Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
16.06.2003. In der New York Review of Books erinnert sich Max Rodenbeck an die sauberen, palmengesäumten Boulevards von Bagdad. Im Spiegel verteidigt Karl Otto Hondrich den Hegemon - und zwar mit Gewalt. Im TLS erklärt Susan Sontag, warum es für sie überhaupt keinen Sinn hat, eine Fremdsprache zu lernen. Outlook India will keine indischen Truppen im Irak stationiert sehen - Ghandis Geist wäre nicht mit ihnen. Die New York Times Book Review feiert Debüts. Der Economist sieht die türkischen Generäle vor einer Niederlage. Im Express erhebt Anna Politkovskaja schwere Vorwürfe gegen Wladimir Putins Tschetschenienpolitik.

New York Review of Books (USA), 03.07.2003

Ziemlich erschüttert zeigt sich Max Rodenbeck darüber, wie heruntergewirtschaftet der Irak in den vergangenen dreizehn Jahren geworden ist: "Als ich 1990 Bagdad sah, erinnert es mit seinem sauberen, palmengesäumten Boulevard an Riad oder Kuweit. Eine Dekade später sieht es eher aus wie Khartoum oder Kinshasa." Viel verheerender als die Kriegsschäden, meint Rodenbeck, dürfte dabei neben den Sanktionen die Tatsache gewesen sein, dass in der Zeit drei Millionen der wahrscheinlich begabtesten Iraker ins Exil gegangen sind.

Edward R.F. Sheehan ist auf seiner Reise durch Israel und die palästinensischen Gebiete erwartungsgemäß auf wenig Ermutigendes gestoßen, am depriemierendsten scheint jedoch die Aussicht auf einen ausgewachsenen Religionskrieg zu sein, wie ihn der Philosoph Avishai Margalit befürchtet: 'Die Intifada hat das Wesen des Konflikts völlig verändert. Er ist zu einer Blutfehde zwischen Arabern und Juden geworden, bei der Tag für Tag Rechnungen beglichen werden."

Weitere Artikel: Eine hübsche Anekdote erzählt John Banville, der in Paris auf Henri Cartier-Bresson traf und kurz vor der Eröffnung einer großen Werkschau in der Bibliotheque Nationale von ihm zu hören bekam: "Eigentlich habe ich kein Interesse an der Fotografie. Am Zeichnen, ja, das mag ich. Aber Fotografie?" Clifford Geertz setzt seine Tour d'horizon durch die Welt des Islam fort (den ersten Teil finden Sie hier). Larry Mc Murtry erinnert an Hollywood-Mogul Lew Wasserman (mehr hier), der als Chef von MCA-Universal seine Konkurrenten wie auch den gesamten amerikanischen Kongress mit "shock and awe" außer Gefecht setzte. Für Alison Lurie tut sich auf einem weiteren Gebiet die transatlantische Kluft auf, in der religiösen Architektur. Dort nämlich ist heiß umstritten, ob sich Gott in einem kleinen weißen Holzkirche oder in einer gotischen Kathedrale wohler fühlt.

Spiegel (Deutschland), 16.06.2003

Irgendwie ist diese Ausgabe zu so einer Art Gegen-Dokument zur Habermas-Initiative geraten. Da ist zunächst Karl Otto Hondrich, der in einem Spiegel-Essay gegen die "Meisterdenker eines imaginären Globalinteresses, auf Kreuzfahrt in ihrem europäischen Traumschiff" zu Felde zieht: Das "alte Europa scheint die grundlegende Rolle von Gewalt vergessen zu haben. Es fühlt sich nicht angegriffen, weder von Bin Laden noch von Saddam, von den Hamas-Kommandos nicht und nicht vom Kongo. Es suggeriert sich, dass Gewalt nicht durch Gewalt, sondern durch Nichtgewalt zu bändigen sei." Dagegen lautet Hondrichs Ausgangsthese: "Nicht Rechts-, sondern Gewaltordnung ist die Grundlage von Gesellschaft." Die europäischen Intellektuellen seien unfähig, dies anzuerkennen. "Der Größenwahn der Macht entsteht im Auge des Betrachters. Hitler spukt noch in unseren Köpfen. Es sind seine Träume von Weltherrschaft, die wir auf Amerika übertragen." Von Habermas' "Multipolarität" befürchtet Hondrich dagegen das Schlimmste: Sie "würde zurückführen in neue Dimensionen von alten Gewaltkonkurrenzkämpfen, die wir hinter uns haben. Dank der US-Hegemonie."

