08.07.2005. Ein Dossier mit Pressestimmen zu den Bombenattentaten vom 7. Juli 2005 in London.
Alle Zeitungen sind heute voller Berichte und Kommentare zu den Bombenattentaten in London. Hier ein kleines Dossier von Meinungen:
Zuerst aus den britischen Zeitungen:
Im
Guardian beschreibt der
Schriftsteller Ian McEwan, wie er den gestrigen Tag erlebt hat: "Die Polizei schwärmte aus in die Straßen von Bloomsbury, sperrte Straßen an beiden Enden ab, selbst wenn man nur zur Hälfte durch war. Die Maschinerie des Staates, der große Leviathan, bewegte sich seiner Autorität bewusst mit
ballethafter Koordination. All die Übungen für multiple Terrorangriffe zahlten sich aus. Tatsächlich hatte das Desaster, als es nun da war, einen Hauch von
matter Unvermeidlichkeit, und es kam einem so bekannt vor, als wäre es schon lange zuvor passiert. Im Niesel und trüben Licht sahen die Polizeiabsperrungen, die Krankenwagen, die schweigenden Passanten aus, als wären sie einem alten Wochenschau-Film in schwarz-weiß entsprungen. Der Olympia-Erfolg war überraschender als das hier. Wie konnten wir nur vergessen haben, dass es passieren würde?"
Sher Khan, Mitglied des
Muslim Council of Britain,
ruft ebenfalls im
Guardian in Erinnerung: "Zwei der getroffenen Bezirke haben eine große muslimische Bevölkerung.
Einer von sieben Londonern ist
muslimisch. Das sollte uns klarmachen, dass die Hintermänner dieses Verbrechens nicht an den Wert des Lebens glauben: nicht an den christlichen oder muslimischen Lebens, jüdischen oder hinduistischen, buddhistischen oder an den Wert des Lebens der Sikhs."
In der
Times wagt Gerard Baker die Frage:
"Ist das alles, was sie können?" Technik aus dem 20. Jahrhundert im Dienst eines
Fanatismus aus dem 14. Jahrhundert? "Ist das, worauf wir sie inzwischen reduziert haben? Der Schaden, den wir
al Qaida in vier Jahren Krieg zugefügt haben, ist ganz klar beeindruckend. Die Führung ist von ihren fanatischen Anhängern abgekoppelt. Die Infrastruktur ist zerbrochen. Und ja, indem wir sie im Irak bekämfen, Seite an Seite mit irakischen Soldaten und Polizisten, zeigen wir auch, wie leer ihre
todesliebende Sache ist."
Im
Independent kommeniert Robert Fisk: "Es hat keinen Zweck, dass Blair uns erzählt, 'dass sie niemals Erfolg damit haben werden, zu zerstören, was uns kostbar ist'. 'Sie' versuchen nicht, zu zerstören, was 'uns kostbar ist'. Sie versuchen die öffentliche Meinung dahin zu bringen, dass sie
Blair zum Rückzug zwingt: aus dem Irak, von seiner Allianz mit den Vereinigten Staaten und von seinem Festhalten an Bush Politik im Mittleren Osten."
Der
Economist hat seine aktuelle Ausgabe schon fertig und blickt in seiner
Analyse auf die
Unausweichlichkeit dieses Anschlags: "Die Nachrichtendienste in London sagen, dass sie in den vergangenen Jahren eine ganze Anzahl von Anschlägen vereitelt haben, darunter einen Anschlag mit Giftgas und einen anderen auf den
Flughafen Heathrow. Weniger ermutigend sind ihre inoffiziellen Schätzungen, wonach in Großbritannien um die 1.000 islamistische Terroristen oder ihnen nahe stehende Helfer heranwachsen. Wie präzise diese Angaben auch immer sein mögen, als allgemeines Bild zeichnen sich eher
wiederholte Terrorversuche ab als periodisch genau berechnete, eher zersplitterte, unkoordinierte Gruppen als gebündelte Aktionen."
Und hier die deutschen Zeitungen:
In der
FR lobt Brigitte Spitz die Regierungschefs, die den G8-Gipfel nicht haben platzen lassen: "
'Jetzt sind wir alle Londoner', sagte
Bertrand Delanoë, Bürgermeister von Paris, kurz nach den Anschlägen vom 7. Juli. Daraus spricht nicht nur die Solidarität mit den Opfern von der Themse, sondern auch diese Verwundbarkeit, die jetzt alle spüren. Deshalb war es richtig, in diesem Moment mit dem Gipfel in Schottland
weiterzumachen. Das mag nicht mehr als Symbolik sein. Aber an diesem Tag durfte man nicht noch ein Bild der Verunsicherung in die Welt senden."
