich kennen. Wenn ich dir sage, schick mir zwei Hammel, heißt das, dass die Nummer zwei abgeht. Wenn ich sieben von dir haben will, ist das die Nummer sieben. Verstehst du?"

"Jawohl, Herr Kommandant."

"Also, dann schicke ich dir Gefangene mit Nummern, die ich festlege. Diese Nummer kann eine sein, die wir für einen anderen benutzt haben, der schon abgegangen ist. Nehmen wir an, dass du die Zwei abserviert hast: Es ist gut möglich, dass bei den Neuen einer mit derselben Nummer dabei ist. Kannst du mir folgen?"

"Jawohl, Herr Kommandant."

"Pass auf, deine Arbeit hier ist unabhängig von der, die du sonst am Stützpunkt erledigst. Du unterstehst direkt mir. Natürlich hilfst du Schakal beim Nachrichtendienst."

Der Agent begriff, dass man ihm eine ungeheure Verantwortung aufbürdete. Wieder einmal fragte er sich: Warum hatten sie ihn ausgesucht? Vielleicht, weil er verantwortungsbewusst und gründlich war. Andererseits hatte er bisher, nach erst zwei Monaten im Unruhegebiet, noch recht wenig über den Sendero Luminoso und über die Wesensart der Leute von Ayacucho erfahren. Außerdem hatte er noch nie jemanden verhört.

Als Kommandant Paz mit dem Hubschrauber davonflog, fühlte er sich verlassen und ungewöhnlich vereinsamt. Er drehte sich zu Schakal um, der ihm einen prüfenden Blick zuwarf. Der Hauptmann ging zu ihm.

"Wie geht's?" fragte er.
"Gut, Herr Hauptmann."
"Leg dir einen Decknamen zu."
"Einverstanden, Herr Hauptmann."
"Woher bist du?"
"Aus Chiclayo."
"Dann bist du aus dem Norden, wie ich." Schakal kam aus Cajamarca. "Klarer Fall: paisano. Wir nennen dich 'Paisano'."

Schakal entfernte sich. Dann drehte er sich jedoch um, als erinnerte er sich an etwas.
"Noch etwas", setzte er hinzu. "Ich habe drei Patrouillen, die der Oberleutnant und die Leutnants führen. Zwei sind ständig im Einsatz, und eine bleibt in Reserve. Ich kann noch eine Patrouille zusammenstellen, damit du sie führst. Was meinst du?"
"In Ordnung", sagte Sosa.

In diesem Augenblick dachte er, dass er mit dem Hauptmann gut auskommen würde. Wenigstens das war ein Pluspunkt für ihn.

Seine erste eigene Aufgabe war es, aus den fünf Gefangenen etwas herauszuholen. Er konnte entscheiden, wie er das machte, allerdings beschränkte sich seine Handlungsfreiheit auf die Methoden, mit denen er die Sendero-Kämpfer verhörte. Die Chefs würden entscheiden, wann sie den Abgang machen sollten, denn diese Gefangenen am Stützpunkt waren, obwohl das niemand laut sagte, so gut wie tot. In dem Bericht, den Schakal nach "Los Cabitos" schickte, nachdem sie diese Männer bei ihren Spähtruppunternehmen gefangengenommen hatten, wurden sie unter ihren tatsächlichen oder erfundenen Decknamen als feindliche Verluste aufgeführt. Für Jesus Sosa gehörten sie also gar nicht mehr zu dieser Welt, und vor dem Tod sollten sie die subversiven Elemente des Gebiets verraten.

Die Gefangenen waren möglicherweise Nicolas Tueros Condori, Primitivo Tucno Medina, Julio Godoy Bellido, Roberto Lopez Leon und Marcelino Zamora, deren Namen in der offiziellen Vermisstenliste auftauchen. Diese Annahme stützt sich auf die Erinnerungen Jesus Sosas, der zwar eine Hauptrolle bei den Ereignissen spielte, aber nicht in der Lage ist, sich an alle Gefangenen zu erinnern, mit denen er es zu tun bekam, und es kann durchaus sein, dass er die Namen und das Aussehen der einzelnen vergessen hat oder verwechselt. Mehrere Jahre lang führte er eine persönliche Liste der angeblichen Sendero-Kämpfer, für die er zuständig war, doch er hat sie 1996 verbrannt. Im Lauf der Zeit geraten Namen und Gesichter durcheinander, was so weit geht, dass der ehemalige Agent heute nicht mehr weiß, wen er als ersten auf den Hof des Stützpunkts zum Verhör geholt hat.

Er beschloss, Schritt für Schritt vorzugehen, und fragte sie zunächst nach ihren grundlegenden persönlichen Daten, um dann unterschiedlichen Druck auf sie auszuüben, je nachdem, wie sie sich verhielten. Ihn beunruhigte, dass er nichts von der Struktur des Sendero Luminoso wusste, denn ihm konnten sehr bald die Fragen ausgehen, oder ihm fehlten zuverlässige Anhaltspunkte, um die Aussagen zu bewerten. Er überprüfte das Material, das Goytizolo hinterlassen hatte: Namen und ein paar Lebensdaten. Das ließ er sich als erstes von jedem einzelnen bestätigen. Dann bat er sie in herzlichem Ton, ihm zu sagen, wer sie für die Partei geworben habe.

"Ich kann dir garantieren, dass du, wenn du mit uns zusammenarbeitest, ein freier Mann bist", versicherte er. "Wenn du nicht mitmachst, müssen wir dich mit Gewalt zum Sprechen bringen. Hier am Stützpunkt gibt es ein paar brutale Burschen. Und ich selber bin ein Scheißkerl. Wenn du nicht mitmachst, verlierst du am Ende alles: Schließlich redest du doch, und dazu bleibst du eingesperrt, oder wir legen dich um. Denk darüber nach. Denk an dich und deine Familie."

Zwei Gefangene erklärten sich am nächsten Tag zur Zusammenarbeit bereit, als der Agent sie nacheinander herausholte. Sosa schrieb ihre Aussagen auf und teilte sie danach Schakal mit: Namen und Adressen von Dörflern, die man sich bei den nächsten Spähtruppunternehmen vornehmen müsste. Diesen Gefangenen gab er zu essen, und er packte sie nicht hart an, sondern behandelte sie freundlich. Die übrigen wollte er mit Schlägen weichklopfen. Ein anderes Verfahren gab es nicht, wie es den Militärs und Polizisten in Ayacucho der gesunde Menschenverstand sagte.