Zum zweiten ist da Thilo Thielke, der von der "Ohnmacht der französischen Friedensmission im Kongo" berichtet - wie zum Beleg für Hondrichs These, dass niemand außer den USA in der Lage ist, die zunehmende "Vielfalt und Streuung von Gewalt" auf der Welt einzudämmen. Zum dritten belegt Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker in einem Interview zum Verfassungskonvent der EU Hondrichs These, dass kein Staat in puncto Demokratie an die USA heranreicht: "Ich habe noch nie eine derartige Untransparenz, eine völlig undurchsichtige, sich dem demokratischen Wettbewerb der Ideen im Vorfeld der Formulierung entziehende Veranstaltung erlebt." Zum vierten schließlich ist die Vorstellung, dass der Hegemon künftig altes und neues Europa gegeneinander ausspielen wird, zumindest aus Sicht einer möglichen künftigen US-Präsidentin eine ziemlich unsinnige Vorstellung: "Europa ist Europa ist Europa" sagt Hillary Clinton im Interview - und von einer Stärkung der Zusammenarbeit mit diesem Europa hänge für die USA außerdem "nicht weniger ab als unsere gesamte Zukunft".

Im Kulturteil stellt Johannes Saltzwedel die schöne und stimmgewaltige Ausnahme-Sopranistin Anna Netrebko (homepage) vor. Der Titel ist dem Irak gewidmet.
Archiv: Spiegel

Express (Frankreich), 12.06.2003

Schwere Vorwürfe gegen Wladimir Putin erhebt im Express die russische Journalistin Anna Politkovskaja, deren Buch "Tschetschenien - Die Wahrheit über den Krieg" auch hierzulande auf ein gewisses Interesse stieß. Sie schildert im Gespräch mit dem Pariser Magazin die inzwischen fast ausweglose Lage in der "Zone", die unter anderem durch immer neue Todesschwadronen stets verschlimmert wird. "Die Henker sind Legion und inzwischen zu regelrechten Banditen in Uniform geworden. Aber es gibt auch legale Todesschwadronen, die unter dem Schutz des Staates stehen. Der KGB-Nachfolger FSB unterhält eine geheime Struktur, den den 'regionalen Sonderdienst' (Rosno), dessen Mitglieder - scheinbar ganz gewöhnliche Menschen - professionelle Killer sind. Auch die Agenten des Militärgeheimdienstes GRU haben die Lizenz, Tschetschenen zu töten... sofern sie keine Spuren hinterlassen. Ein einziges Mal war es möglich, Offiziere des GRU vor Gericht zu stellen, für den Mord an sechs Zivilisten, deren Leichen verbrannt worden waren. Nach der Festnahme habe ich kurz mit diesen Männern gesprochen. Sie standen unter Schock... 'Wir dienen dem Staat', sagten sie unablässig." Die Männer wurden nicht bestraft, später versetzt und befördert.

Weitere Themen: Ein Artikel verweist auf drei neue Bücher französischer Kriegsjournalisten über ihr Metier. Und Franck Erikson freut sich auf das Festival von Aix, wo zum Beispiel Pierre Boulez Opern von Schönberg, de Falla und Strawinsky dirigieren wird.
Archiv: Express

