Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.01.2003. In der NY Review of Books ist Joan Didion entsetzt über die Idealisierung geschichtlicher Ignoranz im Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September. Der Economist sucht nach den gemeinsamen Werten von Amerika und Europa. Der Express fragt, wer Anne Frank verraten hat. Die NYT Book Review bewundert die Neuauflage von Alex Comforts Klassiker "The Joy of Sex". Der Nouvel Obs beschäftigt sich mit französischen Moslems. Die London Review of Books hat Star-Autobiografien gelesen: Alles Märtyrer!

New York Review of Books (USA), 16.01.2003

Die New York Review of Books blickt in dieser äußerst lesenswerten Ausgabe auf das amerikanische Jahr der Vertuschung zurück.

"Das ist das Buch des Jahres!", ruft Daniel Mendelsohn und meint Alice Selbolds Roman "The Lovely Bones" (Leseprobe), der die Geschichte eines vergewaltigten und ermordeten Mädchens aus dessen Perspektive - aus dem Himmel - erzählt. Doch mit "Buch des Jahres" meint Mendelsohn etwas völlig anderes als die einstimmig hymnische Kritik. Denn literarisch und vor allem stilistisch gesehen sei dieser Roman einfach "zu viel des Guten". Warum das Buch auf so viel begeisterte Resonanz gestoßen sei, erklärt sich für Mendelsohn durch dessen Ausweichen vor dem Schmerz und dem Bösen, in dem er das "Symptom einer größeren kulturellen Funktionsstörung" sieht, die "in unserer andauernden Handhabung der Katastrophe des 11. September unterschwellig vorhanden" ist. "In seiner vorgreifenden Sehnsucht nach Erleichterung, in dem mit Nachdruck formulierten pathetischen Reiz des Opferseins, in seinem pseudo-therapeutischen Geplauder über Heilung und dem Beharren darauf, dass alles wirklich in Ordnung ist, dass wir nicht wirklich traurig sein brauchen, dass letztendlich nichts wirklich furchterregend ist, ist Sebolds Buch in der Tat zeitgemäß - ist es tatsächlich 'der Roman des Jahres' - allerdings auf eine Weise, die keiner von denen, die jetzt vom Zauber seiner beispiellosen Zustimmung erfasst sind, sich vorzustellen in der Lage wären."

Sehr eindrücklich beschreibt die Journalistin und Schriftstellerin Joan Didion ihre zweiwöchige Lesereise nach dem 11. September und ihre anschließende Rückkehr nach New York, die sie regelrecht fassungslos machte angesichts der Vertuschung im Umgang mit den Attentaten. Denn anstatt das Ereignis "lesbarer" zu machen, seien alle Anstrengungen darauf verwandt worden, es "weniger lesbar" zu machen. "In der ständigen Wiederholung des Wortes 'Held' begannen wir das zu hören, was im folgenden Jahre zur verschanzten Vorliebe werden würde, die Bedeutung des Ereignisses zu ignorieren, zugunsten einer undurchdringlich verflachten Zelebrierung seiner Opfer und einer beunruhigend angriffslustigen Idealisierung geschichtlicher Ignoranz. 'Guter Geschmack' und 'Taktgefühl', wie uns wiederholt nahe gelegt wurde, verlangten, dass wir nicht untersuchten, was passiert war. Bilder von unversehrten Türmen wurden bereits aus der Werbung entfernt, als könnten wir bequemerweise vergessen, dass sie je dagewesen waren."

Avishai Margalit versucht das religiös-politische Gewebe um die palästinensischen Selbstmordattentate zu entwirren. In erster Linie gehe es um Märtyrertum und erst dann um den heiligen Krieg, den Dschihad. In der Gewaltspirale werde auch Vergeltung zur Triebkraft, jedoch eine Vergeltung besonderer Art: "Vergeltung durch Selbstmordattentate hat, wie ich es verstehe, einen zusätzlichen Wert, nämlich den, sich selbst zum Opfer seines eigenen Handelns zu machen und so seinen Peinigern die moralische Schande zuzuschieben. Die Idee des Selbstmordattentats, im Unterschied zu einer herkömmlichen Angriff, ist perverserweise eine moralische Vorstellung, in dem die Mörder dadurch, dass sie ein Schauspiel bieten, dessen letztes Opfer sie selbst sind, für ihre Sache die moralische Hoheit beanspruchen."

