Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
08.07.2002. Der Nouvel Obs präsentiert ein Dossier zur Krise des Islam. Im New Yorker wirbt Nick Hornby für den Fußball. Karl-Heinz Bohrer geißelt im Merkur die deutsche Konsensideologie. Die NY Review of Books sieht journalism's age of melancholy anbrechen. In der LRB philosophiert John Lanchester über die Frisuren der WM-Spieler. Die NYT Book Review bedauert J.M. Coetzee, der in seiner Jugend freudlosen Sex hatte. Der Economist bläst zur Energie-Revolution. Und in L'Espresso schwärmt Gabriel Garcia Marquez von Shakira!.

New Yorker (USA), 08.07.2002

Sportlich, sportlich, die Ausgabe, diese Woche. Der englische Schriftsteller Nick Hornby (mehr hier), feinsinniger Spezialist für Männerirrsinn aller Art ("High Fidelity", "Ballfieber"), resümiert für die amerikanische Leserschaft noch einmal die Schönheiten der Fußball-WM, die er "nicht enttäuschend" fand, und erklärt ihnen europäische Gepflogenheiten. "It is mostly pointless, I know, to try to convince an American readership of the joys of football (yes, football), but it would be hard for anyone not to take pleasure in the rhythm of life in a football-mad country during the World Cup. In London, over the past month, friends gathered at lunchtime on workdays; children arrived at school two hours early in order to watch breakfast-time games with their classmates; TV screens suddenly appeared in offices. Even the inconvenience of having to turn a newspaper over to get to the sports pages was removed: the national team's exploits were on every front page.

Michael Specter untersucht, wie dem Profiradler Lance Armstrong (homepage) "das größte Comback der Sportgeschichte" gelingen konnte. "Armstrong now says that cancer was the best thing that ever happened to him. Before becoming ill, he didn't care about strategy or tactics or teamwork - and nobody (no matter what his abilities) becomes a great cyclist without mastering those aspects of the sport."

Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Fun with Problems" von Robert Stone, ein Titel, bei man jetzt nicht gleich auf Anhieb zu sagen wüsste, ob es darin um einen problematischen Spaß oder den Spaß an Problemen an sich geht.

Rezensionen: John Updike lobt den zweiten Teil der Lebenserinnerungen des südafrikanischen Romanciers und Kritikers J.M. Coetzee über seine Jugend: "A delectable tension exists in this writer between a youthful wariness of tired, termite-ridden words and a childish desire to spill ink, out of control, to unload what is in his head. Even the low-energy years described in 'Youth' take on, in the clipped telling, a curious electricity; the astringent pages leave us keen to read on." John Cassidy bespricht "Globalization and Its Discontents", das neue Buch des Ökonomen und Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz, "eine krititische Abrechung mit der Rolle des Internationalen Währungsfonds in der asiatischen Finanzkrise und Russlands Übergang" in die freie Marktwirtschaft. Peter Scheldahl hat sich eine Ausstellung von Joan Mitchell im Whitney Museum angesehen, und David Denby stellt zwei neue Filme vor: "Road to Perdition" von Sam Mendes ("American Beauty") mit Tom Hanks in der Hauptrolle und "Read My Lips" ("Sur Mes Levres") von Jacques Audiard. (Ganz wunderbarer Film, wie der Perlentaucher auf der Berlinale fand.)

Nur in der Printausgabe: eine vielversprechende Reportage aus den amerikanischen Outbacks über Förster, Wilderer und eine irgendwie wertvolle Wurzel, Künstler erinnern sich an das World Trade Center sowie Lyrik von Matthea Harvey und W.S. Merwin.
Archiv: New Yorker