Times Literary Supplement (UK), 13.06.2003

Susan Sontag denkt in einem Essay für das TLS über Sprache nach. Nach Ausführungen über die Schwierigkeit, beim Übersetzen Texttreue und literarische Qualität gleichermaßen zu bewahren, kommt sie zu dem überraschenden Schluss, dass alles nichts hilft, wir in einem "globalen Indien leben und uns ebenso auf die Sprache der Herrschenden als lingua franca verständigen sollten: "Wir leben in einer Welt, die zugleich radikal post-national und im banalsten Nationalismus verhaftet ist. Die Handelsschranken fallen, Währungen werden multinational. Doch es gibt eine hartnäckige Eigentümlichkeit in unserem Leben, die uns in den alten Grenzen festhält, die der fortgeschrittene Kapitalismus, die fortgeschrittene Wissenschaft und Technologie, und die fortgeschrittene imperiale Vorherrschaft (amerikanischen Stils) so belastend finden. Das ist die Tatsache, dass wir verschiedene Sprachen sprechen. Daher die Notwendigkeit einer internationalen Sprache. Und welche ist ein plausiblerer Kandidat als Englisch?" (Deutsch? Französisch? Italienisch? Russisch? Chinesisch?)

Leider nur in Auszügen zu lesen sind Michael Pinto-Duschinskys Anmerkungen zum EU-Verfassungsentwurf. Die Taktik des Verfassungskonvent erinnert ihn stark an die Geschichte vom Rabbi und dem armen Mann, die er folgendermaßen erzählt: "Der Mann vertraut dem Rabbi an, dass seine Frau krank sei, seine elf Kinder hungrig, alle leben in einem einzigen Raum, und sie haben nur eine einzige Ziege. 'Du musst die Ziege mit in den Raum nehmen', trägt ihm der Rabbi auf, 'und dann komm in einer Woche wieder'. Als der Mann beim nächsten Mal den Gestank beklagt, weist ihn der Rabbi an: 'Nimm die Ziege wieder raus. Und komm in einer Woche wieder.' Sieben Tage später kommt dann Mann wieder und preist den Rabbi für seine Hilfe. Seine eigentlichen Probleme hatte er inzwischen vergessen. Die Verfasser der Europäischen Verfassung haben ebenso begonnen, Begriffe und Wendungen zu benutzen, die allein darauf zielten, die Euroskeptiker zu schockieren und ihre Energien zu verschwenden.

Weitere Artikel: Neil Powell stellt Jean Moorcroft Wilsons Biografie des "georgian poet" Siegfried Sassoon (mehr hier oder hier) vor. Martin Daunton lobt Hermione Hobhouses Geschichte des Londoner Kristallpalastes (mehr hier), in dem Königin Vicoria die erste Weltausstellung eröffnete. Schließlich erzählt Garden S. Robinson anhand von Daniel Hahns "The Tower Menagerie" die "wundersame, wahre Geschichte der königlichen Sammlung wilder Tiere" im Tower.

Outlook India (Indien), 23.06.2003

Er scheint zu gut, um wahr zu sein: der indische Präsident A.P.J. Abdul Kalam (mehr hier), dem die Titelgeschichte - oder sollte man sagen: Lobpreisung - von Sheela Reddy gewidmet ist. Nach zehn Monaten im Amt hat Kalam offensichtlich nicht nur die Journalisten, sondern auch den Rest der Inder komplett für sich eingenommen. Selbst die politische Elite, die den unkonventionellen Außenseiter anfangs nicht recht ernst nahm, erwärmt sich mittlerweile für den Wissenschaftler mit der langen Silbermähne und dem sokratischen Auftreten. Und wer sollte auch etwas gegen einen poetisch veranlagten Präsidenten haben, der sich ganz seinem Traum verschrieben zu haben scheint, "Indien zu einem sicheren, wohlhabenden und aufgeklärten Land zu machen" - und zwar bis zum Jahr 2020 - und der Schulkindern und Ministern mit der gleichen Unbefangenheit und Ernsthaftigkeit begegnet, weil er in ihnen vor allem notwendige Partner für dieses Projekt sieht. Der Mann, schreibt Reddy, hat eine Mission, und die besteht darin, das Land zu motivieren, sein Potential auszuschöpfen. Scheinbar findet er die richtigen Worte und Gesten.

