Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
11.03.2002. In Outlook India geißelt Edward W. Said den degenerierten intellektuellen Diskurs in den USA. Die NY Review of Books bringt zwei Artikel über die Heisenberg-Debatte. Der Economist überlegt, ob die akademische Freiheit das nationale Sicherheitsbedürfnis gefährdet. Im Spiegel erklärt der Architekt Oskar Niemeyer, warum seine Gebäude so kurvig sind. L'Espresso sieht bei europäischen Politikern einen Hang zum Restaurativen. Die NYT Book Review hat Andrea Dworkins Memoiren gelesen.

New York Review of Books (USA), 14.03.2002

Zwei Artikel beschäftigen sich noch mit den nie abgeschickten, jüngst jedoch veröffentlichten Briefen von Niels Bohr an Werner Heisenberg: Thomas Powers sieht Heisenbergs Rolle im Atombombenprogamm der Nazis weiterhin ungeklärt. Michael Frayn, Autor von "Kopenhagen" (mehr hier) räumt ein, dass der reale Bohr tatsächlich viel länger viel zorniger gewesen ist als der Bohr in seinem Stück. Zwar brächten die Briefe nichts Neues, aber fasziniert äußert sich Frayn dennoch: "I can't help being moved, though, by the picture that the new documents give of Bohr drafting and redrafting the text of the letter over the last five years of his life-and still never sending it. He was famous for his endless redrafting of everything he wrote, and here he was trying not only to satisfy his characteristic concern for the precise nuance, but also to reconcile that with his equally characteristic consideration for Heisenberg's feelings. There is a sad parallel with the account which Professor Hans-Peter Dürr gave at the Heisenberg centenary symposium in Bamberg last year, of Heisenberg's rather similar efforts to understand what had happened."

Alle schreiben über den Islam, die New York Review ist mal wieder etwas gleicher und widmet ihre neue Ausgabe religiösen Verwirrungen im Westen. Gary Wills etwa beschäftigt sich mit der christlichen Elite in den USA, den Jesuiten (mehr hier oder hier), deren Mitgliederzahl in den vergangenen 30 Jahren um mehr als die Hälfte gesunken ist. Gaying and graying nennt er die Entwicklung, die dem Orden zu schaffen macht: "It is not surprising that the numbers of heterosexuals have declined, as many left to marry and others were deterred by the celibacy requirement from entering. The remaining or arriving gays have formed protective networks to provide the sense of community otherwise so hard to come by in the order. A straight young Jesuit says: 'I feel quite alone when Jesuits of my generation talk about sex and sexuality.'"

Freeman J. Dyson blickt zudem auf die grundlegenden Unterschiede zwischen Religion und Wissenschaft, die besonders in der Eschatologie zu Tage trete, der Lehre vom Ende Welt. Frederick C. Crews berichtet über den Zen Mind Temple Tassajara in Kalifornien (mehr hier), der vor allem durch das imperiale Gehabe des Ehrenwerten Lehrers Richard Bakers von sich reden gemacht hat (einige nennen ihn den Nixon des Zen). Und Owen Chadwick untersucht, wie sich der vormoderne Antijudaismus zum modernen Antisemitismus entwickelt hat, und was die katholische Kirche damit zu tun hat (natürlich viel).

Ferner: Michael Tomasky schließt seine gründlich recherchierte Geschichte des World Trade Centers ab. (Den ersten Teil können Sie hier nachlesen).

Outlook India (Indien), 11.03.2002

In einem lesenswerten Artikel der Outlook-Webausgabe macht sich der in den USA lehrende, palästinensische Intellektuelle Edward W. Said (mehr hier und hier) Gedanken über die mehr und mehr ins Metaphysische wachsenden Herrschaftsansprüche Amerikas und beschimpft die Unterzeichner (Leute wie Samuel Huntington und Francis Fukuyama) des jüngst in europäischen Zeitungen lancierten Papiers "What are American Values?" als Kriegstreiber: "All in all, this declaration of principles and complaint addressed by American intellectuals to their Muslim brethren seems like neither a statement of real conscience nor of true intellectual criticism against the arrogant use of power, but rather is the opening salvo in a new cold war declared by the US in full ironic cooperation, it would seem, with those Islamists who have argued that 'our' war is with the West and with America ... 'What are American Values?' augurs a new and degraded era in the production of intellectual discourse. For when the intellectuals of the most powerful country in the history of the world align themselves so flagrantly with that power, pressing that power's case instead of urging restraint, reflection, genuine communication and understanding, we are back to the bad old days of the intellectual war against communism."

