Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
30.12.2002. Im New Yorker erklärt ein Anwalt, warum er zuerst gegen, dann für die Todesstrafe war und warum er nun wieder dagegen ist. Die New York Times Book Review feiert einen Gesprächsband mit Balthus. Im Spiegel schimpft Bernhard Schlink auf die 68er. Das Times Literary Supplement stellt eine neue Biografie über den Grafen Kessler vor.

New Yorker (USA), 06.01.2003

In einem detailreichen Essay beschreibt der ehemalige Staats- und heutige Rechtsanwalt Scott Turrow (mehr hier), wie sich im Laufe seines Berufslebens seine Haltung gegenüber der Todesstrafe gründlich geändert habe. Sei er als Student noch "quasi reflexhaft" dagegen gewesen, habe er sich später dem "Willen der Gemeinschaft" gebeugt. Doch die vielen Fälle unschuldig Verurteilter - in eine (falsche) Fast-Verurteilung war er selbst involviert - und die vielen außerjuristischen Faktoren von Urteilen, hätten ihn zu einem entschiedenen Gegner gemacht. Für Illinois etwa gelte: "Auch die Geografie spielt eine Rolle... In einem ländlichen Gebiet ist die Wahrscheinlichkeit eines Todesurteils für einen 'Mord ersten Grades' fünfmal höher als im Cook County, zu dem auch Chicago zählt. Auch Geschlechtsfragen sind von Bedeutung. Für den Mord an einer Frau wird dreieinhalb mal häufiger die Todesstrafe verhängt als für den Mord an einem Mann." Sein Fazit: "Wenn man alle Variablen - wer ist der Staatsanwalt, wer der Verteidiger, wie denkt der Richter, wer ist das Operfer, wo geschah das Verbrechen? - zusammennimmt, dann ergibt sich im Resultat keine Verhältnismäßigkeit der moralischen Sanktion."

Außerdem zu lesen: In seiner Erzählung "Class Picture" erzählt Tobias Wolff (mehr hier) von einem Schulbesuch des Dichters Robert Frost (mehr hier). Zu seinem Gedicht "To a Well-Connected Mouse" wurde John Updike (mehr hier) von der unlängst festgestellten genetischen Nähe zwischen Mäusen und Menschen inspiriert. In einem kleinen Text würdigt schließlich David Remnick den im Februar aus dem Amt scheidenden Vaclav Havel als großen Liberalen.

Besprechungen: John Lanchester lobt die Studie "The Road of Excess" (Harvard), in der Marcus Boon den Zusammenhang von Schreiben und Drogen untersucht. Das "Konzept des erquickenden Drogenkonsums", so Boons These, habe 1821 der englische Autor Thomas De Quincey (mehr hier) in seinem Buch "Bekenntnisse eines englischen Opiumessers" erfunden. Oder eigentlich dessen "Diskurs": " the whole way of thinking about drug-taking as a hobby and an escape into what Baudelaire, writing about drugs in 1858, was to call our 'artificial paradises.' What's nice about that phrase of Baudelaire's is the way it packs three ideas into two words: that drugs are 'paradise', i.e., they make you feel good; but that the paradise is fake; and that, in any case, paradise was a place we were expelled from." Außerdem gibt es Kurzbesprechungen, u.a. zu neuen Büchern von Richard Cohen und Mark Halliday.

Alex Ross diagnostiziert einen Trend zur "Oper als Geschichtsschreibung": am Londoner Royal Opera House sah er "Sophie's Choice" von Nicholas Maw, der darin den Holocaust thematisiert und im Berliner Hebbel Theater Steve Reichs Projekt "Three Tales", das "innerhalb einer Stunde den Absturz der Hindenburg, die Atomtests auf dem Bikini-Atoll und das Klon-Schaf Dolly heraufbeschwört". John Lahr bespricht die Theaterstücke "Dinner at Eight" und "The Mercy Seat", und Anthony Lane schreibt über die Filme "The Lord of the Rings: The Two Towers" und das Musical "Chicago" von Rob Marshall mit Catherine Zeta-Jones, Renee Zellweger und Richard Gere, das die diesjährige Berlinale eröffnen wird (mehr hier).