Washington hat in Neu Delhi angefragt, ob Indien bereit wäre, Truppen in den Irak zu schicken, zur Unterstützung der amerikanischen und englischen Einheiten. Sollte also, fragt aus diesem Anlass Prem Shankar Jha, "ein Land, das 190 Jahre koloniale Unterdrückung durchlitt und 62 Jahre für seine Befreiung kämpfte, plötzlich selber zu einer kolonialen Macht werden?" Seine Antwort ist eindeutig: Indien soll humanitäre Hilfe schicken, aber sonst nichts. "Alles andere würde nicht nur (...) das Risiko bergen, in einen fremden Krieg hineingezogen zu werden, sondern auch jedes Ideal verraten, für das Mahatma Gandhi, Shyama Prasad Mukherjee und andere Gründerväter unserer Unabhängigkeit kämpften." Die Frage nach einem Engagement von Indiens Armee in Irak wurde natürlich auch dem stellvertretenden Premierminister Advani bei seinem Besuch in Washington gestellt. Ashish Kumar Sen berichtet, wie er sie beantwortete und warum einige indische Amerikaner gegen seinen Besuch protestierten.

Weitere Artikel: Mariana Baabar berichtet aus Pakistans Nordwestprovinz an der afghanischen Grenze, wo das islamistische Parteienbündnis MMA die Einführung der Scharia-Gesetzgebung im Parlament durchsetzte. Mihir Bose beklagt den Kleingeist des indischen kulturellen Protektionismus, der Mitglieder der Diaspora zu einer neuen minderwertigen Kaste stempele - und das mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit. Madhu Jain weiß von einer neuen Sorte NIRs - Non-Indian Residents: Sie kommen aus dem Westen, sind aber nicht länger auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung, sondern wollen in Indien arbeiten - und bleiben. Keine Möchtegern-Gurus mehr, sondern "Kosmetikerinnen, Musiker, Anwälte, Bauchtänzerinnen, Geschäftsberater, DJs, Architekten, Finanzanalysten, Filmtechniker, Barkeeper und Filmregisseure - sogar eine blonde Stuntfrau in Bollywood ist dabei." Und Dilip Simeon weist auf die Mängel von "The Future Of Freedom: Illiberal Democracy At Home And Abroad" hin, ein Buch des in den USA hoch gehandelten Historikers und Politologen Fareed Zakaria.
Archiv: Outlook India

Economist (UK), 13.06.2003

Der innertürkische Streit um Reformen geht weiter, berichtet der Economist: Die Regierung unter Premierminister Tayyip Erdogan will sie - die immer noch mächtigen Generäle nicht. Einerseits garantieren die geplanten Reformen der kurdischen Minderheit mehr Freiheiten, was die Generäle strikt ablehnen, und andererseits vermuten die Generäle, die Regierung habe langfristig vor, den türkischen Laizismus abzuschaffen. "Doch dieses Mal könnte es sein, dass die Generäle, die in den letzten vier Jahrzehnten dreimal direkt die Macht übernommen und 1997 die erste islamistische Regierung entmachtet haben, sich den falschen Kampf ausgesucht haben. Ein Grund dafür ist, dass die überwältigende Mehrheit der Türken einen EU-Beitritt wünscht und erkennt, dass die Reformvorschläge dazu beitragen werden, dieses Ziel zu erreichen. (...) Dadurch sind die Generäle in die Defensive geraten, und einige versuchen nun, die Lage zu entschärfen: 'Erwähnen Sie bloß nicht das Wort Coup', ärgert sich General Ozkok, 'Es gibt weder Falken noch Tauben, weder junge Offiziere, noch alte. Wir unterstützen eine EU-Mitgliedschaft, aber wir sind der Meinung, wir sollten der EU als Gleichwertige beitreten, solange unsere nationale Einheit keine Gefahr läuft."