So etwas hatte er nie zuvor getan. In der Schule gab man ihnen einen Lehrgang über Verhöre, bei dem man ihnen Grundkenntnisse und allgemeine Methoden beibrachte. Bevor sie ihre Prüfung als Sicherheitsagenten ablegten, führten sie eine abschließende praktische Übung in Beschatten-Verfolgen- Verhaften-Verhören von imaginären Zielpersonen durch. Der am Lehrgang teilnehmende Polizeiwachtmeister Luis Llosa spielte die Rolle eines standhaften Gefangenen, und man richtete den Lichtkegel eines Scheinwerfers auf seinen Kopf, damit er auspackte. Das war eine Simulation, doch die ihn bestrahlende Hitze war dermaßen stark, dass sie sein Haar versengte. Als man die Übung beendete, stieg Rauch von Llosas Kopf auf.

Allerdings hatte Jesus Sosa in Huamanga zugesehen, wie die Polizisten der Antisubversiven Einsatzgruppe (Grupo Operativo Antisubversivo - GOAS) ihre Verhöre durchführten. Aufmerksam hatte er ihre zwei Verfahren beobachtet: Das eine bestand darin, die Gefangenen an den auf dem Rücken gefesselten Unterarmen aufzuhängen, und beim zweiten hielt man ihren Kopf unter Wasser. Das "Hängen" und der "Bottich", wie man es meistens nannte. Er beschloss, nur das "Hängen" anzuwenden, da ein geeignetes Gefäß für die zweite Methode fehlte. Ihm half ein Soldat des Stützpunkts, als er zum ersten Mal einem angeblichen Sendero-Kämpfer entsetzliche Schmerzen zufügte. Damit man einen bearbeiten konnte, schaffte man die beiden übrigen aus der Zelle fort. Sie warteten dann draußen, bis sie an die Reihe kamen, und hörten die Schreie des Gefolterten.

Jeder Häftling konnte kurze Zeit durchhalten, wenn er an einem Deckenbalken hing. Im Lauf der Zeit sollte Jesus Sosa lernen, dass die Gefolterten das Hängen auf höchst unterschiedliche Art ertrugen. Es kam auf die Kraft ihrer Arme und Gelenke an, auf ihr Gewicht und ihre Willensstärke. Diese Burschen in Totos zum Beispiel waren offenbar unschuldig. Der Agent zog sie hoch, und sie stießen durchdringende Schreie aus, doch sie gaben nicht zu, Komplizen der Guerilla zu sein.

Als der erste Arbeitstag zu Ende war, fühlte sich der Vernehmer verunsichert. Es kam ihm unwahrscheinlich vor, dass ein Mensch so viele körperliche Schmerzen aushielt, ohne ein paar Informationen zu liefern, um seine Leiden zu erleichtern. Er dachte, dass sie unschuldig sein könnten. Allerdings war es auch eine Tatsache, dass ihre Körper nicht viel wogen und dass sie kräftige Gliedmaßen hatten. Vor allem galt das für den Mann, der in der Zellenmitte angebunden war. Als er in der Luft schwebte, hielt er besser als die anderen durch, wobei ihm seine mächtigen Schultern eines Lastträgers halfen. In einem wilden Wutanfall hängte sich Jesus Sosa an ihn. Er nötigte ihm ein herzzerreißendes Gebrüll ab, aber der andere redete nicht.

Am dritten Tag änderte sich die Lage nicht, obwohl nun zum Hängen auch noch Fußtritte, Faustschläge und Schaufelhiebe auf die Fußsohlen hinzukamen. Als der Befehl eintraf, sie zu beseitigen, war Jesus Sosa zu dem Schluss gelangt, dass er bei den Verhören nicht viel mehr tun könnte, außer dass er sich ernsthaft mit der Hypothese beschäftigte, sie seien unschuldig.

"In der Zeit damals war ich nicht abgehärtet, ich konnte noch zweifeln und Mitleid mit den Verhörten empfinden", sagte Sosa in einer Erklärung, die er für diese Recherche abgab. "Aber wenn mehrere Monate vergangen sind, ziehen sich die Mitleidsgefühle in die untersten Schichten deines Bewusstseins zurück und tauchen nur ab und zu in deinen Träumen auf. Dann hast du schon gemerkt, dass bewährte Kämpfer, die mit dem größten Fanatismus, am längsten durchhalten. Für uns wurde die Folter zu einer Arbeitsmethode. Du siehst sie als eine Herausforderung und zugleich als eine unangenehme Arbeit an."

In der Nacht, in der die Hinrichtungen stattfinden sollten, stellte ihm Schakal eine Patrouille zur Verfügung. Mit ihr marschierte er zu einer Stelle bei Totos, wo sie zwei Gräber aushoben. Den Gefangenen, die weiter Kapuzen trugen, sagte er, dass sie der Polizei übergeben würden. Als sie zur Hinrichtungsstätte kamen, holte der Agent seine PPK heraus und tötete alle mit Kopfschüssen. Dabei dachte und empfand er nichts Besonderes. Unterwegs hatte er sich innerlich vorbereitet, indem er sich sagte, dass dies die einzig mögliche Strafe und dass es seine Pflicht sei. Er müsse sie tapfer erfüllen und seine Schwäche bezwingen. Er war gläubig, doch er befolgte keine der religiösen Riten, wie sie sich unter diesen Umständen anboten. Ihm kam überhaupt nicht in den Sinn, dass seine Taten das Missfallen Gottes erregen könnten.

Am 1. Mai, einem Sonntag, kam Jesus Sosa nach Huamanga. Paz hatte ihn zu sich bestellt: Er sollte im Haus von Luis Morales Ortega, einem der beiden in der Stadt tätigen Korrespondenten von El Diario de Marka, eine Bombe legen. Morales hatte das Vorgehen der Militärs in zahlreichen Artikeln angeprangert und stand auf der schwarzen Liste von "Los Cabitos". In der Kaserne beschloss man, ihm so lange zuzusetzen, bis er Huamanga verließ. Es begann mit einer Dynamitladung, die Sosa in Morales' Haus an der Straße Tres Mascaras um Mitternacht explodieren ließ. Das war einfach: Er stieg aus dem Auto - einem Passat mit Paz am Steuer -, setzte die Zündschnur der Patronen in Brand und warf die Ladung ins Haus, klebte einen Drohbrief ans Tor, den er schon fertig mitgebracht hatte, und stieg wieder ins Auto, das mit laufendem Motor auf ihn wartete. Die Explosion war drei Minuten später zu hören.

Am 31. Mai legte ein Unteroffizier der Abteilung zwei tote Hunde und daneben eine Todesdrohung vor Morales' Haus. So bereitete man gewissermaßen den Boden vor, damit man jedes Attentat auf ihn den Terroristen in die Schuhe schieben konnte. 1984 erhielt Jesus Sosa den Befehl, Morales hinzurichten, doch die Anordnung wurde an dem Morgen widerrufen, als er ihn töten wollte. Später, in demselben Jahr, beschloss die Kommandantenschule des Militärs, Morales zu ermorden, und setzte dieses Vorhaben auf ihre Agenda. Diese Anordnung wurde ebenfalls widerrufen, als der Plan ausgeführt werden sollte. Schließlich wurde der Journalist am 13. Juli 1991 erschossen, vermutlich von Militärs, als er gerade sein Haus verließ.