Merkur (Deutschland), 03.07.2002

Im neuen Merkur knöpft sich Karl Heinz Bohrer unseren Konsens-Staat vor, in dem die Philosophie des Ausgleichs, des "Dialogs", wie er schreibt, die Entscheidung "in die Sphäre des 'dezisionistischen Denkens'" abgedrängt und als "letztlich faschistoid" abgestempelt habe. Die Konsensideologie ("der Krebs, der am deutschen Gemeinwesen frisst") mit einer "defizitären Auffassung vom Staat, einer 'menschelnden' Subjektivierung erklärend, eröffnet Bohrer die intellektuell-moralische Seite des Problems, die bei der Art und Weise, wie sich deutsche Politiker zum israelisch-palästinensischen Konflikt geäußert haben ("Statt die fällige Situation einer Entscheidung wahrzunehmen, verharrten sie im gefälligen Idiom des Dialogs"), sowie bei der deutschen Reaktion auf die amerikanische Kriegsführung der letzten Monate deutlich geworden sei. "Sie bestand darin, dass man auf diese Widerlegung des Ammenmärchens vom Dialog nur noch trotzig-aggressiv reagierte: Der 11. September erkläre sich daraus, dass man mit den Arabern nie einen 'Dialog' geführt habe. Es war weniger die Sorge um die möglichen Opfer einer kriegerischen Auseinandersetzung, sondern zuerst und vor allem die Sorge, dass das pazifistische Dogma angesichts der Realitäten eines hysterischen Islamismus widerlegt werden könne."

In einem demjenigen Bohrers durchaus nicht fernen Geist versucht Jan Roß einen Rückblick auf die 90er, die Zeit zwischen 1989 und dem 11. September 2001. Keine günstige Bilanz ist das (und als solche auch nicht allzu neu). Ross sieht die Jahre seit 1989 im Einklang mit Fukuyamas These vom Ende der Geschichte, "eine politisch-existentielle Dekadenatmosphäre von Energiemangel, Einfallsarmut und Selbstzufriedenheit, die Neigung zum Sich-hängen-Lassen zwischen Triumphgefühl und Schicksalsergebenheit". Der Patron "dieser bobohaften Mischung von Wohlstand, Wohlsein und Wohlwollen" aber ist für Ross ausnahmsweise nicht Kohl, sondern der agile Bill Clinton, stehend "für ein politisches Bewusstsein, in dem Krisen nur noch als Randstörungen vorkamen und nicht mehr als prinzipielle Herausforderungen ... Es war eine Atmosphäre, in der man meinte, alles haben zu können, nicht nur materiell, sondern auch moralisch, und die so beschaffene Clinton-Stimmung reichte weit über die Politik und über die Vereinigten Staaten hinaus."

Nur im Print geht Walter Klier den umstrittenen Thesen von Heinz Schlaffers "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur" nach. Niels Werber bespricht Giorgio Agambens "Homo sacer", und Karl Heinz Bohrer wittert in der Walser-Affäre den Kulturmief der alten Bundesrepublik.
Archiv: Merkur

Nouvel Observateur (Frankreich), 04.07.2002

Die Krise des Islam ist Thema eines umfangreichen Dossiers in dieser Woche. Die Gründe dafür, konstatiert der Nouvel Obs, sind vielfältig: "zu lange Erstarrung der Dogmen, Unberührbarkeit der Texte, Archaik des muslimischen Rechts" (Einführung hier). Catherine Farhi hat sieben islamische Intellektuelle und Denker, die - mit durchaus unterschiedlichen Ansätzen - allesamt eine Reform für unerlässlich halten, zu einer Debatte um Fundamentalismus und Fortschritt versammelt (ihre Zusammenfassung lesen Sie hier). Darunter etwa den tunesischen Erziehungsminister Mohamed Charfi, der eine systematische Instrumentalisierung der Religion zur besseren Kontrollmöglichkeit der Bevölkerung kritisiert und künftig einen staatlich garantierten "autonomen institutionellen Raum für die Religion" fordert.

Auch der Professor für vergleichende Religionsgeschichte an der Sorbonne, Mohamed Arkoun lehnt "das religiöse Diktat ab, hält aber die Reform durchaus für "eine religiöse List, die Politik zu vereinnahmen, und für eine List der Politik, das Religiöse zu instrumentalisieren" und fordert deshalb eine "Diskurskritik innerhalb des Islam".

Mahmoud Azab, Professor für Hebräische Sprache in Kairo, erklärt die Gründe für die Zweiteilung der Reformbewegung, und Abdou Filali-Ansari vom Institute of Ismaili Studies in London sieht die einzige Chance in der "Eröffnung der Debatte und der Demokratisierung". Außerdem zu Wort kommen Abdelwahab Meddeb, Literaturwissenschaftler in Nanterre und der Historiker Mohamed Talbi. kurz porträtiert werden überdies Vorläufer der Modernisierung wie Ali Abdel Razeq (1888-1966), Taha Husayn (1889-1973) und der ägyptische Historiker und Philosoph Nasr Abou Zeid.