Die zwei neuen George-Orwell-Biografien von Gordon Bowker ("George Orwell") und D. J. Taylor ("Orwell: The Life") sind beide gut, aber Bowkers ist besser, meint der Economist. Unter anderem vergleiche er Orwell mit Camus und ernenne ihn zu Englands Existentialisten: "Ob sich seine wöchtenliche Kolumne darum drehte, wie man klar schreibt, wie man der Tyrannei widersteht, oder wie man Tee kocht, über klares Schreiben, bei ihm klang es immer, als ginge es um Leben und Tod."

Weitere Artikel: Großbritannien hat seinen Euro-Beitritt erneut verschoben, da es nur einem der fünf Tauglichkeitskriterien gerecht werden konnte, wie schon vor sechs Jahren. Wahrscheinlich, so der Economist, wird es daher zu einem Referendum kommen. Etwas hämisch wundert sich der Economist weiterhin, warum man sich so sehr den Kopf über Großbritanniens Euro-Qualifikation zerbricht, wo doch die eigentlich Frage laute, ob nicht Deutschland aus der Euro-Zone rausfliegen sollte. Der Economist hat Deutschland dem Euro-Test unterzogen, und das Ergebnis ist eindeutig: Euro-untauglich.

Außerdem lesen wir über den Tod des Denkmalbauers Felix de Weldon, dem das berühmte amerikanische Heldendenkmal auf Iwo Jima zu verdanken ist und über den neuen, aufsehenerregenden Fall der amerikanischen Bürgerrechtlerin Erin Brockovich. Weiter warum Amerikas große Auto-Giganten aussterben, warum sich die amerikanische Wirtschaft zu erholen scheint, und Neues aus der Wissenschaft: Könnte der Embryo der Vater des Patienten sein? Alles deute darauf hin, dass im späteren Leben auftretende Krankheiten schon im Embryonal-Stadium angelegt sind. Und zuletzt hat der Economist sehr ausführlich über den skandalträchtigen Airbus recherchiert.

Nur im Print zu lesen, was es mit Iran und Amerika auf sich hat, wie irakische Kommunisten und irakische Kleriker zueinander stehen, und ein Überlick über die nordischen Gefilde.
Archiv: Economist

Espresso (Italien), 19.06.2003

Freiheit für die Kunst! Francesca Reboli stellt die Ausstellung Illegal Art vor, in der über dreißig Künstler mit den urheberrechtlich geschützten Kreationen der großen Firmen spielen, mit dem Ziel, "die Exzesse des amerikanischen Copyrightgesetzes sowie die Zensuranstrengungen der großen Unternehmen bloßzustellen". Bill Barminski etwa nimmt Fred Flintstone oder Barbie und macht aus ihren netten Gesichtern groteske Gasmasken. Oder Kieron Dwyer, der das Logo der Kaffeekette Starbucks gemein erheiternd verfremdet. "Die Kunst", betonen die Organisatoren der Ausstellung Stay Free! und Archive - die schon länger gegen die ihrer Meinung nach überzogenen Urheberrechte ankämpfen, "muss frei sein können, sich Logos, registrierte Marken, Personen und Werke anzueignen, zu manipulieren und zu verändern."

Paulo Coelho (Bücher), "der Meister des New-Age-Bestsellers", spricht mit Giancarlo Dotto über seinen neuen Roman "Undici minuti". Dabei verteidigt er sich gegen den Vorwurf, seine Bücher wären schlecht und reine Trostspender. "'Undici minuti' erzählt eine harte, ernste Geschichte ohne Kompromisse. Die Wahrheit ist, dass meine Kritiker seit Jahren versuchen das Unerklärliche zu erklären." Die Erzählung dreht sich um eine Prostituierte aus Sertao, die den Sinn des Lebens durch den Sex begreift.

