Link des Tages

Milan Kundera - ein Verräter?

14.10.2008. Aus aktuellem Anlass stellen wir nochmal unser Dossier zur Kundera-Affäre von 2008 online: Der Schriftsteller Milan Kundera soll 1950 den Kurier des amerikanischen Geheimdienstes Miroslav Dvoracek an die Polizei verraten haben. Dvoracek hat dafür 14 Jahre im Arbeitslager geschuftet. Dies berichtet der Historiker Adam Hradilek im tschechischen Magazin Respekt. Das slowakische Internetmagazin Salon hat den Artikel auf Englisch ins Netz gestellt. Milan Kundera hat derweil alle Vorwürfe heftig bestritten.
(Aktualisierung vom 13. Juli 2023.) Ganz kurzzeitig gab es im Jahr 2008 eine heftige Debatte um Milan Kunderas Vergangenheit. Kundera soll Anfang der fünfziger Jahre als noch überzeugter Kommunist einen Kurier des amerikanischen Geheimdienstes an die Polizei verraten haben. Hundertprozentig bewiesen war der Vorwurf nicht - aber doch so plausibel, dass Kundera auch inhaltlich auf die Vorwürfe hätte antworten sollen. Der Perlentaucher hat die Debatte im Jahr 2008 intensiv verfolgt und selbst interveniert. Internationale Schriftsteller solidarisierten sich mit ihm. Heute spielt die Debatte in den Nachrufen kaum eine Rolle. D.Red.


Zur Aktualisierung vom 21. Oktober
2008 | zur Aktualisierung vom 4. November 2008, zur Aktualisierung vom 5. November 2008.


Der Schriftsteller Milan Kundera soll 1950 einen Kurier des amerikanischen Geheimdienstes, Miroslav Dvoracek, an die Polizei verraten haben. Das ist das Ergebnis einer Recherche von Adam Hradilek, einem Mitarbeiter des Prager Instituts für das Studium totalitärer Regime (Ustr), die das tschechische Magazin Respekt am Montag veröffentlicht hat. Hradilek hat in einem Aktenhaufen zufällig einen Polizeibericht über eine Anzeige gefunden, die am 14. März 1950 in einem Polizeirevier in Prag gemacht wurde:

"Heute kam um 16 Uhr der Student Milan Kundera, geboren am 1. April 1929 in Brünn, wohnhaft im Studentenwohnheim in der Georg VI Avenue in Prag VII, in dieses örtliche Polizeirevier und gab eine Erklärung ab zu Iva Militka, einer Studentin, die im selben Wohnheim lebt. Sie erzählte einem Mitstudenten, der auch in dem Wohnheim lebt, dass sie in Klarov in Prag einen Freund getroffen habe, Miroslav Dvoracek. Er habe ihr eine Tasche zur Aufbewahrung gegeben und ihr gesagt, er würde die Tasche am Nachmittag wieder abholen. Daraufhin sind die Polizisten Rosicky und Hanton zum Wohnheim gegangen und haben die Tasche gesucht. Sie fanden darin zwei Hüte, zwei Paar Handschuhe, zwei Sonnenbrillen und eine Tube Creme. Laut Militkas Erklärung sei Dvoracek angeblich vom Militärdienst desertiert und habe seit dem letzten Frühling in Deutschland gewohnt, einem Land, in das er illegal emigriert sei. Ermittlungsberichte ergaben, dass die fragliche Person vom KVNB (Abt. IV) in Pilsen unter der Ausweis-Nr. E 2434/49-IV gesucht wird. Auf der Grundlage dieser Informationen bewachten die Polizeibeamten Militkas Zimmer im Studentenwohnheim. Der vorgenannte Dvoracek erschien tatsächlich gegen 20 Uhr in dem Zimmer und wurde verhaftet. Bei seiner Durchsuchung wurde ein Ausweis auf den Namen Miroslav Petr gefunden. Dvoracek sagte, dieser Ausweis sie ihm in Deutschland von einer bestimmten Fima gegeben worden, die ihn in die Tschecheslowakei geschickt habe, um eine Geschäftsbeziehung mit dem Minsterium für Technologie anzuknüpfen. Eben dieser Dvoracek sollte einen gewissen Ingenieur Solman, Mitarbeiter des Ministeriums, in Vrsovice kontaktieren."