Damals besaß die Abteilung noch keine wichtigen Informationen über den Sendero Luminoso. In einem Interview, das der Anthropologe Jaime Urrutia für diese Recherche gab, sagte er, der im Mai 1983 sieben Tage in "Los Cabitos" festgehalten wurde, dass seine Wärter in der Kaserne nicht wussten, wonach sie ihn fragen sollten. In der zweiten Nacht unterwarfen sie ihn der Hängefolter, und dabei verlangten sie als einziges von ihm: "Erzähle, was du weißt." Am nächsten Morgen sprach Kommandant Edgar Paz mit ihm, als hätte er keine Ahnung von den Folterungen, und er bat ihn um Mitarbeit bei den Ermittlungen. In der dritten Nacht wurde Urrutia mit dem "Bottich" gefoltert, und wenn sie ihn aus dem Wasser zogen, damit er erbrechen und kurz Atem holen konnte, stellten sie ihm ebensowenig konkrete Fragen. Das einzige Neue war eine Komödie, die einer der Peiniger im schlimmsten Moment der Wasserfolter inszenierte. Der Leiter der Foltersitzung verlangte, dass man eine Pause machte, damit der "Terrorist", der Urrutia denunziert habe, wie ein aus dem Ärmel gezogenes As hereinkäme: sein "Komplize".

"Der ist es. Der ist es", sagte eine unbekannte Stimme. Der Gefangene, der eine Binde vor den Augen hatte, dachte sich, dass der Betrüger einer von den Militärs war.

In Huamanga waren die Vernehmer in "Los Cabitos" also nicht viel besser als Jesus Sosa vorbereitet, der nach der Sache mit Morales nach Totos zurückkehrte und nicht an der Verhaftung Urrutias teilnahm. In der Gruppe des SIE (Servicio de Inteligencia del Ejercito - Nachrichtdienst des Militärs) arbeitete ebenfalls kein Spezialist mit. Hauptmann Kiko konzentrierte sich auf die Führung der Abteilung und hielt sich von den Gefangenen fern. Und Unteroffizier Vergara, ein weiterer Lehrgangsteilnehmer, wurde Mitte April nach Lima zurückbeordert, nachdem es einen schwer zu durchschauenden Konflikt mit der Polizei gegeben hatte.

Dann kam ein Zeitpunkt, zu dem sich die Strategie des Militärs bei den Verhaftungen erstaunlich grundlegend veränderte. In den ersten Monaten hatte man die meisten Festgenommenen zähneknirschend der Polizei übergeben und einen Bericht des Nachrichtendienstes mitgeschickt, der ihre Vergehen und Geständnisse genau angab. Als man Jaime Urrutia und Teofila Vallejo, die Frau von Hildebrando Perez Huarancca, einem Mitglied des Sendero Luminoso, im Mai in Huamanga gleichzeitig festnahm, waren das die letzten Verhaftungen einer Periode, in der man die Legalität einigermaßen achtete. Seitdem nahmen die Entführungen im ganzen departamento zu. Niemand ahnte, dass ein großer Teil dieser Verschwundenen auf der "Trauminsel" bei Jesus Sosa untergebracht war.

Bis zum Mai hatte der Sicherheitsagent nur drei Gefangenentransporte aufgenommen, und er konnte ohne übermäßige Mühe zurechtkommen. Die plötzliche Zunahme der Flüge zwang ihn zu außerordentlich großen Anstrengungen, um Organisation und Auswertung weiterzuführen. Er konnte jedoch sein System der numerierten Hammel ordnungsgemäß beibehalten und die Abgänge, die Kommandant Pato regelmäßig mit Funksprüchen anordnete, ohne ärgerliche Zwischenfälle bewerkstelligen.

"Ich brauche Hammel zum Mittagessen", teilte ihm Paz über Funk mit. Und er nannte ihm eine Nummer. Wenn mehr als einer sterben sollte, ließ er sich auf ein Gespräch ein, damit er eine weitere Zahl hinzufügen konnte. Zum Beispiel: "Außerdem gibt Hauptmann Coral ein kleines Essen und will weitere zwei."

Einmal befahl ihm Paz, alle Gefangenen zu beseitigen. Es waren drei oder vier. Und das formulierte er so:
"Ich habe die Hammel satt. Bring mir keinen mehr."

Jagd auf die Sendero-Kämpfer

Bevor im Stützpunkt Totos eine größere Menge von Gefangenen zusammengeführt wurde, richtete sich das Leben dort nach sehr einfachen Regeln. Die Verhöre fanden nachts statt, und Jesus Sosa stand morgens zwischen sieben und neun Uhr auf. Er schlief im Funkraum, wo er auch die ersten Morgenstunden verbrachte. Wenn er gefrühstückt hatte, ging er gern nach Veracruz hinüber und unterhielt sich mit den Lehrern oder spazierte im Dorf umher. Das Mittagessen nahm er mit den Offizieren im Hof des Stützpunkts ein, und am Nachmittag vertrieb er sich die Zeit mit verschiedenen Beschäftigungen, so etwa spielte er fulbito mit den Soldaten. Wenn der Abend kam und er keine Verhöre im Gefängnis durchzuführen hatte, schloss er sich einem Gesprächskreis rund um eine Flasche Anisschnaps an. Dieser übliche Tagesrhythmus änderte sich vollständig, wenn auf einmal neue Gefangene eintrafen oder wenn man loszog, um Sendero-Kämpfer aufzuspüren. Die Haupttätigkeit der Männer des Stützpunkts bestand in Spähtruppunternehmen, und Schakal verbrachte die meiste Zeit damit, in den Bergen umherzustreifen.

Von dem Berghang aus, an dem Totos liegt, konnten die Patrouillen in vier Richtungen marschieren. Die erste Marschroute ging nach Nordosten, nach Chuschi, wo der Sendero Luminoso drei Jahre zuvor den bewaffneten Kampf eröffnet hatte. Man kletterte eine Stunde lang die Berge hinauf, kam durch kleine Weiler mit verängstigten Einwohnern und stieg danach in ein Tal hinab, in dem es einen kümmerlichen Fluss und ein paar verstreute Häuser gab. Dieser Ort hieß Tucu, und dort gabelte sich der Weg: In der einen Richtung führte er nach Chuschi und in der anderen nach Vilcanchos weiter. Die zweite Marschroute ging direkt nach Vilcanchos; dabei benutzte man einen Saumpfad, der südlich vom Stützpunkt am Rio Pampas entlang bergab verlief. Die dritte Route ging in westlicher Richtung nach Paras, und dabei stieg man in die Puna (Andenhochebene) hinauf. Und die vierte führte nach Sachabamba und anderen Ortschaften, hinter denen man ebenfalls nach Vilcanchos gelangte, wenn man einen Bogen schlug.