Außerdem: In der Titelgeschichte versucht Chris Hatherall das Phänomen David Beckham (mehr über seine Hoheit hier und hier) in den Griff zu bekommen, Fußballstar und Modeikone zugleich. "Er ist berühmt in Europa und dem ganzen Orient, er ist ein Held in fast jedem Land der Erde. Aber die Amerikaner kennen ihn kaum." Na dann, nichts wie hin! Enrico Pedemonte beschreibt die Angst der amerikanischen Republikaner vor einer neuen Ära Clinton. Diesmal mit Hillary, die kaum mehr zu stoppen scheint. "Alle Umfragen zeigen, dass ihr heutiges Image das aller neuen demokratischen Kandidaten bei weitem übertrifft."
Archiv: Espresso

Profil (Österreich), 15.06.2003

Christoph Schlingensief gibt im Interview zu, dass ihn Theater extrem langweilt; es sei "sehr oft einfach überflüssig und überschätzt". Der Filme- und Theatermacher äußert sich in dem Interview dennoch über seinen Auftrag, in Bayreuth den "Parsifal" zu inszenieren und über Wagners Pyromanie. Dessen Musik sei für ihn eine Kindheitserinnerung, da seine Mutter sie gern daheim gehört habe. Dann habe er einmal gelesen, "dass Wagner in einer Holzhütte Partituren schrieb, diese nur einmal da drin aufführte und dann alles zusammen niederbrannte. Das fand ich wieder richtig gut, so was beflügelt mich." Deutschland sieht Schlingensief, der zur Zeit auf der Biennale in Venedig seine "Church of Fear" präsentiert, in einer "Depressionsschleife": Diese sei "nervtötend und destruktiv. Es ist kaum noch auszuhalten; alles, was sich bewegt, kann eigentlich nur noch erschossen werden, so wird da fast argumentiert", meint Schlingensief.

Unter der Überschrift "Restseller" meldet profil den erneut drohenden Verkauf der österreichischen Verlage Residenz, Deuticke und Brandstätter. Erst im Dezember 2002 hatte die deutsche Verlagsgruppe Klett für 24 Millionen Euro den Österreichischen Bundesverlag (ÖBV), zu dem rund zwanzig Verlage, Buchhandlungen und eine Buchauslieferung gehören, erworben. Das Herzstück ist der profitable österreichische Schulbuchverlag, als Sorgenkinder gelten die Literaturverlage Deuticke, Residenz und Brandstätter, deren Umsätze sich in den letzten fünf Jahren halbiert hätten. Nach nur sechs Monaten stehen sie nun wieder zur Disposition: Ein Verkauf wird nicht mehr ausgeschlossen, wenn die Literaturverlage nicht "eigenhändig in die Kampfzone der Gewinnrechnungen" geführt werden könnten. Viele verlegerische Entscheidungen seien "nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten getroffen" worden, und diese Denkweise müsse sich ändern: "Wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben", gibt Klett-Geschäftsführer Tilmann Michaletz zu Protokoll.

Archiv: Profil

Nouvel Observateur (Frankreich), 12.06.2003

Im Debattenteil druckt das Magazin Auszüge aus einem Text des Schaupielers Sean Penn, der am 30. Mai in der New York Times zu lesen war. Penn berichtet darin unter anderem über seine (teilweise kritisierte und belächelte) Reise nach Bagdad im Dezember vergangenen Jahres und bekennt seine andauernde Beunruhigung, die er bereits im Oktober 2002 in einem offenen Brief an George W. Bush formuliert hatte. Für Penn hat sich der "Schatten" des 11. September demnach keineswegs gelichtet. "Zur einem Zeitpunkt, da die Medien Syrien, Iran und Nordkorea auf die Liste möglicher Kampfziele setzen, sollten wir einmal über die Mittel nachdenken, die für diese Kreuzzüge der Gewalt jederzeit zur Verfügung stehen, während es zugleich unmöglich ist, Kreuzzüge zu finanzieren, die andere Völker und uns selbst von sehr realen Leiden erlösten. Ich spreche von unserem Geld. Unserer Demokratie. Unserer Fahne."

In einem kleinen Schwerpunkt rechnet der Nouvel Obs mit der "Achse der Lüge" ab, auf der Bush und Blair ihre Irak-Politik begründet hätten. So beschäftigt sich ein Artikel mit den bisher nicht gefundenen Massenvernichtungswaffen, ein Kommentar sichtet Bush in der "Lügenfalle", und ein weiterer Text beschreibt den Autoritäts- und Vertrauensverlust, den sich Blair mit seiner "Staatslüge" eingehandelt habe. Unter dem Oberbegriff "Lügen" kann dann natürlich auch Hillary Clintons Biografie respektive der Eiertanz ihres Mannes abgehandelt werden. (Was wäre überhaupt die Welt ohne die ehrlichen Franzosen!)

