Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.07.2003. Die New York Review of Books lugt in die Köpfe von Scharon, Arafat und Abu Mazen. Outlook India feiert den Siegeszug chinesischer und indischer Kultur im Westen. Der New Yorker fragt, warum Osama bin Laden noch frei ist. Prospect porträtiert Frank Gehry. Espresso feiert Orgien in London. Die Literaturnaja Gazeta verteidigt den starken Staat. Im Nouvel Obs will Ahmed Zewail den Islam mit der Wissenschaft versöhnen. Die London Review sieht Syrien in einer gefährlichen Zwickmühle.

New York Review of Books (USA), 14.08.2003

Max Rodenbeck zieht nach hundert Tagen eine negative Bilanz der amerikanischen Besatzung im Irak. So hätten die USA immer noch nicht offengelegt, was ihre Ziele im Irak sind, wie lange sie dort bleiben und was sie mit den gesuchten Baathisten machen wollen. Rodenbeck erzählt folgende Geschichte: Während er bei einem nicht näher genannten irakischen Gouverneur zu Besuch war, wurde dort Ezzat Ibrahim gesehen, als Saddams loyalster Stellvertreter der "Kreuz König" im Most-Wanted-Kartenspiel des Pentagons. "Der Gouverneur, der diesen Mann versteckte, hat auf der Flucht vor Saddams Häschern viele Jahre im Exil verbracht. Seine Freude über den Sturz der Baath-Partei war offensichtlich. Er beteuerte seine Dankbarkeit, die seiner Meinung nach alle Iraker gegenüber Amerika fühlen sollten. Er bezeugt großen Respekt für den amerikanischen Kommandeur seiner Region. Aber traut er den Amerikaner? Nein."

Was würde Scharon, Arafat und Abu Mazen durch den Kopf gehen, wenn sie an einem heißen Sommertag aus ihren Fenster sähen? Hussein Agha und Robert Malley (mehr hier und hier) vollführen dieses kleine Gedankenexperiment und kommen zu dem Schluss, dass die drei eigentlich keinen Anlass haben, mit ihrer derzeitigen Situation unzufrieden zu sein. Sharon zum Beispiel sei kurz davor, sein Lebensziel zu erreichen: die Vernichtung einer geeinten palästinensischen Nationalbewegung. "Nur zwei Hindernisse stehen diesem Ziel im Weg. Das erste ist Jassir Arafat. Für Sharon personifiert Arafat all das, was er zu unterdrücken versucht: militanten Nationalismus, Feindschaft gegen Israel, Gewalt, Terror und - bis vor kurzem zumindest - Legitimität in den Augen der Welt. Das zweite Hindernis ist Abu Mazen. Neben Arafat sieht Sharon ihn als den Letzten Palästinenser, den finalen Führer einer geeinten Nationalbewegung, als einen Mann, der in der Lage sein könnte, die Bewegung zusammenzuhalten. Noch wird Abu Mazen gebraucht. Abu Mazen soll erfolgreich sein, wenn es darum geht, Arafat zu marginaliseren, die Intifada zu beenden und Israel ein gewisses Maß an Sicherheit zu geben. Doch nur bis dahin - und keinen Schritt weiter."

Weitere Artikel: Allen Orr, nach eigenem Bekunden schon weidlich gelangweilt über die Debatte "nature versus nurture", freut sich über Matt Ridleys Buch über "Genes, Experience, and What Makes Us Human", das einen geradezu wittgensteinhaften Weg aus dem akademischen Dilemma ebnet: "Allem Gerede über den Unterschied zwischen Genen und Umwelt zum Trotz macht Ridley klar, dass bei Lernen, Intelligenz, Verhalten und Kultur - all den Ingedienzien der Erziehung also - Gene eine Rolle spielen." David Hajdu bricht eine Lanze für Erwachsenen-Comics. Garry Wills beteuert, wirklich bereit gewesen zu sein Hillary Clintons "Living History" als politisches Buch ernst zu nehmen - allein, sie hat ihm keine Chance gegeben. Ingrid D. Rowland vergleicht die beiden Tizian-Ausstellungen in London und Madrid.