Totos war das kleinste von all diesen Dörfern, doch von ihm aus konnte man leicht überallhin gelangen. Außerdem wechselten die Patrouillen zwischen den einzelnen Routen hin und her, wobei sie die zahllosen Saumpfade des Gebiets benutzten, so dass sie mehrmals durch denselben Ort kommen und dieselben Gesichter, dieselben Verdächtigen beobachten konnten. Ab und zu folgten ein Zusammenstoß, eine Denunziation und Verhaftungen.

Bei den ersten Stoßtruppunternehmen nach Jesus Sosas Ankunft am Stützpunkt wollte man Verdächtige gefangennehmen; dazu gehörten mehrere, die die zur Zusammenarbeit bereiten Häftlinge verraten hatten. Das waren kurze Vorstöße; darunter verstand man zwei Tage bis eine Woche dauernde Patrouillengänge. Bis zum Dienstantritt des Agenten gab es drei Gruppen, von denen zwei ständig im Gelände unterwegs waren, während eine ausruhte. Nachdem man eine vierte Gruppe zusammengestellt hatte, ruhten jeweils zwei aus, während die zwei anderen patrouillierten: So war ihr Einsatz ausgewogener. Es schien kaum möglich, dass der Sendero Luminoso zwei Patrouillen auf einmal angriff. Wenn es zu einem Zusammenstoß kam, war es trotzdem undenkbar, dass man sich den Sendero-Kämpfern gegenüber im Nachteil befunden hätte. Mochten auch hundert von ihnen es mit einer Patrouille von 15 Soldaten aufnehmen, so war doch die Feuerkraft des Militärs weitaus größer. Jeder Soldat trug 200 Schuss Reservemunition im Tornister, dazu noch fünf Patronentaschen mit jeweils zwanzig Patronen, außerdem ein FAL-Sturmgewehr und zwei Handgranaten. Jeder zweite Mann hatte überdies instalazas, Gefechtsgranaten mit großer Reichweite. Die Waffen einer Sendero-Kompanie bestanden lediglich aus ein paar Schnellfeuergewehren mit wenig Munition.

Das wirkliche Problem waren die Hinterhalte. Darum ließ Schakal seine zwei Patrouillen in kurzem Abstand operieren, zehn oder fünfzehn Minuten Fußmarsch voneinander entfernt, damit die eine in jedem Moment die andere unterstützen konnte.

Wenn man bedenkt, dass sie in diesem Jahr Dutzende von Orten erkundeten, erlebten sie auf der Hochebene von Cangallo wenig Überraschungen - vielmehr jagten sie, um die Wahrheit zu sagen, Sendero-Kämpfer wie Hasen. Manchmal stießen sie unvorhergesehen auf die Gegner, während sie mit dem strategischen Ziel patrouillierten, die militärische Präsenz im gesamten Gebiet spürbar zu machen. Bei anderen Gelegenheiten suchten sie nach dem Feind, wobei sie sich auf konkrete Informationen eines Ortsbewohners oder Gefangenen stützten. Dann drangen sie in die Ortschaften ein und nahmen die mutmaßlichen Verdächtigen mit, deren Schuld mehr oder weniger zuverlässig gesichert war. Man fesselte sie und ließ sie in einer langen Reihe zum Stützpunkt laufen. In dessen Nähe würde man sie mit Kopfschüssen liquidieren, nachdem man die obligatorischen Verhöre durchgeführt hätte.

Nicht alle schafften es bis Totos. Jesus Sosa sollte niemals vergessen, wie sie Ende Mai nach Quispillacta kamen, einem Nachbarort von Chuschi. Sie beschlossen, die Dorfbewohner im Gemeindehaus zu registrieren. Ein Bauer, der als Wehrpflichtiger gedient hatte, erklärte sich bereit, im Ort wohnende Sendero-Kämpfer zu identifizieren. Man zog ihm eine Soldatenuniform an und stellte ihn in einen unauffälligen Winkel. Von dort aus konnte er die Einwohner beobachten, die, um sich registrieren zu lassen, zu einem Tisch kamen, an dem Jesus Sosa saß und ihre Namen aufschrieb. Wenn der Denunziant ein Zeichen gab, bat der Agent den verratenen Dörfler, durch eine Hintertür hinauszugehen. Dort befand sich ein Raum, in dem man die betreffenden Leute festnahm. Schließlich hatte man ungefähr zwanzig Personen zusammengebracht. Mit Schakal an der Spitze machte man sich auf den Rückweg, der für die Verhafteten ein unerwartetes und blutiges Ende bedeutete.

Auf dem Rückmarsch stellte sich ein praktisches Problem. Die Verhafteten wurden von zwei Patrouillen abgeführt, die zusammen aus nicht einmal 25 Mann bestanden. Was würde geschehen, wenn sie irgendwann auf dem fünfstündigen Marsch nach Totos in einen Hinterhalt gerieten? Die Gefangenen würden sich den Angreifern anschließen, so dass die Patrouillen in eine schlimme Lage gerieten. Andererseits konnte der Hubschrauber des Stützpunkts nicht so viele Leute transportieren.

Die Lösung bestand darin, dass man sie sich vom Halse schaffte, wobei man mit denen begann, die am Ende liefen. Der letzte wurde zurückgehalten, mit einem Schuss erledigt und in die nächste tiefe Schlucht geworfen. Dann sollte der folgende an die Reihe kommen. Der Hubschrauber des Stützpunkts erreichte sie auf halbem Wege und nahm fünf oder sechs mit. Doch auch sie trafen nicht in Totos ein, weil sie in der Luft verschwanden. Zum Stützpunkt gelangten lediglich ein paar Gefangene.

Im Mai durchkämmten die Patrouillen Schakals gnadenlos die Gebirgsgegend von Cangallo, während offizielle Militärberichte von Dutzenden nicht identifizierter Toter sprachen. Es kam zu Zusammenstößen wie dem von Iglesiahuasi, wo man die Sendero-Kämpfer überrumpelte, die sich mit den Ortsbewohnern in der Kirche versammelt hatten, und danach konnte Jesus Sosa zum ersten Mal Dutzende von Toten zählen. Die Patrouille wartete draußen auf die Sendero-Kämpfer und tötete sie in einem Kugelhagel, als sie aus der einzigen Tür herauskamen, ebenfalls schossen und dabei verängstigte Bauern als Schutzschilde benutzten. Eine Stunde später türmten sich in einer Blutlache liegende Leichen an der Kirchentür auf.