Dvoracek nach seiner Verhaftung, Foto: ABS Archiv/Ustr

Dvoracek, tatsächlich ein Spion, entkam nur knapp der Todesstrafe. Er wurde zu 22 Jahren Haft verurteilt, von denen er 14 Jahre verbüßte, einige Jahre davon in den Arbeitslagern Vojna und Bytiz bei Pribram, wo er Schwerarbeit in einer Uranmine leisten musste.

Das slowakische Internetmagazin Salon hat die englische Übersetzung von Hradileks sehr detailreich recherchiertem Artikel ins Netz gestellt, der sich wie ein finsterer Roman über Liebe, Verrat, Freiheit, Kommunismus, Heldentum und Versagen liest. Hradilek fragt sich auch, warum Kundera das getan haben könnte und verschweigt nicht, dass die Eltern von Iva Militka bis zu ihrem Tod davon überzeugt waren, dass Dvoracek von Militkas damaligem Freund und späteren Ehemann Miroslav Dlask denunziert wurde.

Auf Deutsch: Karl-Peter Schwarz hat gestern in der FAZ im politischen Teil, Hradileks Bericht zusammengefasst. Auch Hans-Jörg Schmidt resümiert in der Welt und nennt eines der möglichen Motive. Kundera hatte laut Hradilek bereits Schwierigkeiten mit der tschechischen KP: "Kundera hatte mit zwei Freunden von der Filmakademie einen hohen Funktionär kritisiert. Alle wurden aus der Partei ausgeschlossen. Doch während die beiden Freunde Kunderas auch der Hochschule verwiesen wurden, durfte Kundera bleiben und konnte Karriere machen."

Milan Kundera, der seit 1975 in Frankreich lebt, hat den Vorwurf inzwischen heftig bestritten. "Ich protestiere auf das schärfste gegen diese Anschuldigungen, die reine Lügen sind", zitiert Rachel Donadio in der heutigen New York Times aus einem Statement Kunderas, das dessen französischer Verlag Gallimard veröffentlicht hat. In einem Interview mit der tschechischen Nachrichtenagentur CTK habe Kundera die Medien außerdem "eines Attentats auf einen Autor" beschuldigt. In dem Interview habe Kundera weiter gesagt: "Mein Gedächtnis täuscht mich nicht. Ich habe nicht für die Geheimpolizei gearbeitet."

Aber, wie Donadio festhält, es geht auch nicht um die Geheimpolizei. Die Anzeige wurde in einem ganz normalen örtlichen Polizeirevier aufgenommen. Das Ustr hält es für "höchst unwahrscheinlich, dass ein einfacher Polizeibeamter, der das Protokoll aufnahm, darin fälschlich Kunderas Personaldaten eingefügt hätte", schreibt die FAZ in der morgigen Printausgabe. Das Dokument trägt allerdings nicht Kunderas Unterschrift. "Dies sei jedoch für die damalige Zeit keineswegs ungewöhnlich gewesen" sagte laut FAZ der Historiker Vojtech Ripka in einem Rundfunkinterview.

Links zu weiteren Artikeln:

Auf den Seiten des Express sind Kunderas Reaktionen nachzulesen. Laut Daniel Vernet in Le Monde hat das Institut für das Studium totalitärer Regime eingeräumt, dass das Dokument keinen "absoluten Beweis" darstelle. Spiegel Online bringt einen ausführlichen Bericht und zitiert das Institut anders: "'Am Ablauf des Geschehens haben wir keine Zweifel', sagt Sprecher Jiri Reichl auf Anfrage."