Soma Wadhwa kommentiert das Urteil gegen Arundhati Roy (die Schriftstellerin hat die ihr wegen Missachtung des Gerichts auferlegte Strafe von 1 Tag Gefängnis und umgerechnet 50 Euro bereits hinter sich) und hält den Fall keineswegs für abgeschlossen: "The ruling has made for a test case in which a citizen's right to freedom of expression is being seen as pitted against the judiciary's powers to punish for contempt."

Ferner: Arun Venugopal taxiert den Marktwert indischer Kunst und glaubt, da ist noch was rauszuholen; es gibt ein Interview mit Shimon Peres über neue Friedenspläne für Nahost sowie einige Besprechungen: Zum neuen West-End-Musical "Bombay Dreams", das eine Bollywood-Lovestory "verwebbert", zu einem Buch einer exilierten Afghanin, die ihre Jugend unter dem Taliban-Regime beschreibt, zu einem Insiderbericht über die indische Wirtschaftsgeschichte und zu einem "überraschenden" Band mit Erzählungen aus Gujarat.
Archiv: Outlook India

Economist (UK), 09.03.2002

Ein interessanter Artikel versteckt sich im Ressort "Science and Technology" und geht ein Problem an, das gegenwärtig besonders die USA beschäftigt: Wie lassen sich akademische Freiheit und Wissensvermittlung (besonders im Bereich der Biotechnologien) und ein erhöhtes nationales Sicherheitsbedürfnis, gegründet auf die Angst vor Bioattacken, unter einen Hut bringen? Schon zeigen Wissenschaftler sich besorgt, "that new areas of bioscience may become classified, that the government is considering reviewing work prior to publication (with an option on refusing permission to publish) and that it might insist that the methods sections of some research papers are removed ... But if a paper lacks a methods section, there is no way of verifying whether the results were simply invented". Mit anderen Worten: Zensur kann keine Lösung sein, zumal es, wie es hier heißt, wohl kaum einen sichereren Weg geben dürfte, das wissenschaftliche Potenzial eines Landes auszutrocknen. "For America, a country that depends on the advancement of science for much of its success, that consideration is worth thinking about."

Was die britische Judikative derzeit unternimmt, um das Recht auf Privatsphäre besser zu schützen und der Sensationspresse eins auszuwischen, findet der Economist nicht ganz unproblematisch, auch wenn er nicht gerade zu den "tabloids" zählt: "The main consequence of judicial activism will be to threaten the livelihoods of tabloid newspapers and the paparazzi who feed them. Nobody is likely to cry about that, since the tabloids are generally despised even by those who read them. But there is something more serious at stake. Law put together piecemeal by the courts will be messy, and it risks protecting secrecy that should be exposed as well as privacy that shouldn't."

Außerdem: 6 Monate nach 09/11 zieht das Magazin in seiner Cover Story eine Bilanz des "war on terror", prüft die Partnerschaft zwischen Europa und den USA auf ihre Belastbarkeit und berichtet, wie Downtown Manhattan langsam wieder zu seinem Rhythmus zurückfindet. Wir lesen über ein Buch, das dem alten Traum vom mechanischen Leben nachspürt - von den ersten Schachautomaten bis zur Robotik -, und, damit wir wissen, wo wir stehen, eine Rangliste der 10 reichsten Menschen (darunter allein 5 "Wal-Mart" Waltons!).
Archiv: Economist

New Yorker (USA), 11.03.2002

Rebecca Mead erklärt uns in ihrem "Letter from Tokyo" den Markenfetischismus japanischer Jugendlicher. So werden im "Brand Select Recycle", einer Art Second-Hand-Kaufhaus für Designerklamotten in Tokyo, für ein gebrauchtes Sweatshirt schon mal 1000 Dollar auf den Tisch gelegt. Die Preise, erklärt uns Mead, werden laut Geschäftsführer Takeuchi nicht von ihm, sondern von den Leuten festgesetzt, die ihre getragenen Sachen kommissarisch bei ihm einliefern. Andererseits seien seine Kunden nicht ausschließlich "Markensklaven": Manche Labels, die auf dem "normalen" Markt gefloppt hatten, sind hier plötzlich heiß begehrt, ein "Mainstream-Label" wie Comme des Garcons dagegen kann zum billigen Ladenhüter werden. "Takeuchi said that he was still unable to predict when one brand would surge in popularity while another fell out of favor. 'It's kind of like the image of the capitalist economy - the more desired it is, the more expensive it is,' he said. 'It cannot be accounted for rationally.'" Das scheint uns auch so.