Außerdem im Heft: ein Bericht über ein verheerendes Großfeuer in einem Buchlager der Belles Lettres, bei dem ganze Druckbestände vor allem kleiner Verlage verbrannten, verknüpft mit einem Aufruf, die betroffenen Verlage durch Kauf und Lektüre ihrer Bücher nun zu unterstützen. Ein interessantes Thema hat der Essay des kanadischen Philosophen Ian Hacking über die Zeit zwischen 1887 und 1909, als Reiselust in Frankreich als Krankheit galt - und auch so behandelt wurde. In der Abteilung "Arts et Spectacles" geht es ausnahmslos um das Festival in Avignon, lesenswert hier: eine kleine soziologische Typenlehre seiner Besucher.

New York Review of Books (USA), 18.07.2002

"This is journalism's age of melancholy", bemerkt Russell Baker, der fünf neue Bücher zum Thema vorstellt. Denn die glorreichen Tage des Journalismus sind längst vorbei - der "junge Besonnene" hat den "verwegenen Zeitungsreporter" abgelöst: "Newspaper people, once celebrated as founts of ribald humor and uncouth fun, have of late lost all their gaiety, and small wonder. They have discovered that their prime duty is no longer to maintain the republic in well-informed condition - or to comfort the afflicted and afflict the comfortable, as the old gospel has it - but to serve the stock market with a good earnings report every three months or, in plainer English, to comfort the comfortable."

Kevin Phillips macht sich Sorgen um die wachsende Macht der Super-Reichen, berichtet Jeff Madrick, der Phillips Buch "Wealth and Democracy" vorstellt. Es sei nicht das erste Mal, dass in den USA "große Privatvermögen demokratische Werte untergraben und vielen, wenn nicht sogar den meisten anderen Amerikanern wirtschaftlich schwierige Zeiten bereiten". Auch in den goldenen Zwanzigern war dies der Fall. Mit einem entscheidenden Unterschied: Nun scheint es, dass die arbeitende Bevölkerung die zunehmenden Ungleichheiten bei den Löhnen akzeptiert, "mit Gleichmut" und sogar "unter Selbstvorwürfen".

Der Schriftsteller Tim Parks schreibt über den wahren Geist des Fußballspiels, wie er sich im allwochenendlichen Duell der Fußball-Lokalmatadoren offenbart, nämlich irgendwo zwischen Friedfertigkeit und Hass: "That day in 1912 the Veronese crowd, savage but unarmed, discovered a new way of expressing their antique enmity toward their nearest neighbors, with whom of course it was no longer feasible that they might go to was, or even engage in a resentful round of trade sanctions. And for the first time that day the Veronese had the upper hand. They could take pleasure, unarmed, in their neighbors' discomfort. They could taunt and gloat and be cruel within a framework that would allow everyone to escape unscathed and continue their lives as nothing had happened."

Weitere Artikel: In einem Essay macht sich Steven Weinberg Gedanken über die wachsende Gefahr eines Atomkriegs. Dass kürzlich von Bush und Putin unterschriebene Abkommen betrachtet er mit Skepsis: "Any celebration would be premature, for there is far less to this treaty than meets the eye." Andre Aciman macht Marcel Proust eine regelrechte Liebeserklärung. Unter dieser Voraussetzung haben es die Biografen schwer, die versuchen, dem "ereignislosen" und doch hochkomplexen Leben des Schriftstellers gerecht zuwerden. Schließlich schreibt Sherwin B. Nuland, Professor für Chirurgie, über schreibende Ärzte und Atul Gawandes Roman "Complications: A Surgeon's Notes on an Imperfect Science".

London Review of Books (UK), 11.07.2002

Der Schriftsteller John Lanchester hat ein WM-Tagebuch verfasst: Mit der Nase am Fernseher philosophiert über die Frisuren der Spieler ("Six people on the field are completely bald"), das Finale ("the most attractive team in the competition against the most boring") und die augenscheinliche Namensknappheit in Brasilien: "Ronaldo was once himself known as Ronaldinho, because there was already another Ronaldo in the side, as well as a Ronaldao. When the current Ronaldinho came along, this could have meant that Brazil were fielding Ronaldao, Ronaldo, Ronaldinho, and Ronaldinhozinho: big Ronald, normal-sized Ronald, little Ronald, and even littler Ronald. Instead the former Ronaldo dropped out, the new Ronaldo became Ronaldinho Gaucho (after his place of origin), and the former Ronaldinho was promoted to Ronaldo."