Jesus Sosa zählte die Toten auf dem Platz und bemerkte nicht, dass ein blutüberströmter Mann mit einem Gewehr aufsprang und von hinten auf ihn zielte. Er sah auch nicht, dass ihn der Soldat Orejas mit einem Schuss niederstreckte. Der Agent blieb wie gelähmt stehen. Danach ging er zu dem Soldaten, einem stämmigen Mann aus Cuzco, der stolz auf sein Opfer herabsah. Sosa nahm seine Armbanduhr ab, eine versilberte Seiko mit weißem Zifferblatt.

"Orejas", sagte er, "dieses kleine Ding kostet nicht viel, aber es ist die einzige Wertsache, mit der ich dir danken kann. Heb das auf, und es soll dir Glück bringen."

Die kurze Ansprache überwand die erste Regung des Soldaten, die Uhr abzulehnen. Er nahm sie und bewahrte sie auf. Man hatte ihm den Spitznamen "Orejas" gegeben, weil er auf den Spähtruppunternehmen das Funkgerät trug, die Meldungen abhörte und weitergab. Man nahm an, dass er aus Cuzco stammte, weil sein Quechua wie das von dort klang und sich von dem der Leute aus Ayacucho unterschied. Jesus Sosa erfuhr niemals, wie er wirklich hieß.

Fachmann für Hinrichtungen

Jesus Sosa veränderte sich in Totos außerordentlich schnell. Als sein Aufenthalt im September 1983 endete, hatte er beinahe alles mitgemacht, was man von einem in der Subversionsbekämpfung eingesetzten Armeeangehörigen erwarten konnte: Gefangennahmen, Verhöre, Hinrichtungen, Spähtruppunternehmen, Zusammenstöße und Hinterhalte. Der ständige Kontakt mit den Gefangenen und die Märsche durch die Landgebiete gaben diesem Zeitraum eine brutale Erlebnisdichte, füllten ihn mit so vielen blutrünstigen Episoden, dass sie einen Mann fertigmachen konnten. Aber Jesus Sosa hielt durch. Wie Schakal war er offenbar nicht dazu verurteilt, in die psychiatrische Abteilung des Armeelazaretts eingeliefert zu werden - ein Schicksal, das viele Offiziere der Unruhegebiete traf.

Während dieser Zeit verhörte Jesus Sosa ungefähr 200 angebliche Sendero-Kämpfer am Stützpunkt. Kommandant Pato hatte vierzig bis fünfzig von ihnen aus Ayacucho hergeschickt. Logischerweise hatte man die meisten bei den Spähtruppunternehmen im Zuständigkeitsbereich des Stützpunkts verhaftet, der außer den bereits genannten Orten Veracruz, Vilcanchos, Chuschi, Tucu, Sachabamba, Quispillacta, Paras und Cancha Cancha auch Espite, Patahuasi, Potrero, Condorpacha, Huanu Huanu, San Juan de Cucho Quesera, Pucaccasa, Viscachayo und andere Gemeinden umfasste, in denen viele Personen festgenommen wurden. Wie wir gesehen haben, kamen nicht alle am Stützpunkt an; wenn sie aber einmal dort waren, wurden sie zunächst verhört und dann hingerichtet, was entweder Paz oder Schakal befahl, je nachdem, woher sie kamen. Niemand verließ die "Trauminsel" lebend. Ausgenommen zwei Häftlinge, die, obwohl sie gefesselt waren und eine Kapuze trugen, durch ein Loch entkamen, das sie in die Luftziegelwand der Zelle gebohrt hatten. Als man ihre Flucht einige Minuten später entdeckte, konnten die Patrouillen sie im nächtlichen Dunkel nicht entdecken.

Jesus Sosa wurde ein Fachmann für die Hinrichtung von Gefangenen. Als Vierundzwanzigjähriger hatte er in weniger als zwei Monaten die nötigen Fertigkeiten entwickelt, damit diese Aktionen schnell und unauffällig vonstatten gingen. Der Gefangene musste nach einem einzigen Schuss in die Schläfe augenblicklich sterben, und das möglichst, wenn er nicht darauf gefasst war. Ohne Zuckungen, ohne Lärm. Der Einsatz der Soldaten oder eines unerfahrenen Unteroffiziers hatte bei so etwas gewöhnlich verheerende Folgen. Es konnte passieren, dass sie den Körper mit FAL-Feuerstößen zerfetzten oder auf die falschen Körperteile schossen, so dass weitere Salven notwendig wurden. Auch wenn man sie begrub, verlangte das Planung und vorbereitende Arbeiten - man musste im voraus Gräber ausheben - sowie einen tadellosen Abschluss, indem man das Ganze mit einer dicken Schicht aus Steinen und Erde bedeckte.

Für diese Recherche wurde Jesus Sosa vier Jahre lang - zwischen 1997 und 2000 - vom Autor befragt. Im Lauf der Jahre kamen wir immer wieder auf dieselben Szenen zurück, und der schwierigste Punkt war die Tötungsbereitschaft des Agenten, denn die Wahrheit schien sich in unterirdischen Tiefen zu verbergen, und dies auch noch unter der Voraussetzung, dass Sosas Erklärungen vollständig aufrichtig und wahrheitsgetreu waren. Wie er es darstellte, war seine Rolle als Vernehmer in Totos auf einen zufälligen Umstand zurückzuführen: Man gab ihm Goytizolos Platz, vielleicht, weil er gesunden Menschenverstand und Geistesgegenwart bewiesen hatte, als er in den wenigen Wochen, die er in Huamanga verbracht hatte, mit Gewalttaten fertig wurde, oder vielleicht auch, weil er ordentlich und verantwortungsbewusst war. Auf keinen Fall geschah es allerdings wegen seiner Erfahrung. Nie hatte er mit einem Sendero-Kämpfer zu tun gehabt, und möglicherweise hätte ein anderer Agent, wenn er an Sosas Stelle gewesen wäre, diese Arbeit besser ausgeführt. Nun aber, da er in Totos war und sich um die Gefangenen kümmern musste, zeigte sich für seine Vorgesetzten eindeutig, dass er die Dinge gut erledigte. Schakal musste sich nicht über ihn beschweren. Und er auch nicht über Schakal. Im Gegenteil: Er lernte viel, indem er ihm bei der Arbeit zusah. Mit seiner persönlichen Autorität und seiner Großzügigkeit wurde Hauptmann Santiago Picon Pesantes bald zum Führer des Agenten.