Weitere Artikel: Rudolph Giulianis Buch "Leadership" (mehr hiernimmt sich für Joseph Lelyveld wie ein Leitfaden in Regierungsangelegenheiten aus, gespickt mit "platten" Weisheiten, die wie "Glückskekse" daherkommen. Bei der Lektüre zahlreicher Henry-Louis-Mencken-Biografien ist Russell Baker aufgefallen, dass niemand so ausführlich über das Baltimorer Aushängeschild geschrieben hat wie Mencken selbst. Zur Barnett-Newman-Austellung in der Tate Modern Gallery in London porträtiert John Golding den "radikalsten" und "unproduktivsten" der abstrakten Expressionisten und findet den Katalog der Ausstellung "extrem wichtig" und sehr erhellend.

Nur im Print zu lesen ist unter anderem Alan Ryans Artikel, der sich mit Büchern von und um Jürgen Habermas beschäftigt.

Folio (Schweiz), 06.01.2003

Hiiilfe! Das NZZ-Folio lockt mit dem nackten Grauen. Aber nicht doch, wer wird denn Angst haben?

Reto U. Schneider hat auf der Achterbahn geschwitzt und in der Geisterbahn gezuckt. Jetzt weiß er mehr über unsere Urängste. Dass sie aus neuronalen Gründen nicht rational kontrollierbar sind, weil zuerst der Mandelkern, das emotionale Zentrum angesprochen wird, und dass sie anscheinend über Jahrtausende vererbt wurden wie das Familiensilber. Doch warum gerade die Ängste und nicht die Furchtlosigkeit? Die Antwort ist einleuchtend: "All jene, die in der Steinzeit keine Furcht vor Höhe, Schlangen, Spinnen oder Dunkelheit zeigten, hatten nur geringe Chancen, unsere Vorfahren zu werden: Wer mit 15 vom Fels stürzte oder sich von einer Mamba beissen liess, hatte keine Kinder, die seine Furchtlosigkeit in die nächste Generation trugen." Angst als lebenserhaltende Funktion also. "Bleibt ein letztes Rätsel: Warum erleben wir Furcht und Angst als unangenehmes Gefühl? Wenn der Mandelkern Furchtreflexe schon unbewusst auslöst, warum müssen wir dann überhaupt davon erfahren? Die Wissenschaft hat darauf keine wirklich gute Antwort, denn diese Frage schliesst eine viel grössere ein: Warum haben wir überhaupt ein Bewusstsein?"

Wunderbar zu erfahren, wovor sich zu fürchten lohnt: die jährlichen Todesfälle durch fallende Kokosnüsse (150) sind den hungrigen Haien weit voraus (10). Doch Achtung! Immerhin fünf Schweizer sterben jährlich an "Herumgehen in Haus und Garten". Doch wovor Männer sich wirklich fürchten, steht weiterhin in den Sternen, denn: "Eine wissenschaftliche Studie kommt zum Schluss: Männer lügen bei Angstumfragen."

Weitere Artikel: Andreas Dietrich berichtet über den erstaunlichen Fall des "anständigen Buchhalters" und ehrlichen Betrügers Max B., der die Schweizerischen Bundesbahnen um 3,17 Millionen Franken erleichterte und 1187 Tage der Angst erlebte. Claire Keller schreibt über panische Hundeangst, uneinige Ratgeber und angstlose Therapeuten. Harald Willenbrock hat drei Angst-Meisterern über die Schulter geschaut: Ulrich Wegener, dem Held von Mogadischu, dem Helfer und Psychologe für NATO-Jet-Piloten Bernd Willkomm und dem Hasardeur und Kamikazekünstler Rüdiger Nehberg.