Nur in der Printausgabe: ein Text von Italo Calvino (mehr hier) über "Die Porträts des Duce" und eine Kindheit unter Mussolini, ein Porträt von Suzanne Farrells Ballett Company, Überlegungen zum Wiederaufbau in Lower Manhattan sowie Lyrik von Dorothea Tanning und Jane Hirshfield.
Archiv: New Yorker

New York Times (USA), 30.12.2002

Elmore Leonards zweiter Kurzgeschichtenband "When the Women Come Out to Dance" (erstes Kapitel) bringt Charles Taylor zum Schwärmen. "Es gibt ein altes Sprichwort unter Schriftstellern, 'Ich habe viel geschrieben, weil ich nicht die Zeit hatte, es kurz zu schreiben'. Ich will gar nicht an die harte Arbeit denken, die für Leonards dichte Prosa vonnöten ist, seine Fähigkeit, erzählerische Information auf kleinstem Raum unterzubringen. Das Wunder seines Schreibens ist die scheinbare Leichtigkeit." Nicht zuletzt die meisterhaften Dialoge von Leonards Figuren machen Leonard für Taylor zu einem Autor, der nicht nur in seinem Genre seinesgleichen sucht. "Mein diesjähriger Weihnachtswunsch war, dass Cormac McCarthy, Michael Ondaatje und Toni Morrison, um nur drei zu nennen, unter ihren Baum schauen und eine freundliche Seele ihnen ein Exemplar von Leonards neuestem Werk hat zukommen lassen."

Alain Vircondelet hat unter dem Titel "Vanished Splendors" (erstes Kapitel) ein über zwei Jahre andauerndes Gespräch mit dem französischen Maler Balthus (mehr hier und hier) veröffentlicht. John Russel glaubt in den einzelnen Unterhaltungen das Privileg herauszuspüren, das jeder empfand, der mit Balthus zusammentraf. Das Buch profitiert zudem "von den aussagekräftigen und ungewöhnlichen Fotografien. In Frankreich wurde der Band als 'Memoirs de Balthus" herausgegeben, eine beträchtliche Überschätzung angesichts der unstrukturierten und fragmentarischen Unterhaltung. (...) Trotzdem spürt man aber, wie Balthus sich auf dem Weg durch die lange Geschichte seines Lebens vorantastet, Wort für Wort und zum letzten Mal."

Außerdem: Judith Shulevitz hat sich im Close Reader Virginia Woolfs 1925 erschienen Essay "On Being Ill" vorgenommen und empfiehlt, Woolfes Verteidigung der Krankheit als conditio humana des Künstlers schön langsam und aufmerksam zu lesen, um den feinen sarkastischen Charme nicht zu überlesen. Charles McGrath dankt Claire Tomalin für die aufopferungsvolle Recherche zu ihrer gelungenen Biografie von Samuel Pepys (erstes Kapitel), dem schillernden Selfmademan, Politker, Autor und Workaholic. Adam Shatz vermisst an John Szweds Miles-Davis-Porträt "So What" (erstes Kapitel) die Selbstbewusstheit des Interpreten, ohne die seine Biografie der Jazzlegende trotz einiger "inspirierter Momente" zu überladen und verstreut wirkt. Michael Upchurch gefällt an Ross Kings im 18. Jahrhundert spielenden Roman "Domino" (erstes Kapitel) vor allem die Freude des Autors an authentischem Vokabular, das den Leser eintauchen lasse in ein maskiertes Europa voller Trug und Täuschung.
Archiv: New York Times

Times Literary Supplement (UK), 27.12.2002

Unter dem Stichwort Utopia bringt das TLS Gegensätzliches zusammen: Porno, Realitätsflucht und Stasi.Frank Whitford ist fasziniert von Laird M. Eastons Biografie "The Red Count" über die schillernde Figur des deutschen Grafen Harry Kessler, dem Eigentümer des Weimarer Hauses, das die Stasi später zu ihrem Hauptquartier machte. Der Index des Buches lese sich nicht nur "wie ein europäisches Who is Who des frühen zwanzigsten Jahrhunderts", sondern auch wie das Verzeichnis eines "Geschichtsbuches". Der "rote Graf", wie Kessler aufgrund seines sozialistischen Engagements gennant wurde, gebe Eastons Buch nicht nur seinen Namen, sondern dem Autor auch ein Rätsel auf. Wie hängt der "weitgehend apolitische Ästhet" Kessler, der von der "fördernden Kraft der Kunst" überzeugt war, mit dem späteren "Dissidenten" zusammen, der sich gegen das Establishment stellte? "Wie konnte ein aristokratischer, snobistischer, unbedachter Unterstützer der autoritären Regierung und des Deutschen Kaiserreiches, wie konnte ein Mann, der den Kaiser lediglich wegen dessen bigotter Ansichten über Kultur verachtete, sich so sehr verändern? Könnte es sein, dass sein starkes, scheinbar widersprüchliches Engagement in die künstlerische Avantgarde in zum Revolutionär gemacht hat?"