In drei Büchern zum Thema Genmanipulation in der Landwirtschaft lesend, überlegt James Meek in einem Beitrag, wie die populäre Opposition gegen genmanipuliertes Getreide begündet ist, und stellt fest, dass es wenig mit dem Grad der Verständlichkeit der Biotechnik zu tun hat und viel mit Emotionen, "with hostility to unaccountable corporations having control over farming, an accurate hunch that scientists do not entirely know what they are doing, and an attachment to an idea of 'nature'". Wie harmlos Gene an sich eigentlich sind, erklärt Meek vorsichtshalber trotzdem: "We are pouring alien DNA down our gullets all the time: it does not affect us. When we eat raw tuna, we are ingesting trillions of copies of the full tuna gene set, and we don't turn into tuna." Beruhigend, ehrlich. Schade nur, dass es die Genmodifikation ausgerechnet darauf anlegt, so ein Thunfischgen sagen wir einem Weizenkeim einzupflanzen.

Im Heft besprochen werden außerdem Bücher von Anthony Burgess, J.M. Coetzee, Fay Weldon, und zwei französische Studien zum stets aktuellen Thema Depression und Gesellschaft.

Outlook India (Indien), 15.07.2002

Das Magazin bringt ein "Science & Technology"-Special. Ein Thema, bei dem Inder wehmütig werden, verfügt der Subkontinent doch einerseits über eine beachtliche Manpower auf diesem Gebiet, muss aber andererseits mitansehen, wie die besten, von Mutter Indien genährten "brains" in den Westen und bevorzugt in die USA abwandern. "If the European migration to the US, including that of its scientists, dominated immigration history in the first half of the 20th century", erklärt Chidanand Rajghatta in einem Leader, "Asians took over in the second half". Worauf eine Liste berühmter Indian-Americans folgt (darunter die beiden Nobelpreisträger Subrahmanyan "Chandra" Chandrasekhar und Hargobind Khorana) und dann die Hoffnung "that knowledge has no human boundaries, and someday there will be a payback". Angeschlossen ist eine Reihe von Einzelporträts, vom indischstämmigen Zellbiologen in Texas (hier) bis hin zum "Professor of Computer Sciences" in Berkeley (hier).

Mit Misstrauen verfolgt Prem Shankar Jha die schleichende Wachablösung an der Spitze der indischen Regierungspartei BJP, die dem Popularitätsverlust von Premier Vajpayee geschuldet ist. Es sei zweifelhaft, schreibt er in seinem Beitrag, ob das Auswechseln des Finanz- und des Außenministers sowie die Ernennung des Hindu-Populisten L.K. Advani zum Stellvertreter Vajpayees der Regierung zum Vorteil gereiche. "Advani's formal appointment as deputy PM gives him a veto power over decision-making on important policy issues. While this had existed for some time, its formalisation has reduced the prime minister of India to the status of a lovable figurehead."

Zum Schluss noch ein Artikel für Verschwörungsfreunde. Landete Apollo 11 tatsächlich auf dem Mond, oder waren all die Bilder und Filme getrickst, aufgenommen in der Wüste von Nevada, um die Russen auszustechen? Zwölf Hinweise darauf trägt das Magazin zusammen, so den auf die berühmten Fußabdrücke von Armstrong, die es derart gut umrissen auf dem Mond mit seiner vollkommen Trockenheit eigentlich nicht geben dürfte. Und die unbekannte dritte Person, die sich im Visier eines der Astronauten spiegelt? Der junge George Lucas?
Archiv: Outlook India

Profil (Österreich), 07.07.2002

"Zu einem Zeitpunkt, da das Sprechen über Literatur wichtiger als die Literatur selbst ist", ist die neue Zeitschrift Volltext ein "wichtiges Signal", meint Robert Leucht im neuesten profil-Heft. Der Name ist Verpflichtung: Josef Chladek und Thomas Keu stellen literarische Texte vor. In der ersten Nummer Vorabdrucke von Paul Auster und Zoe Jenny, ein Gespräch mit Dubravka Ugresic und ein Porträt über Gerrit Krol, Ernst Molden über Stephen King und Wendelin Schmidt-Dengler spürt den literarischen Verbrechen nach. Volltext ist vor allem auch ein Platz, in dem Autoren Texte (ohne Redaktion) veröffentlichen können.
Archiv: Profil