Daniel Weber hat mit einem gesprochen, der auszog, seine Zuschauer das Fürchten zu lehren, nämlich Regisseur Michael Haneke - und der weiß viel über die Macht der Bilder und Angst, die vorbereitet sein will. Cornelia Kazis schreibt über kindlichen Angstphantasien, die "Hieronymus Boschs Bilderwelt" in nichts nachstehen. Und schließlich sieht Dietrich Schwanitz in der Moderne die "zweite Vertreibung aus dem Paradies, aus dem Paradies der Gesellschaft" und damit eine geeignete Grundlage für Ängste, die in die ungewisse Zukunft weisen, ohne von einem tröstlichen Jenseits gemildert zu werden.

Und noch zwei Extras: In der Sprachlese stellt Wolf Schneider fest, dass man sich am besten vor Wörtern in Acht nehmen sollte, denn sie sind Vorurteile und Mumien. Und Reto U. Schneider beschäftigt sich mit dem Wissenschaftler Gilbert Levin, Leben auf dem Mars und undeutbaren Experimenten.
Archiv: Folio

New Yorker (USA), 13.01.2003

Peter Schjeldahl erklärt in einem unterhaltsamen Grundsatztext zur Museentypologie, inwiefern eine "weiße Schuhschachtel" als Museum erfolgreich sein kann - gemeint ist die Pinakothek der Moderne in München. Ausführlich verortet er das neue Haus in seinem persönlichen Kategoriensystem - unter anderem gibt es darin den "Pavillon", die "Boutique", die "Werkstatt" oder die "Enzyklopädie" - als "das bürgerliche" Museum. "Das bürgerliche Museum repräsentiert nicht nur die Schätze einer Stadt, sondern auch ihr Prestige und ihr Selbstbild. Das charakteristische Merkmal des bürgerlichen Museums ist die Vernissage, bei der die lokale Elite stolz zeigt, wie up to date sie ist. Die Pinaktothek der Moderne erzählt eine Geschichte der Moderne aus Münchner Perspektive: Ehrfürchtig gegenüber der Vergangenheit, kühn, wenn es sich der Gegenwart nähert."

Weitere Artikel: Mark Singer erzählt, was geschieht, wenn - wie in Itasca, Texas - die Wochenzeitung einer High-School das einzige Blatt der Stadt ist. Zu lesen ist die Erzählung "Gallatine Canyon" von Thomas McGuane, ergänzt um ein aktuelles Interview mit dem Autor (hier) und sein New-Yorker-Debüt "Family". Und Robert Sullivan rekonstruiert in einer Glosse die Herkunft des (fiktiven) Stadtteilnamens "Hob Nob".

Besprechungen: Sven Birkerts bedauert das Misslingen eines neuen Romans von Richard Powers ("The Time of Our singing", Farrar, Straus & Giroux), den er für "einen unserer begabtesten Autoren" hält: "Keine einzige der Hauptfiguren verdient die ihnen zugeschriebenen Geschichten ?Wenn man sie schneidet, bluten sie nicht". John Updike las "The Adventures and Misadventures of Maqroll" (New York Review Books) des in Kolumbien geborenen Schrifststellers Alvaro Mutis, "Geschichten einer bunten Reise nach Nirgendwo". Kurzbesprechungen gibt es u.a. von Hanns Zischlers "Kafka geht ins Kino", das jetzt in den USA erscheint. Hilton Als hörte sich einen sechsteiligen CD-Sampler von Björk an, und David Denby sah im Kino Roman Polanskis "Der Pianist" und den neuen Film von Spike Lee, "25th Hour".

Nur in der Printausgabe: eine Reportage über afrikanische Kriegsopfer, denen von Staten Island geholfen wurde, ein Porträt der neuesten Arbeit des "Landschaftskünstlers" James Turrell (mehr hier) an einem Wüstenkrater (hier), ein Nachruf auf den Fotografen Herb Ritts (mehr hier), Überlegungen, ob und wie der New Yorker Bürgermeister Bloomberg die Pleite der Stadt abwenden kann und Lyrik von Mary Oliver, Wislawa Szymborska und Christopher Logue.
Archiv: New Yorker