Aisling Foster gibt sich höchst verwundert über Roddy Doyles Buch "Rory and Ita", das Gespräche mit Doyles Eltern über die irische Vergangenheit wiedergibt. Denn Rory und Ita verlieren kaum ein Wort über Problematisches, über schwere Zeiten, sie weiden sich nicht, so Foster, in "andauernder Traurigkeit", sondern "verwischen" sie. Nicht dass Doyle keine "hartnäckigen Fragen" gestellt hätte. "Und doch wird immer wieder interessanten Konfrontationen flink aus dem Weg gegangen. Vielleicht ist das der uralte Graben zwischen den Generationen. Oder aber es ist eigenartiger als das: eine irisch-katholische Denkweise, in der die Selbstprüfung seit jungen Jahren undurchdringliche Wälle um Dingen wie Sexualität, Religion oder Politik errichtet hat? Was auch immer der Grund dafür sein mag, diese mündliche Geschichte könnte etwas weit seltsameres als Fiktion geschaffen haben: ein erfolgreicher modus vivendi, der sich auf bestimmter Flucht gründet, in genauem Widerspruch zu den therapeutischen Behauptungen der Tiefenpsychologie."

Weitere Artikel: Laut Paul Quinn frönt Robert Coover in seinem Science-Fiction-Roman "The Adventures of Lucky Pierre" erneut seiner Subversionslust. Diesmal in Form von Pornotopia, einer Parallelwelt, die sich als Film gebe. Doch Coover "transzendiere" sein Genre und schaffe einen "tieferen Sinn der Wandelbarkeit".

Outlook India (Indien), 06.01.2003

Eine Spaß-Ausgabe. Mukul Kesavan erklärt seinen Lesern, warum sie sich nie von schlechten Schlagzeilen deprimieren lassen dürfen. "Der telegrafische Stil von Überschriften ... macht es einfach einen ständigen Strom von glaubwürdigen schlechten Nachrichten zu erzeugen, indem man Substantive und Verben zufällig kombiniert. Eine indische Zeitung oder Zeitschrift kann nur dann richtig gelesen werden, wenn verstanden wird, dass es nur vier Themen mit Nachrichtenwert gibt: Wirtschaft, Wahlen, Kino und Kricket. Wie die Nummern in einer Revue hat jedes Thema eine zugewiesene Funktion und ein Set von gleichbleibenden Überschriften."

Eine weitere kleine Auswahl: Anita Roy erklärt uns, warum Kinder machen ein Spaß ist, welche haben aber nicht. Es gibt einen "true life comix" von Orijit Sen. Und Sankarshan Thakur rühmt den Politiker Laloo Yadav für seine Einzeiler: Nachdem er seine Frau als Chefministerin von Bihar installiert hatte, fragte ihn ein Reporter, warum er seine Frau für den Posten gewählt hatte. Darauf Yadav: "Wessen Frau hätte ich sonst wählen sollen, Ihre?"
Archiv: Outlook India