Joseph Epstein lobt Andy Bellins Buch "Poker Nation", eine Mischung aus Memoiren, soziologischer Studie und Spielanleitung. "Poker may be the only card game that cannot be played without a stake: money, most obviously, but in a pinch cigarettes (as in prison), toothpicks, or wooden matches will do. Without a stake, poker doesn't quite rise to the level of boring: to stir interest, one has not only to beat someone but to beat him out of something. In itself the game is almost too rudimentary. Add a few players of differing temperaments, a stake preferably a bit (or, better, a lot) more than the players can afford to lose, and the juices begin to flow."

Außerdem zu lesen: "Upholstery", eine melancholische Erzählung von Joyce Carol Oates.Judith Thurman verabschiedet noch einmal Yves Saint Laurent mit einem umfangreichen Porträt, und Joan Acocella stellt die Mark Morris Dance Group vor. Besprochen werden der Film "Y Tu Mama Tambien" von Alfonso Cuaron (hier), außerdem die Broadwayinszenierung "The Crucible" von Arthur Miller und eine Bühnenbearbeitung von Ovids "Metamorphosen" in (hier).

Nur in der Printausgabe: Joe Klein über Pläne einer Art Friedenskorps der Polizei, eine Stilanalyse der weißen Schwesterntracht und Lyrik von John Ashbery.
Archiv: New Yorker

Profil (Österreich), 11.03.2002

In einem Profil-Interview äußert sich die Theaterfrau Edith Clever über Karriere, NS-Zeit, US-Präsident Bush und ihre Arbeit am Wiener Akademietheater. Unter anderem beklagt sie die "Enge unserer Meinungsfreiheit" in Diskussionen um die NS-Zeit. "Als Botho Strauß oder Martin Walser in der Frage des Umgangs der Deutschen mit der NS-Vergangenheit eine eigene Meinung vertraten, wurden ihre Beiträge denunziert und sie selbst ins rechte Eck gedrängt, wo sie sich geistig gar nicht aufhalten. Wie viel offene Kritik darf man äußern? Die aktuelle Diskussion über die USA zeigt ähnliche Muster. Susan Sontag etwa wurde für ihre erste, USA-kritische Reaktion auf den 11. September hart angegriffen." Ihr spreche auch Jean Baudrillard aus der Seele, wenn er aufzeige, "wie die humanen Interessen längst dazu verwendet werden, wirtschaftliche und Macht-Interessen zu kaschieren."

Ein paar Seiten weiter analysiert der von der Clever so geschätzte Baudrillard in einem Interview die Anschläge von New York vor einem halben Jahr: "Als wären die Türme müde", meint er und betont wiederholt die symbolische Bedeutung des Terrors. Bei der symbolischen Gewalt gehe es nicht mehr um rechts oder links; sie sei vielmehr der Aufstand "einer gewissen Singularität", eines " unsinnigen Widerstands, der keine rationale Perspektive" habe. Terrorakte hätten keinen Sinn. "Aber auch das System in seinem Verlauf ist sinnlos, es geht technisch unwiderstehlich seinen Weg, ohne Perspektive."
Archiv: Profil

Spiegel (Deutschland), 11.03.2002

Der Pariser Jeu de Paume zeigt gerade eine große Ausstellung seiner Werke, der Spiegel interviewt ihn: Oscar Niemeyer, 94, Freund Le Corbusiers, Erbauer der Retortenstadt Brasilia und ein heller Kopf - immer noch. Nicht nur dass er die Architektur nicht über das Leben stellt, er lässt auch Vergeltung nicht gelten und nennt den Krieg, den Amerika und seine Verbündeten führen "eine Schande", Missachtung des Lebens, des Ursprungs seiner Kunst: "Von den Kurven der Frauen, aber auch den Bergen und Flüssen meines Landes beziehe ich meine Inspiration. Das alles macht mein 'imaginäres Museum' aus. Es umfasst, in den Worten von Andre Malraux, alles, was wir im Leben lieben."