Economist (UK), 03.01.2003

Wer hat Recht, diejenigen, die behaupten, Amerika und Europa teilen dieselben Werte, oder die "transatlantischen Pessimisten"? Der Economist geht dieser Frage anhand von drei neueren Untersuchungen nach, darunter die von der University of Michigan durchgeführte Studie, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen Fragestellung den Kernpunkten des europäisch-amerikanischen Konflikts auf die Spur gekommen sei. Das Ergebnis: eine 'Weltkarte', auf der sich die Position der Länder anhand von zwei Hauptkriterien ermitteln lasse - Werte und Lebensqualität - und auf der Europa und die USA weit auseinanderliegen. Was kann also passieren? "Zwei Dinge. Erstens könnte der Werte-Graben sich allmählich vergrößern und anfangen, die Wahrnehmung des außenpolitischen Interesses zu beeinflussen, auf der die transatlantische Allianz beruht. Zweitens wurden in der Vergangenheit die kulturellen Unterschiede von den geteilten Werten der amerikanischen und europäischen Eliten unterdrückt - und gerade die Meinung der Elite ist jetzt sogar schärfer gespalten als die volkstümliche Meinung. Es ist die Verbindung verschiedener Faktoren, die die gegenwärtigen transatlantischen Meinungsverschiedenheiten beunruhigend erscheinen lassen. Da ist es ein geringer Trost, dass die Bush-Regierung angesichts der gegenseitigen Feindseligkeit darauf beharrt, dass alles nur eine Sache der Politik ist, und nichts Tieferliegendes."

Angesichts der Ankündigung Nordkoreas, sein Nuklearwaffenprogramm wiederaufzunehmen, befinden sich die USA in der Bredouille, so der Economist, denn sie wollen weder einen Krieg führen, noch verhandeln. Auch Sanktionen und gutes Zureden der Nachbarstaaten, wie es die USA derzeit ins Auge fassen, scheint für den Economist keine wegbare Lösung zu sein - schon deshalb, weil die Nachbarstaaten Russland, China, Südkorea und Japan diesen Isolationskurs nicht befürworten. Mehr zu den wenigen Optionen, über die Amerika in diesem Konflikt verfügt, gibt es auch im Aufmacher "Der explosive Mr. Kim" - der allerdings leider den zahlenden Internetlesern vorbehalten ist.

Weitere Artikel: Eve ist uns geboren und wirft so manche Frage auf, wie der Economist in zwei Artikeln über das menschliche Klonen darlegt. Ein weltweites Verbot des Klonens sei weder wünschenswert noch durchführbar, doch sei es unbedingt notwendig, das Klonen zu reglementieren, so der erste Artikel. Der zweite Artikel befasst sich mit dem vermeintlich geklonten Baby Eve und erläutert die Bedingungen, unter denen eine sachgerechte Prüfung des Sachverhalts gewährleistet wäre. Es steht gut um den Balkan, behauptet der Economist, oder zumindest besser. Doch wie sieht die Zukunft aus? Außerdem: Es mag verwundern, doch der Wächter der britischen Moral war ein Amerikaner, so der liebevolle Nachruf auf den Filmzensor James Ferman.

Weiterhin erfahren wir, dass die neue republikanische Mehrheit im Senat keine uneingeschränkte Handlungsfreiheit für George Bush bedeutet, warum die politischen Morde im Jemen drastisch zunehmen, und warum der Microsoft-Herausforderer Larry Ellison nach Ansicht seiner Anleger und Angestellten sich lieber mit seiner IT-Firma Oracle beschäftigen solle, als rastlos Segel-Welt-Cups zu bestreiten.
Archiv: Economist

Express (Frankreich), 02.01.2003

Der Express bringt eine lange Recherche zur Frage, wer Anne Frank und ihre Familie im Jahr 1944 denunziert hat - zwei Jahre lang hatten sie in einem Versteck in Amsterdam verbracht. Das niederländische Institut für Kriegesdokumentation ist hier mit einer Untersuchung beauftragt, deren Ergebnisse Ende Januar präsentiert werden sollen. Höchstwahrscheinlich greift es die These der britischen Historikerin Carol Ann Lee auf, nach der der Nachbar Tonny Ahlers die versteckten Juden bei der Polizei anschwärzte. Der Express zitiert David Barnouw, einen Mitarbieter des Instituts: "Lange Zeit lebten wir mit dem Bild der tapferen Batavier, die allesamt im Widerstand waren, aber das war natürlich nur ein Mythos... Wie in Frankreich haben die meisten Leute geschwiegen und die Dinge geschehen lassen, wenn sie nicht sogar kollaborierten. Ein Viertel der etwa 25.000 in den Niederlanden versteckten Juden sind von Nachbarn denunziert worden."