Espresso (Italien), 11.07.2002

Seltsames Gipfeltreffen im Espresso: Der berühmteste Kolumbianer trifft die berühmteste Kolumbianerin. Er heißt Gabriel Garcia Marquez, sie Shakira (mehr hier). Und was der alte Schriftsteller über die junge Sängerin zu sagen hat, dürfte ihr die hübschen Ohren angenehm klingen lassen: Ein wahres Naturtalent sei sie, bienenfleißig und sooo lieb. Und eigentlich ein echtes Idol, wäre da nicht diese seltsame Neigung, sich im Auto einzuschließen und die Musik bis zum Anschlag aufzudrehen: "Der ideale Ort, um mit Gott und mit mir selbst zu sprechen", erklärt sie. Hoffentlich hört er sie auch noch.

In weiteren Artikeln zählt Marco Damilano die Schnitzer des italienischen Innenministers Claudio Scajola zusammen, der das Schlachtfeld von Genua zu verantworten hat und nach der Ermordung Marco Biagis dreist behauptete, Leibwächter hätten dem Juraprofessor auch nichts genützt, statt einem hätte es eben drei Tote gegeben. Wie wär's, scheint Damilano zu denken, wenn König Berlusconi auch diesen Posten noch übernimmt. Und Eleonora Attolico widmet sich den Accessoires für den Sommer: Flache Capri-Sandalen und Taschen in allen Formen und Farben (hier und hier)
Archiv: Espresso

Spiegel (Deutschland), 08.07.2002

Das Böse im US-Wirtschaftsmodell hat einen Namen: Den Raubtierkapitalismus nennt es der Spiegel und erörtert im Titeldossier die Reichweite der Vertrauenskrise amerikanischer Anleger, die Zukunft des angeschlagenen Vivendi-Konzerns und die Flecken auf der Weste des russischen Magnaten Michail Chodorkowski. (Schon von Babcock Borsig gehört?)

In einem anderen Beitrag entwirft Carlos Widmann ein wenig schmeichelhaftes Porträt des greisen indischen Premierministers und Hindu-Nationalisten Atal Behari Vajpayee, der als Verseschmied nicht weniger ambivalent erscheint denn als politischer Rhetor: "Der Wunsch nach Frieden mit Pakistan kommt in den Gedichten ebenso zum Ausdruck wie eine Aversion gegen den Islam, die auf die Unterwerfung Indiens durch die Mogulherrscher zurückgeht. Sein von religiösem Eros durchglühter Patriotismus erinnert an die ritterliche Minne General Charles de Gaulles zu Frankreich und zur Jungfrau von Orleans. Mutter Indien ist für den dichtenden Premier eine von Muslimen und Briten geschändete Frau, deren Ehre wiederhergestellt werden muss." Nötigenfalls mit der Atomkeule.

Ulrike Knöfel führt durch eine vom Buchautor Jürgen Teipel ("Verschwende Deine Jugend") mitgestaltete Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle, die den Punk als ähnlich innovativ und befreiend feiert, wie einst die Anti-Kunst der Dadaisten. Und von wegen "No Future": Punk lebt! "In den Extravaganzen der Haute Couture, den wackelig direkten Dogma-Filmen, selbst im Gebaren und den Texten deutscher HipHop-Bands."

Ferner prüft Michael Sontheimer die Euro-Stimmung der Briten, wir lesen Neues über Michael Jacksons Streit mit Sony, und, nur im Heft allerdings, ein Gespräch mit dem neuen Rowohlt-Chef Alexander Fest über die Zukunft des Traditionsverlags.
Archiv: Spiegel

Economist (UK), 06.07.2002

Der Economist bläst zur Energie-Revolution, setzt dabei aber weniger auf Windenergie als auf Wasserstoff als Mittel gegen "the needlessly dirty, unhealthy and inefficient way in which we use energy". Die Energiewende weg von fossilen Brennstoffen, lässt der Leader erkennen, will man vor allem Spanien und Deutschland ans Herz legen, wo Kohle noch immer subventioniert wird, und natürlich dem Kyoto-Opponenten Bush. Passend zum Titel gibt es ein Survey zum heiklen Verhältnis Wachstum und Umwelt (hier die Einleitung) sowie einen Wissenschaftsartikel, der das Oxymoron "saubere Kohle" auflöst.