Außerdem: Der Titel beschäftigt sich mit der überforderten deutschen Armee (nur im Print). Neues in Sachen Leo Kirch (jetzt geht's um die Frage: Wer verliert wie viel?), Uwe Klußmann stellt ein weiteres potenzielles Ziel der USA vor: Das Pankisi-Tal im Südkaukasus. Und nur im Print spricht Tanja Dückers über ihren "Wilhelm Gustloff-"Roman, und ein Cebit-Spezial gibt Auskunft zum Thema "mobiles Internet".
Archiv: Spiegel

Espresso (Italien), 08.03.2002

Interessante These, die Giovanna Zincone da im Espresso aufstellt. Über den allgemeinen moralischen Verfall denkt sie nach und über seine Ursachen. Ob Scharping mit der Luftwaffe nach Mallorca jettet, Politiker sich bestechen lassen oder Professoren ihre Studenten sexuell nötigen - für Zincone sind solche Skandale allesamt Ausdruck eines ausgeprägten Hangs zum Restaurativen. Leute wie unser Verteidigungsminister, meint sie, würden die von Max Weber als ein wesentliches Merkmal der Moderne erkannte Trennung von Arbeitskraft und Eigentum schlicht ignorieren. Sie lebten weiter in einer Zeit, da ein Steuereintreiber einen Teil des eingenommenen Geldes noch für sich behalten durfte, ein Richter seinem persönlichen Rechtsverständnis entsprechend richtete und, ja, man das Land, das man verteidigte, auch tatsächlich besaß.

Und außerdem: In einem Leader des Magazins wägt Enrico Pedemonte die Vorteile rascher Wissenvermittlung auf dem Gebiet der Biotechnologien durch das Internet gegen das dadurch entstehende Risiko ab, dass solches Wissen leicht in falsche Hände geraten könnte, und Bruno Manfellotto beklagt, dass sich der Wucher (eigentlich eine Domäne des Südens) jetzt im Nordosten Italiens breit macht.
Archiv: Espresso

Express (Frankreich), 07.03.2002

"La Revolution surrealiste" ist eines der größten intellektuellen Abenteuer des 20. Jahrhunderts, meint Werner Spies, der Leiter der gleichnamigen großen Retrospektive im Centre George Pompidou in Paris. Die Ausstellung versammelt 600 Werke, die zwischen 1919 und 1940 entstanden sind und aus verschiedenen Privatsammlungen und Museen der Welt stammen. Mit Bretons und Soupaults Experiment des "Automatischen Schreibens" hat die surrealistische Ergründung des Unterbewußten, des Traums, des Unkontrollierbaren jenseits von Rationalität und Realität begonnen. Doch für so manchen Surrealisten klang das dadaistische Kinderlallen noch immer wie Musik in den Ohren. So bekam die so milde lächelnde Joconde einen Schnurrbart verpasst. Der Täter? Marcel Duchamp. Skandal!

Was man von schönen Frauen zu halten hat, weiß auch der belgische Sänger Arno, wenn er in seinem Lied "Ma femme" folgende Zeilen zum Besten gibt, die in keiner anderen Sprache als im Französischen schöner klingen könnten: "Mon dieu qu?elle est belle/Une vrai menteuse/Pourtant elle a des fesses si delicieuses." Nun gut. Einen ausführlichen Artikel über Arno lesen Sie .

Die Bücherschau hat in der aktuellen Ausgabe den Länderschwerpunkt Amerika: Philippe Coste hat anlässlich des Erscheinens von "Cash Cash" (einen Auszug lesen Sie hier) und "Trompe la mort" (einen Auszug lesen Sie hier) mit den beiden amerikanischen Krimiautoren Ed McBain alias Evan Hunter und Lawrence Block gesprochen. Andre Clavel bespricht den amerikanischen Skandalroman "Ravelstein" von Saul Bellow. Und Pierre Laval wird in einem neuen Buch von Yves Porcher durch die Augen seiner Tochter betrachtet. Die Familie ist eine Fundgrube des Friedens, denn verraten wird man zuallererst von den Seinen - das wissen wir ja.
Archiv: Express