Weitere Artikel: "Trotz allem ist die europäische Einigung durch den deutsch-französischen Motor vorangetrieben worden", schreibt Alfred Grosser, der große alte Mittler zwischen Deutschland und Frankreich zum 40. Jahrestag des Elysee-Vertrags. Ein längerer Artikel und eine Kolumne von Jacques Attrali befassen sich mit der Ankündigung des angeblichen ersten geklonten Kindes durch die Rael-Sekte.
Archiv: Express

Spiegel (Deutschland), 06.01.2003

Der Spiegel springt mit seiner auf Fortsetzung angelegten Titelgeschichte "Als Feuer vom Himmel fiel" auf den fahrenden Zug der von Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" (mehr hier) begonnenen Historiker-Debatte. Interviewt wird zum Thema Bomben auf Deutschland allerdings Friedrichs Opponent Hans-Ulrich Wehler.

Eher knausrig ist man diesmal mit freigeschalteten Artikeln. Sehr lesenswert ist ein ausführliches Interview mit dem an Parkinson erkrankten Schauspieler Michael J. Fox, der offen über seine Krankheit berichtet und davon, wie sehr es auch eine Befreiung ist, aus der auf Egozentrismus gepolten Hollywood-Welt zu entkommen: "Ich lebe in New York, weil ich nicht wollte, dass meine Kinder in Hollywood auf dem Spielplatz mit anderen Kindern darüber streiten, wessen Vater den erfolgreicheren Film im Kino hat. Ich wollte ihnen nicht ständig erklären müssen, dass es auch eine richtige Welt da draußen gibt, mit richtigen Menschen, die richtige Sorgen haben. In New York können sie das alles auf dem Schulweg sehen." Freimütig äußert er sich auch zu seinen politischen Ansichten und zum drohenden Krieg: "Keiner will so richtig in diesen Krieg gegen den Irak. Amerikaner sind vielleicht ein bisschen naiv, aber sie sind nicht dumm."

Weit weniger sympathisch ist Claude Vorilhon, Chef der Rahelianer-Sekte, der auch interviewt wird, aber clever ist er, denn in Sachen Baby-Klonen ist sein Name Hase, und er weiß von nichts. Auf den Vorwurf: "Ohne Beweise stehen Sie als Scharlatan da", antwortet er gelassen: "Es gibt aber keine Verbindung zwischen Clonaid und mir. In meiner Position genieße ich alle Vorteile, ohne die Unannehmlichkeiten hinnehmen zu müssen." Gar keine Lust, sich beliebt zu machen, hat auch Simon Fuller, Erfinder der Spice Girls und Entwickler des "Deutschland sucht den Superstar"-Vorbilds. Sein Credo ist so schlicht wie offenkundig zutreffend: "Pop-Stars, das sind nichts als Marken, die man bis zum Letzten ausnehmen muss."

Berichtet wird außerdem von der Krise bei McDonalds. Überaus mysteriös klingt die Geschichte der seit ihrer Flucht von den Olympischen Spielen in Sydney nicht mehr greifbaren französischen Mehrfach-Olympiasiegerin Marie-Jose Perec. Neugierig machen Pläne zur Rückkehr zum seit dreißig Jahren von allen guten Menschengeistern verlassenen Mond. Nur im Heft: Ein Interview mit dem Autor Wladimir Kaminer, ein Essay von Ulrich Beck zur Irak-Krise und eine Bilanz der dänischen Dogma-Bewegung (dazu ist übrigens gerade eine Studie im Deutschen Universitätsverlag erschienen: "DOGMA 95 im Kontext").
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 05.01.2003