Wenn man sich weiter an Sosas Darstellung hält, war seine Rolle bei den Hinrichtungen andererseits auf mehrere Eigenschaften zurückzuführen, die nichts mit Grausamkeit zu tun hatten. Vor allem hielt er die Spannung aus, die die Tötung eines anderen Menschen mit sich brachte, und er konnte auch lästige Verwaltungsangelegenheiten übernehmen. War er deshalb abnorm veranlagt oder einfach jemand, der ein größeres Talent für gewisse militärische Aufgaben besaß? Etwas zeigte sich eindeutig: Einen psychologischen Schutz bei seinen Handlungen bot ihm das militärische Wertsystem, nämlich die absolute Disziplin, mit der er dem Befehl des Oberkommandos gehorchte, Vaterlandsfeinde zu vernichten. Es hätte Verrat bedeutet, wenn er diesen Befehl missachtet hätte. Hingegen war es verdienstvoll und ein Anlass zu berechtigtem Stolz, wenn man den Befehl vollständig ausführte.

Gleichzeitig vereinbarte er innerlich seine Handlungen mit der christlichen Gesinnung, an die er sich gebunden fühlte. "Ich glaube nicht, dass Gott diese Scheißterroristen unterstützt", sagte er sich, wenn er ernsthaft nachdachte. Das war die Grundfrage: Musste man Sendero-Kämpfer töten oder nicht? "Selbstverständlich, ja", dachte der Agent. Er nahm sich nicht vor sich selbst in Schutz, indem er behauptet hätte, dass er seine soldatische Pflicht erfüllte, obwohl das stimmte. Er fühlte, dass er eine höhere Verantwortung übernahm. Das war eine Verantwortung den anderen gegenüber, eine selbstlose und gefährliche Aufgabe, bei der ihm, wie er es empfand, nicht nur die Armee beistand. Auch Gott half ihm, gab ihm Kraft und verzieh ihm.

Nachdem er diesen Punkt geklärt hatte, dass es notwendig war, Sendero-Kämpfer zu beseitigen, blieb noch die Frage, wer einer war und wer nicht. Dann kam ein weiterer Punkt ins Spiel: dass man sich irren und Gerechte anstelle der Sünder töten konnte. Das war ein unlösbares Problem, ein Preis, den man unverzagt bezahlen musste. Unter den Umständen, die die Arbeit am Stützpunkt bestimmten, erwies es sich als unmöglich, vollständig sicher zu wissen, ob die Festgenommenen schuldig waren. Das durfte ihren Tod nicht verhindern. Falls man einen angeblichen Unschuldigen freiließe, der danach erzählen würde, was er erlebt hatte, hieße das, sich einem äußerst großen Risiko auszusetzen und einen möglichen Beweis bestehen zu lassen, dass das Militär kriminelle Handlungen beging, womit man die gesamte Subversionsbekämpfung gefährdet hätte.

Wenn daher ein wahnsinnig gewordener oder betrunkener Offizier eine ordnungswidrige Tötung verschuldete, war diese unvorhergesehene Tat - mit ihrer Grausamkeit und ihren Misshandlungen - nicht der wahre Grund für den Todesfall. Das Schicksal des Festgenommenen stand von vornherein fest, es hatten sich nur der Tag und die besonderen Umstände geändert.

Eines Nachts zum Beispiel würfelten Jesus Sosa und eine Gruppe im Hof des Stützpunkts. Sie hatten warme Mäntel angezogen und saßen um ein Lagerfeuer. Genussvoll tranken sie die Spirituosen - Anisschnaps, Portwein, Pisco -, die sie beim letzten Spähtruppunternehmen in großen Mengen beschlagnahmt hatten. Nach Mitternacht hatten sie schon mehrere Flaschen geleert, waren ziemlich betrunken und bekamen Lust, damit weiterzumachen. Im Verlauf der Unterhaltung erzählte Jesus Sosa, er habe drinnen in der Zelle einen Sendero-Kämpfer, der sich weigere, ein Geständnis abzulegen, und der eine übermenschliche Widerstandskraft zeige. Er gehörte zu der Gruppe, die in Huamanga einen Polizisten in einen Hinterhalt gelockt und getötet hatte. Als man ihn nach Totos brachte, glaubte man, er wäre eine vielversprechende Quelle. Aber er redete nie, obwohl ihn Sosa der Hänge- und der Wasserfolter unterwarf und so schlimm verprügelte, dass er ihm beinahe die Knochen brach. Der Gefangene schloss die Augen, schrie im Innern und sagte nichts. Am schlimmsten war, wie der Agent erzählte, dass er manchmal ein herausforderndes Gesicht zog.

"Der starrt mich einfach an, dieser große Hurensohn", sagte er und schwieg einen Augenblick. "Aber jetzt soll er reden."
Er drehte sich um und rief den Soldaten Orejas, der gerade Dienst hatte. Er wies ihn an, den Häftling herzubringen. Kurz danach erschien Orejas mit einem Mann, den man übel zugerichtet hatte und der wie ein Bauernsohn aussah. Er war fast dreißig.
"Binde ihn hier im Hof fest, zieh ihm das Hemd aus und gieße ihm jede halbe Stunde einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf. Das ist alles."

Der Gefangene wurde unter dem Laubdach, dem Speiseraum der Soldaten, an einen Pfosten gebunden. Die Männer tranken weiter, und manchmal drehten sie sich zu Orejas um und erinnerten ihn an seine Pflicht. Um vier Uhr morgens schliefen einige. Um fünf schreckte Sosa aus dem Schlaf hoch.

Er ging zum Pfosten, um sich den Häftling anzusehen. Der war schon tot.

Erneut bedrängten ihn Fragen. In arbeitsfreien Nächten, wenn er nicht trank, kehrten sie immer wieder, seit der ersten Nacht während seiner Tätigkeit in Totos, als er spürte, dass er keinen Schlaf finden würde. Warum tat er so etwas? Nur aus Gehorsam? Natürlich nicht. Seit seinen beruflichen Anfängen hatte er genug Charakterstärke bewiesen, um immer eine Möglichkeit zu finden, sich aufzulehnen und fortzugehen, selbst auf die Gefahr hin, sich dafür eine Kugel einzufangen. Allerdings hatte er nie jemanden kennengelernt, der solchen Ungehorsam in einem Unruhegebiet gezeigt hätte. Viele Jahre später, als Jesus Sosa von Gewissensbissen geplagt wurde, sagte er sich, sein Verhalten habe viel mit der Atmosphäre in den damaligen Kasernen und mit der Tatsache zu tun gehabt, dass er gesehen hatte, wie Unschuldigen von Sendero-Kämpfern das gleiche angetan wurde. Aber auch mit dem Glauben, dass das Militär richtig handelte, abgesehen von gewissen Übertreibungen. Dass dies der einzige Weg sei.