New York Times (USA), 10.03.2002

Laura Miller vom Salon-Magazin stellt die Memoiren der militanten Frauenrechtlerin Andrea Dworkin vor. Und wie Dworkin dem Leser (dem Leser vor allem!) aus diesem Buch entgegentritt: "ravaged and thundering like one of Shakespeare's Plantagenet queens, to deliver her fearsome maledictions"! Eloquent, meint Miller, ist diese Frau (die eher einen Sexisten töten würde als sagen wir ein Schwein) ja, schade nur, dass dahinter mehr aufbrausende Erregung steckt als klares Denken. "'Heartbreak' describes, a bit vaguely, a story of disillusion with the sexism of the 60's left, and alludes even more foggily to past episodes of domestic violence and prostitution, but it doesn't detail the process by which those experiences must have clashed with and transformed the liberationist ideals Dworkin picked up from her early influences. It's a scattered, moody book, a fugue rather than a narrative."

Nicht direkt eine Pastorale, dieser neue Roman von Ian McEwan (Leseprobe "Atonement" plus Autorenfeature). Was mit blühenden Schwertlilien und junger Liebe beginnt, erklärt Tom Shone in seiner Besprechung, wird mehr und mehr von einer gewissen Unruhe überschattet, die in diesem Fall mit einem Familientrauma infolge eines Verbrechens zu tun hat. Mehr will Shone gar nicht verraten. Nur so viel noch: "If it's plot, suspense and a Bergsonian sensitivity to the intricacies of individual consciousnesses you want, then McEwan is your man and 'Atonement' your novel. It is his most complete and compassionate work to date."

Weitere Artikel gibt es zu einem Buch über Gedeih und Verderb des US-amerikanischen Nachrichtenwesens, mit verfasst vom Herausgeber der "Washington Post" (Auszug "The News About the News"), zu einem Reisebericht aus dem Iran (Auszug "Searching for Hassan") und zu Victor Pelevins neuem Post-UdSSR-Roman "Homo Zapiens". Judith Shulevitz schließlich untersucht die Gedichte, mit denen Osama bin Laden seine Propaganda-Videos zierte, und stellt fest: Der Mann ist ein Plagiator (zum Text, zum Video).
Archiv: New York Times

The Atlantic (USA), 01.03.2002

Ron Powers liefert eine lange Reportage über zwei Teenager aus dem wohlhabenden Chelsea, Vermont, die letztes Jahr ein deutsches Professoren-Ehepaar erstachen. Powers ist selbst vor Jahren mit seiner Familie dorthin gezogen - wegen der Kinder, die hier in guter Luft und unter freundlichen Nachbarn aufwachsen konnten. Eine große Rolle spielte auch, dass Vermont "in den 1980s and 1990s ... an der Spitze von Amerikas 'sichersten' and 'erträglichsten' Staaten stand." Robert Tulloch und Jimmy Parker sollten diese Vorstellung zerstören. Powers sieht die beiden als "Repräsentanten eine neuen Mutation in der Evolution des mörderischen amerikanischen Jugendlichen". Ihre Verbrechen begehen sie nicht im "Kriegsgebiet" Großstadt. "Statt dessen sind die Opfer meist Menschen, die friedlich in kleinen Städten oder Vororten leben - harmlose Partner in der sozialen Ordnung. Die jungen Angreifer sind Teil dieser Ordnung, untrennbar damit verbunden - bis sie eines Tages, erfinderisch ausgerüstet und versessen darauf, ihre privaten Fantasien auszuleben, auftauchen ... Besonders verstörend ist an diesen Morden, dass sie ohne erkennbare Motive geplant sind und von der kältesten Verachtung für ihre Opfer zeugen."

Weitere Artikel: James Fallows beschreibt die "intellektuelle Evolution" von Paul Wolfowitz, Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Und Peter Landesman erinnert sich an ein gruseliges Gespräch mit dem Sekretär von Benazir Bhutto über die pakistanische Atombombe.

Nur im Print beschreibt Wayne Curtis die einzige florierende Industrie Neufundlands: Eisberge abernten. "Sehr viele Menschen wollen reines Wasser, und sie zahlen jeden Preis dafür." (Mehr dazu bei einem der Profiteure). Und Charles C. Mann behauptet, dass in Lateinamerika vor der Landung von Christoper Columbus eine hochzivilisierte Gesellschaft existiert hat, die den Regenwald angelegt und gepflegt hat.