In der Titelgeschichte befasst sich Ann Ducille mit Valerie Boyds Biografie von Zora Neale Hurston (mehr hier), der berühmt-berüchtigten schwarzen Feministin, Menschenrechtlerin, Folklore- und Volksmusikforscherin, vor allem aber routinierten Selbstdarstellerin im Amerika der 30er Jahre. Am besten ist "Wrapped in Rainbows", lobt Ducille, "wo primäre Quellen angezapft werden, um Hurstons Leben zu skizzieren und kritisch zu untersuchen. Weniger gut ist dagegen der Versuch, 'Hurstons Stimme erklingen zu lassen', indem ausgiebig aus ihrer Autobiografie und literarischem Werk zitiert wird." Interessant zu lesen ist das alle Mal, räumt Ducille ein, aber Hurstons Persönlichkeit mit Hurstons literarischen Aussagen über sich selbst zu erforschen, "untergräbt doch die Autorität von Boyds Buch als definitve Biografie, da die zugrundeliegenden 'Fakten' suspekt erscheinen." Zusammen mit den ebenfalls erschienenen Auswahl von Hurstons Briefen (erstes Kapitel) sei Boyds Porträt aber doch ein guter Einstieg in das Leben einer schillernden Persönlichkeit, so das versöhnliche Fazit der Rezensentin.

Mit sichtlichem Vergnügen hat sich Christopher Buckley die Neuauflage von Alex Comforts dreißig Jahre altem "The Joy of Sex" angesehen. Großzügig und lasziv illustriert, ist das legendäre Aufklärungshandbuch immer noch die Lektüre wert, schwärmt der Rezensent. Und zitiert hingebungsvoll aus dem Kapitel, das sich der Achselhöhle widmet. ''Klassische Stelle für Küsse. Sollte auf keinen Fall rasiert werden (siehe Cassolette). Kann an Stelle der Hand benutzt werden, um den Partner beim Klimax ruhigzuhalten." Weiter empfiehlt Comfort, den Handballen vor dem Einsatz im Liebesspiel an der eigenen Achselhöhle sowie der des Partner zu reiben. Angetan ist der Rezensent auch vom warmen, wohlwollenden Grundton der Liebesanleitung, richtig gerührt ist er von der herzerfrischenden Ernsthaftigkeit des Autors, wenn der etwa empfiehlt, beim Motorrad-Sex doch bitte einen Helm zu tragen. Ausgerechnet hier offerriert die Times natürlich keinen Auszug.

Außerdem: Mark Costello ist geradezu begeistert von Richard Prices (Feature) neuestem Roman "Samaritan" (erstes Kapitel), einem Thriller voller Drogen, Rassismus und Gewalt. Costello liebt die "kinotauglichen Charaktere, die Atmosphäre von stechender Bösartigkeit; ein übervolles Paket kurz vor dem Explodieren, zusammengehalten von einer starken, spannenden Geschichte". Gary Krist lobt "The Fall" (erstes Kapitel), Simon Mawers Buch vom Leben und Lieben zweier begeisterter Bergsteiger, als reichhaltiges Porträt einer Gruppe von Menschen, die sich von ihren Leidenschaften leiten und in die Irre führen lassen. Adam Hochschild charakterisiert Linda Colleys "Captives", die Geschichte der Engländer, die von Gegnern des Empire zwischen 1600 und 1850 als Geiseln genommen wurden und damit für die Expansion des Weltreichs büßen mussten, als zwar "engagiert und elegant geschrieben, aber irgendwie unbefriedigend".