Aktualisierung vom 21. Oktober:

Inzwischen hat auch Vaclav Havel den Fall Milan Kundera im Magazin Respekt kommentiert. Das slowakische Internetmagazin salon.eu.sk hat ihn ins Englische übersetzt. Havel, Autor des Essays "Vom Versuch in der Wahrheit zu leben" (1978), erklärt: "Selbst wenn Milan Kundera tatsächlich zur Polizei gegangen ist, um zu berichten, dass irgendwo ein Spion herumlaufe, was ich nicht glaube, muss man (diesen Vorgang) doch wenigstens durch die Brille jener Tage sehen. Man musste kein bekennender oder fanatischer Kommunist sein, um in dem guten Glauben zu handeln, dass man damit den Weg zu einer besseren Welt ebnen würden. Man konnte sich einfach fragen oder sich 'fast sicher' sein, dass einem selbst oder einer Person, die einem nahe stand, eine Falle gestellt worden war. Man konnte auch einfach kein Kriegsheld sein und sich gedacht haben: Warum soll ich zehn Jahre in einem Gefängis verbringen, nur weil ich 'gewusst, aber nicht geredet' habe?" Am Schluss hat Havel noch zwei Dinge zu sagen: "An die jungen Historiker: Seid vorsichtig, wenn ihr über Geschichte urteilt! Ihr könntet mehr Unheil als Gutes anrichten. Genauso wie eure Großväter. Und an Milan: Versuche, über den Dingen zu stehen! Wie du weißt, kann einem im Leben schlimmeres passieren als in den Medien diffamiert zu werden."

Inzwischen haben sich zwei Zeitzeugen zu Wort gemeldet: Wie K. Brill in der SZ und Hans Jörg Schmidt in der Welt berichteten, hat der Literaturhistoriker Zdenek Pesat erklärt, dass nicht Kundera, sondern Miroslav Dlask den West-Agenten Miroslav Dvoracek verraten habe. Dlask habe ihm, Pesat, den Verrat bei der Polizei selbst anvertraut.

Das Time Magazin hat diese Aussage etwas präzisiert: Der 80-jährige Pesat habe die Aussage über Dlasks Beichte in einem schriftlichen Statement veröffentlicht. Pesats Ehefrau Hana hat dem Magazin am Telefon gesagt, ihr Mann hänge an einem Beatmungsgerät und könne nicht mit ihnen sprechen: "Ihr Ehemann 'erinnert sich genau daran', sagte sie Time am Telefon. 'Kundera war nicht verwickelt. Dlask hat meinen Ehemann aufgesucht und es ihm gesagt.' Sie konnte keine Erklärung dafür geben, warum Kunderas Name in dem Polizeibericht auftaucht."

Die Frau von Dlask, Iva Militka, die bis heute nicht weiß, ob ihr Ehemann, mit dem sie Jahrzehnte verheiratet war, nach ihrer Indiskretion ihren Jugendfreund Dvoracek angezeigt hatte, oder ob Milan Kundera es war, erklärte im Interview (englische Version) mit Aktualne.cz, ihr Mann habe ihr erst in den frühen neunziger Jahren gestanden, dass er Kundera erzählt habe, dass Dvoracek in ihrer Wohnung sei. Sie bedauert inzwischen die Veröffentlichung der ganzen Geschichte: "Es hat mir kein bisschen geholfen. Ich schere mich einen Dreck um Kundera. Ich hätte gern gewusst, aus welchem Grund mein Mann ihm alles erzählt hat. Aber ich weiß es immer noch nicht. (...) Nach seinen ersten Reaktionen haben die neuen Funde Mirda (Dvoracek) nicht überzeugt (der immer geglaubt hat, sie sei die Verräterin gewesen - Anm. PT), und die Menschen in meiner Heimatstadt Kostelec nad Orlici, die mir wichtig sind, leben zum größten Teil nicht mehr."

Auch die Kommentare häufen sich jetzt: In Respekt hält es der Schriftsteller Ivan Klima für möglich (englische Version), dass eine andere Person Kunderas Namen benutzt hat. Aber wie auch immer es war: Klima fordert, auf jeden Fall die Zustände jener Zeit im Blick zu behalten.