Unter den Buchkritiken findet sich ein Text von Walter Laquer, der Gilles Kepels Buch "Jihad" gewidmet ist. Claire Messud bespricht "Atonement", den neuen Roman von Ian McEwan.
Archiv: The Atlantic

Folio (Schweiz), 04.03.2002

Jetzt gehören sie also dazu, die Schweizer. Willkommen! Doch nicht der Volksentscheid über einen UNO-Beitritt, ist für Folio Anlass, ein Heft zum Zustand der Schweiz herauszugeben, sondern die schwere Krise, in der sich das Land wähnt. Entzauberung all über all: befleckte Vergangenheit, Swissair-Pleite, Amoklauf im Zuger Rathaus, das Inferno im Gotthardtunnel. Hier also der Stand der Dinge.

Urs Widmer
(mehr hier) etwa hat sich auf die Reise durch das Mittelland zwischen Zürich und Bern begeben, in einen "Landstrich, der so aussieht, als hätte ein schlampiger und schlecht gelaunter Gott ihn geträumt". Vergleichbar dem Rhein-Main-Gebiet. Und zwischen Jurafelsen und waldigen Hügeln ist Widmer auf das Eigentliche gestoßen: "Denn auch der Mittelländer spricht, wie alle Menschen, am sehnsuchtsvollsten von dem, was er nicht hat. Er liebt das Eigentliche, weil er chronisch im Uneigentlichen lebt. Manche leiden darunter, andere mögen just das Kaputte. Denn es tut uns Menschen auch gut, in einer Umgebung zu leben, der wir uns überlegen fühlen dürfen. Versuch das mal mit der Toscana oder den Niagarafällen. Aber in Suhr oder Murgenthal gewinnt die eigene Seele fast stets über die Außenwelt."

Margrit Sprecher beschreibt die Arbeit der PR-Agentur Präsenz Schweiz (mehr hier), die das Image der gebeutelten Eidgenossen aufpolieren soll: "Gelder von Diktatoren auf Schweizer Banken und Schweizer Nummernkonti in beinah jedem zweiten Hollywood-Thriller? Leider, aber Präsenz Schweiz arbeitet daran. Und das neue Geldwäschereigesetz wird Ordnung schaffen. Südafrika, wo amerikanische Anwälte Sammelklagen gegen die Schweiz vorbereiten? Präsenz Suisse hat die Sache im Griff. Bereits reisten südafrikanische Journalisten durch unser Land, um Schweizer kennenzulernen, die weder mit Geld, Waffen oder Giftgas die Apartheid unterstützten."

Und der Autor Dietrich Schwanitz (mehr hier) bemerkt zur Paradoxie der helvetischen Willensnation: Sie bleibe an ihre Erfolge gekettet wie Prometheus an den Felsen. "Sie kann sich auch dann nicht von den Erfahrungen der Vergangenheit trennen, wenn die Welt sich ringsum geändert hat. Neue Erfahrungen machen nur die, die scheitern." Der Historiker Thomas Maissen sieht das ähnlich und freut sich deshalb über die Krise.

Weitere Artikel beschäftigen sich mit dem Aufflackern eines neuen Nationalgefühls ("das Leiden an der Schweiz ist out"), dem Versagen der Manager ("Schönwetterkapitäne"), der auf Schadensbegrenzung beschränkten Außenpolitik und Tyler Brules Liebe zu Schweiz, Swiss und Pitralon.

Mit großem Bedauern stellen wir fest, dass es diesmal keine Kolumne von Martin Suter gibt.
Archiv: Folio

London Review of Books (UK), 22.02.2002

Ein hübsch abseitiges Thema hat sich Peter Campbell ausgesucht: Warum, fragt er, braucht es oft Wochen oder gar Monate, um eine gewöhnliche Rolltreppe zu reparieren? Die Antwort ist so knapp wie einleuchtend: "Escalators are big, complicated machines packed into tight shafts and there aren't many hours when you can work on them." Bis Campbell damit rausrückt aber, hat er nicht bloß eine kleine Phänomenologie dieses modernen Klassikers der Beförderungsmittel abgeliefert, sondern auch die ein oder andre mit ihm verbundene Anekdote: "In the early days people had to be persuaded to get on at all. A one-legged man, 'Bumper' Harris, was hired to ride for a whole day on the first installation - it was at Earls Court - to show how easy it was. Some people were sceptical (how had he lost his leg?) but others broke their journey there just to ride up and down."