Zum Schluss noch ein Comic von Marc Alan Stamaty, der allen Buchhändlern unbedingt eine psychotherapeutische Grundausbildung empfiehlt.
Archiv: New York Times

Times Literary Supplement (UK), 03.01.2003

Diesmal im TLS: Ruth Scurr ist angetan von Annie Proulx' neuem Roman "That Old Ace in the Hole". Wie so oft in Proulx' Romanen entspinne sich die Handlung um die "Faszination eines Ortes", diesmal die Panhandles (was soviel heißt wie "Pfannenstiele" und die ungerade verlaufenden Staatengrenzen bezeichnet) von Texas und Oklahoma, und dieser Ort sei nicht nur das Thema der Handlung, sondern die Handlung sei es, die zum Thema des Ortes werde. Und genauso unaufdringlich wie die Handlung seien die Einsichten und Ideen der Autorin, was das Buch zu einer "einladenden Konstruktion" mache. "Es erschließt eine Fülle von Material über die Panhandles und Amerika im Allgemeinen, und manches davon ist widerlich. Doch der Geist des Buches ist ein Geist der Befragung, der Wertschätzung von Individualität und der Gleichheit. Proulx ist eine Schriftstellerin mit ernsthaften Ideen, doch ihre strenge Ästhetik fordert Zurückhaltung. Sie erlaubt ihren Ideen nicht, ihren Gegenstand zu beherrschen, und sie vergisst nie, dass diejenigen, die ihre Romane besuchen, vor allem für ihre Geschichten kommen."

Weitere Artikel: Die Kritik hat Hugo Williams weitgehend vernachlässigt, wohl aufgrund seiner "scheinbaren Einfachheit" und seines "Mangels an Anspielungen", vermutet Roger Caldwell. Doch gerade das sei es, was Williams' Gedichte so lesenswert machten. Claude Rawson ist regelrecht "verzaubert" von den Amazonen-Mythen in Candace Slaters Studie "Entangled Edens", die den Zusammenhang zwischen der fremden Neuen Welt und den fremden Amazonen der griechischen Mythologie beleuchtet. Howard Davies hält Barry Eichengreens Studie "Financial Crises" für einen wichtigen Beitrag zur Weltwirtschafts-Debatte, und der Frage, die sich nach der asiatischen Krise stellt, "ob der institutionnelle Rahmen zur Überwachung der Finanzmärkte, dessen Ziel es ist, Krisen vorzubeugen, und wenn die Vorbeugung scheitert, sie zu handhaben, angemessen ist".

Nur im Print zu lesen unter anderem Nicholas Whites "Au Bonheur des Dames" und Robert Irwins Artikel über die mystische Literatur Persiens.

Nouvel Observateur (Frankreich), 02.01.2003

Das Dossier beschäftigt sich mit der "Herausforderung Islam". Gerade jetzt, wo sich in Frankreich mit dem Conseil francais du Culte musulman erstmals eine "repräsentative Institution" der "moderaten Moslems" bilde (Text hier), gingen "minoritäre islamistische und fundamentalistische Organisationen" wie Salafisten, Habaches oder Freres musulmans in die Offensive" (siehe hierzu auch das Glossar). Im Haupttext gibt Ali Laidi einen Überblick über "gespaltene, intolerante und häufig gewalttätige" Gruppierungen die, "allen ihre angeblich integrative Konzeption des Islam aufzwängen wollen". Porträtiert werden drei Islamisierungsgegner ganz unterschiedlicher Provenienz: Khaled Bentounes (hier), Fouad Imarraine (hier) und Raouf Ben Halima (hier), der die Bewegung bezichtigt, "einer vereinfachenden Vision des Islam" den Vorzug vor dessen genauer Kenntnis zu geben. Und in einem Interview erklärt Kaba Sory, Professor an der Sorbonne, warum es eine Art "moslemischer Fakultät" geben sollte.

Im Debattenteil denkt der aus China stammende Schriftsteller Francois Cheng (u.a. "l?Ecriture poetique chinoise", Seuil), seit Juni 2002 Mitglied der Academie Francaise, über "universelle Werte" nach. Damit wolle er "den Irrtum einiger Zweifler" korrigieren, die "behaupten, die westlichen demokratischen Werte seien auf China nicht übertragbar" Ins Zentrum seiner Überlegungen stellt er "den abgedroschenen Begriff des Dialogs": "Ein verallgemeinerter Dialog, der auf der Überzeugung beruht, dass das durch ihn erschaffene Universum ein einheitliches und organisches Ganzes formt, in dem alles miteinander verbunden ist und in dem das, was zwischen Menschen geschieht ebenso wichtig ist wie die Menschen selbst."