Im Grunde glaubte Jesus Sosa das gleiche wie die drei Präsidenten, die zwischen 1983 und 1995 Militärs ausschickten, um den Krieg auf diese Weise zu führen, während sie selbst woanders hinschauten und es vermieden, sich die Augen durch den Anblick des Blutes zu verderben. Er konnte nicht in eine andere Richtung schauen. Seine Art, sich abzulenken, bestand darin, sich ab und zu einen kräftigen Rausch anzutrinken. Sonst wäre er wahrscheinlich kaputtgegangen. In gewisser Hinsicht ließ sich seine Haltung als eine Art Fanatismus ansehen, der ihm half, sich dem Grauen zu entziehen. So wie die Psyche der Sendero-Kämpfer von der Ideologie geschützt wurde, die ihre wahre Kraft war. Es gab keine andere Erklärung für ihre Widerstandsfähigkeit bei den Verhören.

Als er begriff, dass alles falsch gewesen war, quälten ihn allmählich die Erinnerungen an Ayacucho, und zunehmend empfand er tiefen Groll gegen Armee und Politiker. Immer wieder suchten ihn die Erinnerungen heim, manchmal, ohne dass er sie wachgerufen hätte, und dann beschwor sie auch der Zufall herauf. 1998 traf er in Lima seinen Kollegen Gasfitero, mit dem er im Unruhegebiet gedient hatte. Nie hätte er sich vorgestellt, dass ihm sein Freund sagte - nachdem beide kommentiert hatten, wie die Dinge im SIE (Nachrichtdienst des Militärs) liefen -:

"Erinnerst du dich an die Sache mit Aguilar Diaz in Cangallo? Damals hast du dich wie ein Teufelskerl benommen."

Jesus Sosa hatte diese Episode vollständig vergessen. Das ging so weit, dass Gasfitero im Gespräch ganze Erinnerungsfetzen auffrischte, die ihm entfallen waren. Danach dachte er, Gasfitero sei damals während der Ereignisse noch sehr unerfahren gewesen, und deshalb hätten sich ihm diese Bilder tiefer eingeprägt. Er dagegen ?

Als er sich von Gasfitero verabschiedete, lief er die Avenida Arequipa hinunter und rief sich die Tatsachen erneut ins Gedächtnis. Er erinnerte sich: Es geschah im Mai 1983. Nach einem einwöchigen Spähtruppunternehmen war er gerade wieder in Totos eingetroffen. Ohne vorher geschlafen zu haben, hatte er unverzüglich mit den Verhören begonnen. Er wusste noch, dass er völlig fertig war und es satt hatte, zu töten und andere leiden zu sehen; dass er wenigstens zwei Tage Erholung und ein schönes Besäufnis genießen wollte, bevor er wieder anfing. Gerade bereitete er sich darauf vor, als man aus Huamanga anrief und ihm einen dringenden Befehl übermittelte: Er sollte am Stützpunkt Cangallo erscheinen. Sie hatten schon den Hubschrauber nach Totos geschickt, der ihn hinbringen sollte.

In Cangallo sprach er mit Herber Aguilar Diaz, dem Befehlshaber des Stützpunkts, einem Offizier mit dem Schnurrbart eines mexikanischen Reiters und mit einer Kommandantenmütze. Seit zwei Wochen hatte er 15 Gefangene, die er verhören musste. Gasfitero, der Nachrichtenunteroffizier des Stützpunkts, war kein Spezialist für solche Dienstverrichtungen. Jesus Sosa kannte Gasfitero aus La Fabrica, doch er grüßte ihn kaum: Schlafbedürfnis und Erschöpfung hatten ihn betäubt. Er erinnerte sich vor allem daran, wie ausgepumpt er war und dass er dem Kommandanten sagte, er solle ihn arbeiten lassen, er würde ihn schon informieren. Dann verlangte er, dass man ihn zu den Gefangenen brachte.

Man hielt die Männer in Löchern von einem Meter Durchmesser eingesperrt, die man in der Erde ausgehoben hatte. Darin steckten sie allein oder paarweise, und ihre Köpfe schauten oben heraus. Sie standen auf ihren eigenen Exkrementen, waren mit Blut und Schmutz bedeckt und vom Regen durchnässt. Einige wurden von Fieberschauern geschüttelt, anderen rann Erbrochenes aus dem Mund, und wieder andere waren in Ohnmacht gefallen, so dass ihnen der Kopf auf den Hals herabsank. Der Agent erinnerte sich an einige durchdringende Blicke und die sonderbare Wirkung der ausgezehrten Gesichter. Kurz, sie waren Haut und Knochen, die in Verwesung übergingen. Jesus Sosa, der nie schlimmere Elendsgestalten gesehen hatte, beschloss, seine Arbeit noch in derselben Nacht zu beenden.

Er verstand die Lage: Gasfitero brachte es nicht über sich, sie zu töten, und der Kommandant des Stützpunkts konnte sich auch nicht dazu durchringen, weil ihm sein Nachrichtenagent keinen überzeugenden Bericht lieferte. Darum also hatten sie ihn aus Totos geholt, während er Ruhe brauchte. Er führte ein kurzes und spannungsgeladenes Gespräch mit Gasfitero.

"Sind das deine Gefangenen oder nicht?"

"Anscheinend ja", antwortete Gasfitero. Er zeigte ihm die Unterlagen über die Festnahmen, die einige unvollständige Angaben über jeden einzelnen und dazu seine eigenen Vermutungen enthielten.

"Warum gibt es dann einen solchen Eiertanz? Es reicht. Jetzt machen wir Schluss mit dem Verhör. Wir verlassen die Kaserne und exerzieren ein bisschen."

Von einem Soldatentrupp unterstützt, brachten sie die Gefangenen auf der Rückseite der Kaserne hinaus und in ein unbewohntes Gebiet von Cangallo, das am Rio Pampas lag. Die Männer liefen mit gefesselten Händen und unbedecktem Kopf. Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten. Sosa verzichtete auf die Vorsichtsmaßnahme, ihnen Kapuzen überzuziehen, und befahl auch nicht, im voraus Gräber für die 15 auszuheben. Er wollte so schnell wie möglich fertig werden. Als sie ins offene Gelände gelangten, mussten sich die Gefangenen auf den Bauch legen. Er zog seinen Browning und erschoss einen nach dem anderen, und wenn ihm die Kugeln ausgingen, lud er mit Patronen aus seiner Tasche nach.

Dann drehte er sich zu Gasfitero um, der ihn verblüfft anstarrte.
"Erledigt", sagte er. "Jetzt haben sie schon ihr Verhör bekommen."

Er machte kehrt und lief allein in die Kaserne zurück. Den anderen überließ er die Arbeit, die Toten zu begraben. In dieser Nacht schlief er wie ein Stein, und am frühen Morgen des nächsten Tages verabschiedete er sich vom Kommandanten.

"Wie war es?" fragte Aguilar Diaz. "Wie ist das Verhör gelaufen?"
"Gut, Herr Kommandant. Alle waren Sendero-Kämpfer."