Tom Vanderbilt untersucht den totalen Überwachungsstaat anhand von James Bamfords investigativer Studie "Body of Secrets". Obgleich er nach der Lektüre des (übrigens vor 09/11 erschienenen) Buches keine Zweifel mehr hat, dass die amerikanische National Security Agency (NSA) über Mittel verfügte, die Attacken vom 11. September vorauszusehen - "for the Agency, which, as Bamford reminds us, is larger than the FBI and CIA combined (and has office space equivalent to 11 World Trade Centers), has long been present at epochal events, a headphones-wearing Forrest Gump lurking at the margins of history" -, hält er "total surveillance" dennoch mehr für ein Schreckgespenst: "Big Brother may be everywhere, but he's not watching (at best he's desperately channel surfing)."

Stephan Burt schließlich zeigt den Dichter Williams Carlos Williams als radikalen Modernen: "The Hurricane": The tree lay down / on the garage roof / and stretched, You / have your heaven, / it said, go to it. "A snapshot of Williams's suburbs, an emblem for secularists, and a demonstration of how it sounds (curt, confident) to take disaster in one's stride."

Merkur (Deutschland), 01.03.2002

In der Zeitschrift für europäisches Denken finden sich diesmal ausnahmslos Texte deutschsprachiger Autoren. Gleichwohl keine uninteressante Ausgabe. Ins Netz sind leider nur zwei Artikel gestellt: Eine etwas unvermittelte Polemik von Mariam Lau gegen die Verehrer von Willy Brandt ("Denn es sind eben nicht die Leistungen, sondern die Schwächen des Politikers Brandt, die für seine Liebhaber eine Rolle spielen") und eine späte Würdigung des Nobelpreisträgers V.S. Naipauls (hier mehr) durch den Schriftsteller Walter Klier.

Viel interessanter, aber nur im Heft ist dagegen die facettenreiche Abhandlung des Wiener Philosophen Rudolf Burger zur "islamischen Verschärfung", in der er mit Richard Rorty, Hegel und Hobbes den demokratischen Liberalismus in Stellung gegen den religiösen Fundamentalismus bringt. Der kenne keine Toleranz in letzten Dingen und mache damit Politik unmöglich, die schließlich darauf gründe, dass Interessen verhandelbar sind. "Indem die barbarischen Akte fanatischer Gegenaufklärung die Verletzlichkeit der modernen Zivilisation demonstrierten, haben sie auch deren Kostbarkeit zu Bewusstsein gebracht und die kulturelle Hierarchie von Zivilisationen." Nun zeigten die Kulturen ihre politischen Krallen und formierten sich, wie Burger die neue Lage beschreibt, "zu einer Koalition der Leviathane gegen den Behemoth." Zugleich warnt Burger vor einer neuen Moral des Absoluten und den Glauben an einen gerechten Krieg. Zu seiner Verteidigung brauche der Liberalismus allenfalls bessere Geheimdienste und schroffere Manieren.

Einen düsteren Ausblick gibt zum selben Thema auch Ernst-Otto Czempiel von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (hier mehr), der "hinter dem Panier der Terrorismusbekämpfung" die Wiederaufnahme des Krieges in das Arsenal der außenpolitischen Mittel befürchtet.

Der Historiker Heinrich August Winkler (hier mehr) stellt zur "deutschen Besonderheit" fest: "Im Anfang war das Reich". Was die deutsche Geschichte von der Geschichte andere westeuropäischer Nationen unterscheidet, habe hier - und nicht im 19. Jahrhundert - seinen Ursprung, meint Winkler. "Nicht der Nationalstaat als solcher führte in die Katastrophe. Der Weg in den Abgrund begann mit der Anmaßung derer, für die das Reich mehr war und mehr zu sein hatte als ein Nationalstaat unter anderen."