Der Schriftsteller Jiri Stransky glaubt, dass Kundera von seiner kommunistischen Vergangenheit eingeholt wurde, fasst Ceske noviny seinen Kommentar in Respekt auf Englisch zusammen. "'Milan Kundera hat der Partei gedient, sie bewundert und gefeiert', erinnert sich Stransky. Er fügt hinzu, dass auch andere berühmte tschechische Schriftsteller, wie Ivan Klima, Arnost Lustig und Pavel Kohout, in jungen Jahren Mitglieder der Kommnunistischen Partei waren. Jedoch, sagt er, haben sie ihre kommunistische Vergangenheit nicht nur offengelegt, sondern sie auch entschlüsselt und nichts verborgen. Kundera hat sich nicht auf diese Art mit seiner KSC-Mitgliedschaft auseinandergesetzt, hebt Stransky hervor. 'Bis wir mit der Vergangenheit im Reinen sind, unserer eigenen und der unserer Nation, hat sie uns im Griff. Das wird sich in den unerwartetsten Momenten rächen. Genau das ist Kundera passiert, nicht mehr und nicht weniger'", übersetzt Ceske noviny Stransky.

In Le Monde verteidigt Yasmina Reza Kundera und sieht ihn als wehrloses Opfer einer Medienkampagne: "Nach dem anfänglichen Dementi würde ihn jede weitere Äußerung nur noch tiefer in die Beschuldigungen verstricken. So kann man innerhalb von 30 Sekunden das Leben eines Autors hinwegfegen, immer im Gefühl, nur seine Pflicht zu tun. Es hat überhaupt keine ernsthafte Untersuchung gegeben und keinerlei Vorsicht in der Verbreitung einer Information, die mit Vorsicht zu behandeln wäre. Wörter gehören zur Wirklichkeit. Ob geschrieben oder gesprochen - sie können den Weg der Zerstörung gehen. Man muss sie rechtzeitig anhalten."

Dass es nicht nur einen Fall Kundera, sondern auch einen Fall Miroslav Dvoracek gibt, daran erinnert Petr Tresnak, ein Mitarbeiter von Respekt, in der New York Times. Nur zur Erinnerung: Dvoracek lebt noch. Er glaubt bis heute, seine Jugendfreundin Militka habe ihn verraten. Die NYT schreibt: "Tresknak, 32, dessen Vater ein bekannter Dissident ist, erklärte, die Redakteure von Respekt hätten eine schmerzhafte Debatte darüber geführt, ob der Bericht veröffentlicht werden sollte oder nicht. Am Ende, sagte er, habe sich das Magazin dafür entschieden, weil es den Mut Dovraceks zeigen wollte, der sein Leben im Kampf gegen den Kommunismus riskiert habe, und um Militka zu entlasten, die ihr Leben lang von Schuldgefühlen gequält wurde, sie sei verantwortlich für die Verurteilung ihres Jugendfreundes. 'Hier geht es nicht nur um Kundera, sondern um die Geschichte der Tschechischen Republik', sagte Tresnak."

Der Chefredakteur von Respekt, Martin M. Simecka, befürchtet im Interview mit Editors Weblog, dass die Politiker am Ende der Debatte das Prager Instituts für das Studium totalitärer Regime (Ustr) schließen könnten. "Dieser Fall könnte eine Debatte über die Vergangenheit eröffnen, aber es scheint, dass er die Debatte auch für viele Jahre verhindern könnte. ... Es gibt viele Fragen, die beantwortet werden müssten, aber Mr. Kundera spricht nicht mit den Medien."


Aktualisierung vom 4. November:

In der Welt nimmt der Autor Rolf Schneider seinen Kollegen Milan Kundera gegen Vorwürfe in Schutz, einen Exiltschechen an die Polizei ausgeliefert zu haben. Nicht allen Akten sei zu trauen: "Der tschechische Ustr scheint der gleichen Überzeugung zu sein wie die deutsche Birthler-Behörde: dass die geheimpolizeilichen Unterlagen absolut glaubwürdig seien. Es muss an dieser Überzeugung wohl festhalten, da es sich andernfalls die Grundlage seiner Existenz entzöge. Ich selbst darf nach Lektüre meiner Akten sagen, dass die Stasi, wie alle anderen DDR-Instanzen, in vielem uninformiert, fahrlässig und fehlerhaft vorging". (Allerdings geht es bei dem Fund nicht um eine Stasiakte, sondern um eine Anzeige auf einem Polizeirevier)

Was, wenn die Vorwürfe gegen Kundera stimmen, fragt Wolfram Schütte im Titel-Magazin. "Selbst wenn zuträfe, was dem 79jährigen Milan Kundera nun als folgenreiche 'Jugendsünde' einer Denunziation des 21jährigen vorgehalten wird, entwertete es nicht seine schriftstellerische Existenz und sein literarisches Werk. Ebenso wenig wie Günter Grass' spätes Eingeständnis seiner zeitweiligen Zugehörigkeit zur 'Waffen-SS' als Jugendlicher sein literarisches Werk tangiert, sondern nur seine vielfachen öffentlichen Aufforderungen an andere, deren Biografie rückhaltlos offen zu legen. Solchen Pharisäertums hätte sich Kundera nicht schuldig gemacht."