Nach dem Schakal die Hyäne

Im Juli wurde Hauptmann Santiago Picon als Leiter des Stützpunkts Totos abgelöst. Sein Nachfolger war Hernan Galarreta, ein anderer Hauptmann, der sich von Anfang an mit spürbaren Neuerungen im Vergleich zu den früheren Zeiten hervortat.

"Welchen Decknamen hat der Leiter des Stützpunkts benutzt?" fragte er seine Untergebenen, sobald er den Posten übernommen hatte.
Als er die Antwort gehört hatte, dachte er einen Augenblick nach. Dann sagte er:
"Also Schakal? Ein Schakal ist tatsächlich Scheiße. Aber welches Tier ist noch beschissener als der Schakal?"
Er wartete eine Weile auf die Antwort. Niemand meldete sich.
"Die Hyäne", erklärte er weiter. "Der Schakal ist eine erbärmliche Null im Vergleich mit der Hyäne. Ich will 'Hyäne' heißen."

So führte er sich als großer Angeber ein. Aber die Dinge nahmen eine unerwartete Wendung, und daran war nicht der Krieg schuld. Der neue Hauptmann praktizierte einen Führungsstil, der seine Untergebenen so sehr reizte, dass ihn ein Sergeant eines Nachts durch die Straßen von Totos mit Schüssen verfolgte. Der Sergeant hatte zuviel getrunken, doch die Gründe für sein Verhalten lagen tiefer. Hyäne veränderte Schakals großzügiges Verpflegungssystem mit geizigen Sparmaßnahmen, und er benahm sich herausfordernd gegenüber der an die Freigebigkeit des früheren Hauptmanns gewöhnten Truppe.

Noch vielsagender als der Angriff des Sergeanten war die Tatsache, dass niemand versuchte, ihn aufzuhalten. Er hatte den Hauptmann vom Tor des Stützpunkts bis an den Rand von Totos verfolgt, wo sich Galarreta in ein Haus flüchten konnte. Ein Oberleutnant, zwei Leutnants, ein Sanitäter und die ganze Truppe blieben am Stützpunkt und hofften, dass ein Schuss des Sergeanten ins Schwarze träfe. Jesus Sosa jedoch beruhigte schließlich den Angreifer, der ihm sein FAL übergab, bevor er losschluchzte.

"Hättest du mich doch diesen Hurensohn umbringen lassen", jammerte der Betrunkene und weinte. "Der verkauft unseren Proviant und behandelt uns wie Scheiße."

Sie liefen zurück, und unterwegs entdeckten sie eine tote Kuh. Sie hatte zwei Kugeln abbekommen, die eigentlich für den Leiter des Stützpunkts bestimmt waren.

Der Hauptmann entschied sich, den Sergeanten nicht beim Militärgericht anzuzeigen. Selbst die oberflächlichste Untersuchung hätte seine Probleme mit der Truppe ans Licht gebracht. Zwei Tage vor dem Zwischenfall hatten die Soldaten das Essen nicht angerührt, um gegen den Schlangenfraß zu protestieren. Deshalb beschloss Galarreta, großzügiger zu sein, und diese Haltungsänderung verbesserte die Lage.

Hingegen verschlechterte sich das Verhältnis des Hauptmanns zu Sosa. So sehr, dass der Agent mit Edgar Paz sprach, der ihn zu General Noel brachte. Diese Unterredung führte Ende August 1983 zur Versetzung des Offiziers. Das geschah nach einem weiteren Konflikt, der einen viel intimeren Charakter hatte; allerdings hatte der Agent nur den ersten Zwischenfall erwähnt.

Die Episode, von der Jesus Sosa nichts mitteilte, als er mit Noel sprach, begann damit, dass zwei gefangene Sendero-Kämpferinnen in Totos eintrafen. Die Marinetruppen hatten sie in Tambo festgenommen und nach "Los Cabitos" überstellt. Die Marinesoldaten hatten sie beim Verhör in ihrer Kaserne in Huanta misshandelt, und dort hatte man sie schon offiziell als feindliche Verluste registriert. Das heißt: Sobald sie dem Militär nützliche Informationen geliefert hätten, könnten sie jederzeit verschwinden.

Sie waren seit zwei Wochen in Totos, als sich der Hauptmann in eine von ihnen, die neunzehnjährige Elvira Munaylla Morales, verliebte. Das Problem war, dass Sosa sie unverzüglich töten sollte.

Der Hauptmann bat Sosa, Munaylla zu retten. Als der Unteroffizier ablehnte, berief sich der Hauptmann auf seine Befehlsgewalt am Stützpunkt, die ihm die Entscheidung über das Schicksal der Gefangenen übertrage. Das stimmte teilweise. Doch es stimmte auch, dass Sosa für die Gefangenen zuständig war. Man übergab sie ihm ordentlich durchnumeriert, und er war für sie verantwortlich. Außerdem hatte Paz bereits befohlen, dass die beiden Gefangenen den Abgang machen sollten. Im Grunde konnte der Hauptmann nichts tun.

"Ich rede mit Paz", sagte Hyäne schließlich, doch der Agent ahnte, dass der Hauptmann nicht mit dem Kommandanten sprechen würde. Das wäre zuviel verlangt. Die Mädchen hatten ihre Beihilfe bei Hinrichtungen gestanden. Der einzige Ausweg, der Galarreta blieb, bestand darin, mit Sosa zu verhandeln. (Galarreta lebt heute im Ausland und hat nicht auf die Bitte um ein Interview geantwortet, die ihm von seinen Geschwistern übermittelt wurde.)

Jedenfalls dachte Sosa gründlich über die Angelegenheit nach. Er zögerte eine Weile, weil ihm die Mädchen sympathisch waren und weil er sah, dass Galarreta litt - dieser schlief mit der Gefangenen und ließ sich Essen für beide in sein Büro bringen -, und auch, weil es ganz einfach wäre, die beiden Mädchen laufenzulassen und danach zu behaupten, sie seien an dem und dem Tag gestorben. Natürlich müssten die beiden für alle Zeiten den Mund halten.

Andererseits jedoch konnte irgend etwas schiefgehen. Dieser Hauptmann war ein Schlamper. Man durfte ihm nicht vertrauen. Und er war unbeliebt: Wenn jemand etwas mitbekam, würde er es mit größtem Wohlgefallen weitererzählen und ihn in die Geschichte hineinziehen. Also war es endgültig besser, die Mädchen abzuservieren. Beim ersten Ausflug Galarretas musste er sie mit äußerst liebenswürdigen Worten einwickeln, damit sie nicht misstrauisch wurden und ganz ruhig blieben, wenn seine Kugeln sie treffen würden. Und dann: Neues Spiel, neues Glück.

Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann

Auszug aus: "Muerte en el Pentagonito. Los cementerios secretos del Ejercito Peruano"

(C) Ricardo Uceda (C) Editorial Planeta Colombiana, S.A.,2004


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