Weitere Texte beschäftigen sich mit den Giftgaseinsätzen und dem Versagen der Wissenschaft im Ersten Weltkrieg, aus sich selbst heraus Maß zu setzen; mit Kathrin Rögglas Buch "really ground zero" und der Frage, ob das wirkliche Leben auch really Literatur hervorbringen kann; und mit der Resozialisierung jugendlicher Straftäter.
Archiv: Merkur

Literaturen (Deutschland), 01.03.2002

"Die Amerikaner kommen". Gemeint ist nicht etwa ein Antiterror-Bataillon, sondern die junge amerikanische Literatur. Literaturen widmet ihr einen Schwerpunkt. Unter anderem mit einem Beitrag Willi Winklers über das theologische Moment in Jonathan Franzens Roman "The Corrections" und einem Porträt des Autors Richard Powers ("Galatea 2.2.", "Schattenflucht"), der in den USA als erster Epiker des digitalen Zeitalters gehandelt wird und den Jan Bürger für einen wahren Tausendsassa hält. "Unerhört geistreich" nutze er die Erzähltechniken der klassischen Moderne zur Beschreibung von Problemen des 21. Jahrhunderts. "Während alle Welt nach verfilmbaren Büchern eifert, zielt er gerade auf das ab, was das Kamera-Auge nicht einfangen kann: komplexe psychische, gesellschaftliche und technische Muster."

In einem anderen Beitrag stellt Michael Maar eine Studie des britischen Autors Gilbert Adair vor: "The Real Tadzio" befasst sich mit dem "Nachleben" des Wladyslaw Moes, Vorbild für Thomas Manns Figur aus dem "Tod in Venedig". Verblüfft stellt Maar fest: "'Adzio', Kurzform für Wladzio, hatte ein Loch in der Lunge, wurde aber sechsundachtzig Jahre alt." Nicht weniger erstaunlich der Umstand, dass Moes' Wunsch, kurz vor seinem Tod noch einmal Venedig zu besuchen, ausgerechnet von einer Cholera-Warnung vereitelt wurde.

Ferner (und nur im Heft): Sigrid Löffler untersucht die Wandlung von Tolkiens "Herr der Ringe" vom privaten Spleen zum globalen Event, Hans Ulrich Gumbrecht erkundet die "monumentalisierte Zeit" in den Bildern Edward Hoppers, Hajo Steinert porträtiert John Irving. Und besprochen werden Handkes "Bildverlust", Houellebecqs "Plattform" (Robin Detje würde den Autor am liebsten anzeigen) sowie Christa Wolfs Erzählung "Leibhaftig".
Archiv: Literaturen

Prospect (UK), 01.03.2002

In der Cover Story des Prospect erklärt der Architekturkritiker Rowan Moore den Erfolg des britischen Stararchitekten Norman Foster - nicht allerdings ohne sein Mütchen an ihm zu kühlen: "Foster is popular because he supplies the look of innovation without the pain of actually changing anything; the establishment likes him because he lets it feel daring at minimal emotional expense; he is the purveyor of radical architecture for people who want no such thing ... This helps the British Museum to get away with not thinking too deeply about its cultural purpose. It helps the Government Office for London to palm off a tokenistic democracy on London. A more engaged, challenging architecture would make this harder, but a more challenging architect would not get the jobs."

Einen unerwarteten Schuldigen für die Enron-Pleite hat Richard Lambert ausfindig gemacht. Die Presse war's, meint er und erörtert die grundsätzliche Frage, warum sich die Medien viel lieber mit Politik abgeben als mit der schmutzigen Wäsche großer Konzerne: "Political reporting deals in opinions-which often turn out to be adversarial hot air-as much as it does in hard information. If you call a politician a villain in your columns, as like as not you can expect a lunch invitation. Business reporting has a harder edge: a lot of it is about facts, which are either right or wrong. Call a business leader a villain, and you are more likely to receive a writ-at least if you work in Britain. If you work for a fragile publication, there is also the worry about what the cost might be in terms of cancelled advertising."

Gibt es so etwas wie einen "gay discourse" in der Literatur? Jein, befindet Philip Hensher in einem Beitrag: "When I look at recent gay and lesbian novels, it is difficult to see what, precisely, they have in common apart from the depiction of a particular social world and the declared sexual preferences of their authors ... to put it more positively, authors who can be seen as writing gay literature are widening their subjects, and writing about homosexuals because of their views on politics, or because they might rob banks or, in fact, do anything but represent the fact of their sexuality. That is clearly going to broaden the concept of gay literature, possibly to the point of dissolving it altogether."
Archiv: Prospect