Ulrich M. Schmid nimmt in der NZZ die Vorwürfe gegen Milan Kundera sehr ernst und sieht einige Teile seiner Biografie in neuem Licht: "Kundera, der seit 1975 in Frankreich lebt, hält bis heute sorgfältige Distanz zu Tschechien. Er gibt kaum Interviews und ist auch nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes nur inkognito in sein Heimatland gereist. Sogar die Publikation seiner Romane behinderte er selbst systematisch. 'Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins' erschien erst vor zwei Jahren in Prag, weil Kundera angeblich keine Zeit zum Redigieren des Textes gefunden hatte. Kunderas Selbstmarginalisierung auf dem tschechischen Buchmarkt wäre dann zu deuten als Ausdruck der Hemmung, am Ort seines größten moralischen Versagens erfolgreich zu sein."

Recht nüchtern kommentiert der Economist: "Wie Milan Kundera selbst so treffend schrieb, 'ist der Kampf des Menschen gegen die Macht der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen'. In totalitären Regimen haben Märchen mit gutem und schlechtem Ausgang oft über die Wahrheit obsiegt. Mancher Held des Prager Frühlings im Jahr 1968 war nach dem kommunistischen Putsch noch unter den enthusiastischsten Befürwortern der mörderischen Säuberungen Stalins. Adam Hradilek [der Finder der Polizeiakte, PT] nimmt an, dass Kundera aus Eigeninteresse, nicht aus Bösartigkeit oder Überzeugung gehandelt hat. Millionen Menschen standen damals vor ähnlichen Entscheidungen. Manche habe ihre Taten eingestanden; viele haben es nicht. Unzählige Episoden dieser Art schweben über Osteuropa wie eine Giftwolke."

Im Freitag denkt der ungarische Schriftsteller György Dalos über das Interesse der "Enthüllungspublizisten" am Fall Kundera nur das Schlechteste. Zustimmend zitiert er Vaclav Havel, der Kundera schrieb: "Milan, erheben Sie sich darüber! Es gibt im Leben viel Schlimmeres, als von der Presse diffamiert zu werden." Falls sich der Vorwurf des Verrats aber doch als richtig herausstellt, hält Dalos es für "äußerst wichtig", die "seit 1990 nach und nach entlarvten intellektuellen Täter-Opfer" nicht alle in einen Topf zu werfen, sondern die Fälle "im Einzelnen zu prüfen. Es handelt sich nämlich um eine aussterbende Generation, die nach den schwierigen Lehrjahren der KP-Herrschaft versucht hatte, sich vom Fluch der eigenen Vergangenheit frei zu machen."

Auf Seite 3 der SZ trägt Klaus Brill die bisher bekannten Informationen zur Affäre Kundera zusammen. Wer hat Miroslav Dvoracek denunziert? "Dass es sich bei dem Studenten um einen gewissen Milan Kundera, geboren am 1. 4. 1929 in Brünn, gehandelt habe, muss nicht wahr sein, auch wenn es so im Protokoll steht. " Musste man sich bei der Polizei nicht ausweisen? Aber Brill denkt auch in eine andere Richtung: "Nach Auskunft des Historikers Jiri Pernes war Kundera damals Parteiobmann im Studentenheim und also verpflichtet, Verdächtiges zu melden."

Milan Kundera soll reden, meint Anja Seeliger im Perlentaucher: "Wenn Kundera fälschlich beschuldigt wurde, dann hat er das Recht sich zu wehren. Er hätte es auch vor der Veröffentlichung des Artikels schon tun können, denn Respekt hat ihn in einem Fax rechtzeitig über die Recherchen informiert. Bevor er aber von einem 'Attentat auf einen Autor' spricht und eine Entschuldigung von Respekt verlangt, sollten er und die Öffentlichkeit auch mal einen Gedanken an Iva Militka und Miroslav Dvoracek verschwenden. Sie verdienen die Wahrheit."