Ist das "business-bashing" in den USA ein vorübergehendes Phänomen? Gut möglich, beruhigt ein Artikel mit Hinweis auf eine noch immer wohlgenährte Wirtschaft: "Share prices are falling, but still hover above the point at which Alan Greenspan worried about 'irrational exuberance'. The bubble is deflating rather than bursting." Dass die Parteien weiche Knie haben, ist allerdings auch klar: "The White House has to balance the need for good business ethics against the risk of panicking the markets. The Democrats fear regaining their reputation, so painstakingly shrugged off in the Clinton era, of being hostile to business." Und sollten (was wahrscheinlich ist) noch weitere Geschäfts-Skandale ans Licht kommen und Wall Street und den Dollar ramponieren, könnte Bushs Post-September-Bonus bald endgültig aufgebraucht sein.

Andere Beiträge widmen sich den Machtverschiebungen in der indischen Regierungskoalition, bei denen sich der Hindu-Demagoge L.K. Advani als Nachfolger von Premier Vajpayee abzeichnet, und empfehlen ein Buch über das Leben nach dem Schlaganfall - eine bewegende Fallgeschichte zum Thema Aphasie, die nicht spart mit Kritik am britischen Gesundheitssystem.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 07.07.2002

Drei Bücher, die in aller Unbescheidenheit sagen, was Amerika so groß macht, stellt Michael Lind vor. Roger Rosenblatts Essaysammlung "Where We Stand" hält er für das schwächste: Eine Ansammlung von unverbundenen Themen und Skizzen, gespickt mit "conventional liberal opinions". "Why We Fight" (Auszug) des früheren Erziehungsministers William J. Bennett ("devoted to fulminations against public figures whose statements about the terrorist attacks were informed by moral relativism") kommt nicht viel besser weg: Einige interessante und provokative Argumente, ja, das Buch aber, empört sich Lind, verliert an Glaubwürdigkeit, wenn der Autor sich dem Nahost-Konflikt zuwendet und die Unterscheidung verwischt "between the nonsectarian republicanism of America's founding fathers and the ethnoreligious nationalism of the Israeli right". Bleibt Dinesh D'Souzas "durchdachte" Diskussion der Beschaffenheit und der historischen Bedeutung der USA (Auszug "What's So Great About America"), die auf die unschätzbare Bedeutung der Trennung von Kirche und Staat verweist: "One need not agree with D'Souza about everything to hope that his optimistic, secular understanding of America's role in the world prevails over Bennett's religious triumphalism."

Der zweite Teil von J. M. Coetzees Memoiren liegt vor. Betitelt ''Youth'', stellt das Buch, das den Lebenszeitraum des Autors zwischen 19 und 23 abdeckt, für den Rezensenten William Deresiewicz eine Seltsamkeit dar: Bestimmt sagt es uns eine Menge über Coetzee, nur was bloß? Alles, was Deresiewicz erkennen kann, ist ein junger Mann auf der Suche nach der Liebe und dem Kuss der Muse. Erfolglos, leider. "No one not otherwise informed would guess that he would go on to become one of the world's most celebrated novelists ? His sexual encounters are invariably joyless and loveless, leaving him feeling miserable and his partners - to whom he's unfailingly caddish - feeling worse. His poetry, when he's even writing it, is lifeless. Most of his mental energy goes into berating himself for his failures as a lover and an artist. In other words, 'Youth' covers that period of a man's life when he's most repulsive both to himself and others. The story is not new, but Coetzee tells it with brutal honesty." Hier ein Autorenfeature.

Ferner in der Review: Drei Bücher, in denen Inselbewohner ihre Robinson-Erfahrungen mit uns teilen (Auszug Daniel Hays' "On Whale Island", Auszug Adam Nicolsons "Sea Room"), und die nicht ganz konventionellen Memoiren des gerade mal 40-jährigen Schriftstellers Rick Moody (Leseprobe "The Black Veil").
Archiv: New York Times