Nouvel Observateur (Frankreich), 24.12.2002

Anlässlich seines neuen Buchs "Asile d'azur" (Zoe) stellt der Nouvel Obs in einem Interview den Schweizer Schriftsteller Jean-Marc Lovay vor. Der aus dem Wallis gebürtige Autor (Jahrgang 1948), Träger des Preises der Stadt Genf 2003 (mehr hier), ist zumindest in Frankreich kein Unbekannter und hat dort bereits mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem 1976 sein erfolgreiches Debüt "Les regions cerealieres" (Gallimard). Lovays Bücher folgten "der anarchischen Ordnung von Visionen, die zugleich Robert Walser und Buster Keaton entlehnt sind", seine Sprache sei "von halluzinatorischer Kraft". Der Schulabbrecher und Vielgereiste - Lovay durchquerte in den sechziger Jahren auf einem Maulesel die Wüste zwischen Iran und Afghanistan und bestieg den Ararat - hatte neben dem Schreiben viele weitere Berufe, unter anderem verkaufte er Zwiebeln und machte Käse. Er erinnert sich, wie er zu Gallimard kam: "Nach meiner Rückkehr aus Asien (...) habe ich mir bei Bern eine Ziegenherde gekauft und mich im Wallis zum Schreiben zurückgezogen. Dann habe ich den Text an Gallimard geschickt (...) Irgendwann ist der Lektor gekommen, um mich auf dem Markt, auf dem ich arbeitete, zu besuchen, denn damals verkaufte ich selbstgefertigte Holzknöpfe".

In den Buchbesprechungen geht es in dieser Woche historisch zu: Rezensiert werden ein kritischer "Dictionnaire der la Republique" (Flammarion), zwei Essaybände über die religiösen Ursprünge der französischen Revolution und über die "antiklerikale Republik" vom 19. bis zum 21. Jahrhundert (beide Seuil), außerdem eine neue Biografie über die Jugend von Louis XIV (Plon).

In der Abteilung Arts et Spectacles ist schließlich noch ein Interview mit dem belgischen Schauspieler und Filmemacher Lucas Belvaux zu lesen, in dem er sein jüngstes Projekt beschreibt, das jetzt in die französischen Kinos kommt: gleich drei Filme, die er parallel geschrieben und produziert hat. ("Un couple epatant", "Apres la vie", "Cavale")

Spiegel (Deutschland), 30.12.2002

Im Titel erklärt der Spiegel, wie die Deutschen die Krise überwinden können. Als Beispiel werden Schweiz, die Niederlande, Dänemark Großbritannien und Schweden angeführt. Die Titelgeschichten sind wie immer kostenpflichtig.

Lesen dürfen wir einen Essay des Juristen und Schriftstellers Bernhard Schlink (mehr hier) über "den erschlafften Aufbruchsgeist der 68-er Generation", wie ihn die derzeitige Regierung verkörpert: "Die prägenden politischen Erfahrungen der 68er-Generation - verwöhnend-mühelose erste Schritte ins öffentliche Leben, als frühe politische Praxis eine verantwortungs- und perspektivenarme Praxis des Zerschlagens statt des Gestaltens, als Vorbild ein verführerisches Vorbild des Ausgebens statt des Haushaltens, das Einüben einer Sensibilität, die nicht frei von Selbstgerechtigkeit und Wehleidigkeit ist, das Verbrauchen der theoretischen und programmatischen Kraft im Bauen von Luftschlössern -, diese Erfahrungen sind heute in vieler Hinsicht unbrauchbar, in mancher kontraproduktiv. Die Generation ist erschöpft, weil sie überfordert ist, und sie ist überfordert, weil sie wenig mitbringt, womit sie den anstehenden Anforderungen begegnen könnte."

Ebenfalls lesen dürfen wir ein Interview mit dem US-Ökonomen Paul Krugman (homepage), der die Bush-Regierung scharf kritisiert: "Wenn Sie sich nämlich die Steuersenkungen für das oberste ein Prozent der Gesellschaft ansehen, dann stellen Sie fest, dass auf diese kleine Gruppe gut 40 Prozent der vorgesehenen 1,35 Billionen Dollar an Erleichterungen, wenn sie erst einmal voll greifen, entfallen, und das, obwohl ihr Beitrag zum Steueraufkommen des Staates nur bei 24 Prozent liegt. Es ist genau dieses Ungleichgewicht zu Gunsten der Reichen, das charakteristisch ist für alles, was die Bush-Regierung tut. Sie repräsentiert, was man gemeinhin Plutokratie nennt, eine Koalition der Eliten." Auf die Deutschen angesprochen meint Krugman, ihnen fehle eine Margaret Thatcher.

Nur im Print: ein Artikel über die Leuna-Affäre. Hier sollen neue Dokumente den Ex-Verkehrsminister Günther Krause ins Zwielicht rücken. Und in der Rubrik Zeitgeschichte wird erzählt, wie Sebastian Haffner den britischen Geheimdienst verwirrte.
Archiv: Spiegel