"Warum berauschen sich so viele Muslime an den Niederlagen und Schwächen der westlichen, wohlhabenden, vorwiegend christlichen Welt?",
fragt sich Stefan Kornelius in der
SZ. "Weil sie ein tiefes Gefühl der Minderwertigkeit, der Benachteiligung, der Würdelosigkeit empfinden. Umgekehrt verspüren sie keine Empörung über die Selbstmordattentate gegen
Glaubensbrüder im Irak. Diese Toten erzeugen keine Emotion, sie taugen nicht als Symbol für neue Würde und Hoffnung ... Der
G-8-Club der Globalisierer wurde an diesem Donnerstag daran erinnert, dass er eine gewaltige politische Aufgabe zu erfüllen hat. Bisher sprachen die Acht und ihre Verbündeten in der Anti-Terror-Politik
nicht mit einer Stimme. Die Erfahrung von Gleneagles hat sie hoffentlich eines Besseren belehrt."
Es geht den Bombenlegern nicht um eine bessere Welt,
schreibt Arno Widmann in der
Berliner Zeitung. "Die Attentäter von London - die, die möglicherweise bei der Tat umgekommen sind, ausgenommen - sitzen jetzt - am Donnerstagnachmittag -
vor dem Fernseher, um sich ihre blutenden Opfer anzusehen, um sich daran zu freuen, wie Männer und Frauen in die Mikrofone weinen. Was sie tun, tun sie nicht für eine bessere Welt, sie tun es nicht einmal für einen islamischen Gottesstaat, für die Wiedererrichtung des Kalifats. Sie tun es für diesen Moment, da sie sich
mächtig fühlen. Der Schrecken, den sie uns antun, ist kein Mittel für einen anderen Zweck. Er ist das Ziel."
Roger Köppel in der
Welt glaubt nicht, dass die Bomben "
Strafaktionen gegen die englische 'Kreuzfahrer-Regierung' (sind), die für ihre Teilnahme am Irak- und am Afghanistan-Krieg gezüchtigt werden soll. Die Islamisten orientieren sich nicht an weltlich-politischen Motiven, sie verfolgen eine jahrhundertealte
Eschatologie der Zerstörung, die unterscheidet zwischen Rechtgläubigen und Untermenschen, lebensunwerten Leugnern der Wahrheit Allahs, die man bekehrt, unterwirft oder tötet."
In der
taz fordert Christian Semler, am
Willen zur Vielfalt unbedingt festzuhalten: "Eine Stadt wie London ist ein Laboratorium des Zukünftigen. Nicht die Westminster City, sondern das vielfältige, lebendige und schöpferische 'Greater London' samt seinen gewaltigen, ungelösten auch ethnischen Problemen. Gerade dieses ungewisse Versprechen auf ein friedliches Zusammenleben der Völker und der Religionen ist es, was den Hass der Terroristen bündelt. Es wäre falsch, in der Wahl der 'weichen Ziele' nur ein taktisches Mittel der Terroristen zu sehen, eine Art Ausweichmanöver im 'asymmetrischen Krieg'. Im Zentrum des Denkens von Leuten, die das 'weiche' Ziel Großstadt angreifen, steht der Kampf gegen den
Moloch Metropole mit seinen
unreinen Vermischungen, seiner identitätsbedrohenden Dynamik."
In der
Zeit kommentiert Josef Joffe die Anschläge mit Blick auf die schwierige Balance zwischen
Sicherheit und Freiheit. Er glaubt, dass die Demokratien im Kampf gegen den Terror heute Freiheiten beschneiden müssen, um Freiheit zu bewahren: "Wir sind aus absolut verständlichen Gründen bereit, Freiheiten gegen Sicherheit zu tauschen. Also warten wir geduldig vor den Sicherheitskontrollen am Flughafen, also akzeptieren wir biometrische Ausweise, also segnen wir überall im Westen
'Sicherheitspakete' ab, die dem Staat so viel mehr Macht als bisher verleihen, uns zu beobachten, abzuhören. aufzunehmen und zu speichern. Das ist nicht der 'böse', sondern der gute, fürsorgliche Staat, und wir geben
freiwillig unsere Placet. Der Freiheit dient es trotzdem nicht, auch wenn wir uns freiwillig die Fesseln anlegen. Ein übles Paradox: Wir zahlen in der Münze der Freiheit, um unsere Freiheit zu bewahren."
Unglaublich wütend
reagieren Michael Hanfeld und Stefan Niggemeier in der
FAZ auf die
unprofessionelle Berichterstattung im
deutschen Fernsehen. "Bei den Kollegen von N24 verstrickte sich ein Analytiker angesichts der unsicheren Börsenentwicklung in der Formulierung: 'Es wird sicher einer der spannendsten und hoffentlich nicht traurigsten Tage, die wir hier erleben müssen.' Es ist kein origineller Wunsch an solchen Tagen vor dem deutschen Fernsehen, aber er wird mit jedem Mal intensiver: Man wünschte sich, die Sender würden sich darauf beschränken, ein paar
sehr gute Simultandolmetscher zu beschäftigen, und das Programm von
CNN,
BBC World oder
ITV einfach nur übersetzen." Einzige lobenswerte Ausnahme für die FAZler:
Phoenix.