In Le Point bezweifelt Bernard-Henri Levy, wie auch die anderen französischen Autoren, die sich bisher äußerten, die Echthheit des Dokuments, auf dem die Anschuldigungen beruhen. Und obwohl sich in Frankreich bisher keine einzige Kundera-kritische Stimme erhoben hat, geißelt er die Medienaufmerksamkeit für das Thema und hält ein flammendes Plädoyer der Verteidigung: "Ich denke an Milan Kundera. Ich denke an diesen präzise wie ein Ballett choreografierten literarischen Krieg, wo gleich der erste Schlag sitzt und eine Zeitschrift, die auch noch die Frechheit besitzt, sich Respekt zu nennen, beschlossen hat, dich zu zerstören, und dir bleibt nur noch, die Schläge einzustecken, den Rücken zu krümmen und den Rest deiner Tage mit einem infamen Schatten zu leben, der nicht der eigene ist."

In Eurozine verteidigt Samuel Abraham, Chefredakteur der slowakischen Zeitschrift Kritika & Kontext, Milan Kundera. Er glaubt: "Kundera kann sagen was er will, die Anklagen tausend mal abstreiten, es kann nicht das Stigma der Schuld von ihm nehmen." Abraham hat ihm geschrieben und seine Abscheu über diesen Artikel bekundet. Kundera habe sofort geantwortet: "Ich glaubte nicht, dass es möglich war, so eine internationale Anklage auf der Grundlage einer einzigen Lüge loszutreten."

In Le Monde verteidigen die Historiker Pierre Nora und Krzysztof Pomian Milan Kundera: "Die tschechische Republik ist Mitglied der Europäischen Union. Wie ist es möglich, dass Dokumente der stalinistischen Sicherheitsdienste dazu dienen dürfen, Anschuldigungen öffentlich zu machen, ohne dass diese Dokumente zuvor einer einer minuziösen Kritik unterzogen, wie erklärt sich diese totale Verachtung rechtsstaatlicher Prinzipien wie der Unschuldsvermutung?"

Es handelt sich allerdings nicht um ein Stasidokument, die von Nora und Pomian geforderte Prüfung hat stattgefunden, und an seiner Echtheit können kaum Zweifel bestehen, berichtet Jerome Dupuis in L'Express. Dupuis ist nach Prag gefahren und zitiert zu dieser Frage den Hitoriker Rudolf Vevoda vom Institut zur Erforschung totalitärer Regimes: "Wir haben das Dokument vom Archiv des tschechischen Geheimdienstes analysieren lassen. Dort hat man das Papier, die genannten Namen, die Identität und die Unterschrift des Beamten überprüft - und hat geschlossen, dass das Dokument echt ist."

In der FAS stellt Claudius Seidl sich die Geschichte als Filmdrehbuch vor und meint dass "es letztlich gar nicht mehr so wichtig (ist), ob, wie der Zeuge Zdenek Pesat heute aussagt, es Dlask war, der zur Polizei gegangen ist, oder ob Kundera die Sache mit dem Koffer angezeigt hat".

Zum Fall Kundera schreibt Jacek Kubiak im polnischen Magazin Polityka: "Das 'Corpus delicti' besteht nur aus einem Polizeirapport. Warum sollte man da nicht einer Person glauben, die das kommunistische System kompromisslos bloßgestellt und dafür einen hohen Preis gezahlt hat? Aber Glauben ist nur Glauben."