Ansonsten gibt es Besprechungen, darunter einer Gesamtausgabe des dramatischen Werks von Jean Genet (la Pleiade) und eines Essays zur Modernität von Montaigne (Plon). Außerdem lesen wir Auszüge aus einer Biografie des Regisseurs Maurice Pialat (Grasset, Filmografie hier). Und anlässlich des 200. Geburtstags von Hector Berlioz, der in diesem Jahr gefeiert wird (Veranstaltungskalender hier), sind zwei Biografien über den Komponisten erschienen: Pierre-Jean Remy schrieb "Le roman du romantisme" (Albin Michel), und im Interview gibt der englische Journalist und Orchesterchef David Cairns Auskunft über die von ihm verfasste Biografie (Fayard).

London Review of Books (UK), 02.01.2003

Andrew O'Hagan hat sich gleich eine ganze Reihe von Star-Autobiografien (unter anderem von Geri Halliwell und Victoria Beckham) zu Gemüte geführt und kann sich bei soviel ausgebreitetem Schmerz und Märtyrertum in zum "Überlebenskampf" stilisierten Kindheiten nur den Kopf schütteln. Hier handele es sich offenbar um eine neue Art der Selbstdarstellung, denn die Stars klagten so einhellig, dass jedes einzelne dieser Bücher schlicht "Noch taumelnd vor Schmerz" heißen könnte. Leiden sei eben nicht nur schick, Leiden sei alles. "Für die neuere Art von Prominenten wird die Betrachtung der Niemand-Jahre zum gesicherten Weg die Jemand-Jahre und all die Exzesse, die damit einhergehen, zu rechtfertigen. Ruhm hat am Ende eine wesentliche moralische Komponente: Es ist die harte Arbeit der Selbsterhaltung, ein Gipfel der Vernunft, eine schallende Antwort auf das Rätsel des Lebens, eine Bündelung vorbildlicher menschlicher Fähigkeiten, die Träumerei einer perfekten und wohlverdienten Strafe, die ideale Entgegnung auf den Missbrauch in der Familie. Berühmt zu sein erscheint am Ende wie der erste Märtyrer-Preis, den die natürliche Ordnung vergibt. Die Beziehung zwischen Heiligkeit und Dummheit", schließt O'Hagan sarkastisch, "ist eine Verbindung, die in diesen Biografien zu tief für Tränen liegt."

In der Kurzgeschichte "Giving up the Ghost" beschreibt Hilary Mantel den Moment der "midlife". Eine Kostprobe: "Wenn du dich umdrehst und zurücksiehst, an den Jahren entlang, siehst du flüchtig die Geister anderer Leben, die du hättest leben können; in allen Häusern spukt es. Die Gespenster und Trugbilder kriechen unter deinen Teppichen und zwischen Kette und Schuss der Gewebe, sie lauern in Kleiderschränken und liegen flach unter Schubladenfächern. Du denkst an die Kinder, die du hättest haben können, aber nicht hattest. Wenn die Hebamme sagt, 'Es ist ein Junge', wohin geht das Mädchen? Wenn du glaubst schwanger zu sein, und bist es nicht, was passiert dann mit dem Kind, das schon in deinem Geist Form angenommen hat? Du ordnest es ein in eine Schublade deines Bewusstseins, wie eine Kurzgeschichte, die nie gezündet hat nach den ersten paar Zeilen."

Weitere Artikel: Ian Jack rollt die Geschichte der britischen Marine auf und hat in zwei Büchern viel Wissenswertes über das harte Leben an Bord gefunden: in Christopher McKees "Sober Men and True" und Peter Padfields "Rule Britannia". Peter Campbell schreibt über Albrecht Dürer und dessen Fähigkeit, aus Informationen zweiter Hand die Ikone des Nashorns zu machen (Ausstellung im British Museum). In den Short Cuts erinnert Mary-Kay Wilmers an den engagierten politischen Journalisten D.A.N. Jones, der das Schreiben aufgeben musste. Nur im Print zu lesen ist unter anderem, wie Alison Jolly sich "unter Lemuren" bewegt.