Besprochen wird eine Anthologie über Griechenlandreisen, die Schriftsteller und Intellektuelle seit dem Mittelalter unternommen haben. Der Band rekonstruiert unter anderem die Reisen von Freud, Lamartine, Lord Byron und Chateaubriand (Laffont). Vorgestellt wird außerdem eine Biografie über die zum Islam konvertierte schweizer Schriftstellerin Isabelle Eberhardt (1877-1904, mehr hier) von Goncourt-Preisträger Edmonde Charles-Roux (Grasset).

New York Times (USA), 15.06.2003

Die New York Times gibt dem Nachwuchs eine Chance und bespricht vier Debüts im großen Stil. Jay McInerney ist begeistert von Mark Haddons "kräftigem, lustigem und originellem" Erstling "The Curious Incident of the Dog in the Night-Time" (erstes Kapitel). Der autistische Gelehrte Christopher entdeckt den Nachbarpudel tot auf eine Mistgabel gespießt und macht sich daran, das Geheimnis zu lüften. "Haddon schafft es", lobt der Rezensent, "uns tief in Christophers Kopf hineinzubringen und es uns in dessen begrenzter, streng logischer Denkweise bequem zu machen. So weit, dass wir anfangen, den gesunden Menschenverstand und die erratischen Gefühle der Leute um ihn herum in Frage zu stellen." Christopher ist zwar ein "ungelöstes Geheimnis", schreibt McInerney, "aber er ist sicher einer der merkwürdigsten und überzeugendsten Charaktere in der jüngeren Literatur."

Ebenso angetan ist Benjamin Anastas von Ellen Ullmans "spannendem und intellektuell furchtlosem" ersten Roman "The Bug" (erstes Kapitel), den sie als Wiederbelebung des Frankenstein-Motivs versteht, bloß dass diesmal Computerviren den Part der intelligenten künstlichen Kreatur übernehmen. Der Lobreigen für die Newcomer geht weiter mit Sara Mosles verzückter Rezension von Maile Meloys (eine Lesung zum Anhören) "spektakulärer" Erzählung "Liars and Saints" (erstes Kapitel), der Odyssee einer französisch-kanadisch-amerikanischen Familie über den ganzen Erdball und vier Generationen hinweg. Unmöglich ist es für Francine Prose, Joan London nicht für deren "offenkundiges Talent" und ihren Erstling "Gilgamesh" zu bewundern. In dem "paradoxerweise schlank gehaltenen und dicht gepackten" Roman reist die Heldin von Australien nach Armenien, um den Vater ihres Kindes zu suchen.

Laura Miller singt eine Hymne auf die Fallstudie, "diesem unbekannten Genre im Grenzland zwischen Kunst und Wissenschaft". Als Meister nennt sie den Neurologen Oliver Sacks (mehr hier) oder Sigmund Freud, der die Abgründe hinter den respektablen bürgerlichen Kulissen seines Wiens so scharf und plastisch beschreibt und sie damit als das präsentiert, was sie sind: der Stoff für "großen Klatsch und große Literatur".

Zwei weitere, beachtenswerte Besprechungen: Owen Gingerich empfiehlt James Gleicks Biografie von "Isaac Newton" als die nun "erste Wahl für den interessierten Laien". Gleick schaffe es als Erster, mit der außerordentlichen Breite und Komplexität von Newtons Leben und Interessen fertig zu werden. Stacy Schiff gratuliert Hilary Spurling zu ihrem Porträt von Sonia Brownell, die vor allem deshalb bekannt ist, weil sie 14 Wochen mit dem schon todkranken George Orwell verheiratet war. Schiff gefällt Spurlings "große Sensibilität" sowie die "vorbildhafte Recherche".
Archiv: New York Times