Patrycja Bukalska berichtet im polnischen Tygodnik Powszechny über die tschechische Diskussion um Kundera: "Die Diskussion läuft weiter: über die Aktivitäten des Instituts (Ustr), über die Glaubwürdigkeit der Akten, über ihre Interpretation (manche fragen, ob sie nicht zu eindeutig ist). Die oppositionelle Sozialdemokratie will wieder die Abschaffung des Instituts fordern - solange die Konservativen regieren, gibt es dafür keine Chancen". (Ein Auszug aus Bukalskas Artikel hier)

Bohumil Dolezal, einer der bekanntesten tschechischen Publizisten, kritisiert in Lidove noviny die Angriffe auf das Prager Institut für die Erforschung des Totalitarismus (Ustr) und die Wochenzeitung Respekt. Die Veröffentlichung des Polizeivermerks, der Kunderas Verrat vermuten lässt, "ist natürlich mit Risiken verbunden: erstens, dass der Text eine Fälschung ist und der Verrat nicht stattgefunden hat. Es gibt aber ein noch größeres Risiko: dass sich das Bemühen durchsetzt, zu lügen, zu verschweigen und die Wahrheit unter den Teppich zu kehren, vor allem, wenn es um Prominente geht." Es gehe nicht nur um Angriffe aus der Presse auf Ustr und Respekt, sondern auch um massive Einmischungen der Politik in den Fall. "Die Demokratie gründet sich auf das Vertrauen in die Öffentlichkeit, in deren Fähigkeit, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Darauf, dass sie keinen Kurator benötigt. Bei uns setzt sich - wie man sieht -, ein solches Vertrauen nur sehr schwer durch."

In der FAZ fürchtet Lorenz Jäger, dass man in Zukunft nur noch schwer das fiktive und das möglicherweise reale Gepäck des Milan Kundera wird auseinanderhalten können.

Das tschechische Magazin Respekt sieht keinen Anlass, sich bei Milan Kundera zu entschuldigen, berichtet Hans-Jörg Schmidt im Perlentaucher. Kundera hatte eine solche Entschuldigung nach den Veröffentlichungen des Magazins verlangt (mehr hier): "'In unseren nächsten Ausgabe wird sich unser Herausgeber zu dem Fall äußern', sagt Chefredakteur Martin M. Simecka am Mittwoch gegenüber dem Perlentaucher. Und er fügt hinzu: 'Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden wir uns nicht entschuldigen.' Diese Formulierung wählt er, um seinem Herausgeber Zdenek Bakala nicht vorzugreifen. Man sehe auch 'sehr gelassen' einem möglichen, von Kundera angedrohten Prozess entgegen. Die nächste Ausgabe von Respekt erscheint am Montag. Simecka besteht darauf, dass das Dokument der tschechoslowakischen Polizei, das Kundera belastet, echt sei."

Elf weltbekannte Schriftsteller, darunter vier Literatur-Nobelpreisträger, haben in einem Brief ihre Unterstützung für Kundera bekundet. In dem Schreiben, das der Nouvel Observateur und Le Monde veröffentlichten heißt es, dass "auf zumindest zweifelhafter Grundlage die Ehre eines der größten lebenden Romanciers beschmutzt" werde. "Wir bringen hiermit unsere Entrüstung über diese Verleumdungskampagne zum Ausdruck und betonen unsere Solidarität mit Milan Kundera." Unterzeichnet wurde der Brief von John M. Coetzee (Nobelpreis), Jean Daniel, Carlos Fuentes, Gabriel Garcia Marquez (Nobelpreis), Nadine Gordimer (Nobelpreis), Juan Goytisolo, Pierre Mertens, Orhan Pamuk (Nobelpreis), Philip Roth, Salman Rushdie und Jorge Semprun. (Hier der ganze Brief in der deutschen Übersetzung).

In der tschechischen Zeitung Pravo berichtet der Schriftsteller Petr Prouza von einem Besuch bei Kundera, der anders als angedroht, doch nicht gegen das tschechische Magazin Respekt klagen wolle. Kundera sei "nicht mehr 60 oder 70, seine Zeit ist knapp bemessen und er möchte (lieber) noch einen großen Roman schreiben".

Richard Wagner kommentiert im Blog Achse des Guten: "Möglich, dass die Freunde dachten, sie könnten sich nur durch eine Denunziation retten. Damit aber wären sie Kollaborateure, und vielleicht ist das auch der Grund, warum Kundera schweigt. Besser wäre es, er würde reden. Man käme damit in der Aufklärung dieser tragischen Geschichte weiter, und auch in der Veranschaulichung des alltäglichen Lebens unter den Bedingungen des Totalitarismus. Auch das wäre hilfreich, angesichts der zunehmenden Verharmlosung der kommunistischen Vergangenheit, knapp zwanzig Jahre später."