Outlook India (Indien), 04.08.2003

Eine hoch interessante Ausgabe! Auf dem Cover ist ein Fashion-Model, daneben steht dick "RIP OFF", doch einer der bemerkenswertesten Artikel handelt eher vom Gegenteil: dem Siegeszug chinesischer und indischer Kultur im Westen. Die Wortwahl scheint berechtigt, schließlich geht es, wie Jehangir S. Pocha schreibt, durchaus um Macht - um so genannte "weiche Macht", die der Harvard-Politologe Joseph Nye als das stille, aber tiefe Wasser neben dem bewegteren Gewässern der geopolitischen Weltkarte identifiziert hat. "Weiche Macht", wird er zitiert, "erlaubt es einer Nation, internationale Angelegenheiten durch Anziehung und weniger durch Zwang zu ihren Gunsten ausgehen zu lassen". Und glaubt man Pocha, dann haben beide Länder das erkannt und greifen fördernd in die zunehmende Sichtbarkeit ihrer Kulturen ein. Denn hat nicht Amerika den kalten Krieg auch durch heiße Rhythmen gewonnen? Jedenfalls scheint man in Washington zunehmend besorgt zu sein ...

Zwei Artikel beschäftigen sich mit dem sozialen Gefüge der indischen Gesellschaft: P. V. Indiresan nimmt das jüngste Affirmative-Action-Urteil in den USA zum Anlass, über die Zielsetzungen positiver Diskriminierung und das seit Jahrzehnten bestehende indische System der Reservierung staatsfinanzierter Arbeitsplätze für Angehörige benachteiligter Kasten nachzudenken. Zunächst fallen die Unterschiede ins Auge: In Amerika gehe es um soziale Harmonie, in Indien um historische Kompensation, nicht aber um soziale Integration. Sollten die Inder umdenken? Die Frage stellt sich auch Saba Naqvi Bhaumik und kommentiert die in Folge eines Urteils des obersten Gerichtshofes erneuerte Debatte um ein einheitliches Familienrecht. Denn nach wie vor gelten in Indien zivilrechtliche Regelungen nicht für alle gleich, sondern sind religionsabhängig. Die hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP setzt sich für eine Vereinheitlichung ein und ruft "Fortschritt", die muslimische Minderheit, die am stärksten betroffen wäre, vermutet eine weitere Beschneidung ihrer Rechte und ruft "Pluralität" zurück.

Weitere Artikel: Prem Shankar Jha ist wütend über die "eigenartige moralische Blindheit", mit der die Welt angesichts der Ermordung von Saddams Söhnen geschlagen scheint, und Sanjay Suri reißt eine faszinierende Geschichte über Landvermessung, Kolonialismus, den höchsten Berg der Welt und ein vergessenes indische Mathematikgenie an und fordert, dass sie bald mal vollständig erzählt wird. Und das Model auf dem Cover? Manu Joseph war bei der jährlichen Fashion Week in Mumbai, und auch wenn die indischen Designer mit den Ergebnissen unzufrieden waren - ein überaus unterhaltsamer Text ist auf jeden Fall dabei herausgekommen.
Archiv: Outlook India

New Yorker (USA), 04.08.2003

Warum wurde Osama bin Laden nicht gefangen? Diese Frage untersucht Jane Mayer in einem dieser berühmten, mit Informationen nur so gespickten ellenlangen amerikanischen Artikel. Unter dem Titel Letter aus Washington - mehr Understatement geht nicht - erklärt sie uns erst einmal, warum der amerikanische Geheimdienst glaubt, dass bin Laden noch lebt. Gesehen wurde er zuletzt in dem Video vom 26.12.2001. Doch "schickt er pausenlos Bänder und Botschaften an seine Anhänger, mit Instruktionen, die niemand außer ihm geben kann", zitiert Mayer Yossef Bodansky (mehr hier), Direktor der Congressional Task Force on Terrorism and Unconventional Warfare. "Menschen von den Philippinen bis Indonesien und Südafrika stellen bin Laden Fragen und bekommen auch eine Antwort." Warum wurde er dann noch nicht geschnappt? Größtes Problem scheint Pakistan zu sein: "'Bin Laden ist ihre Get Out of Jail Free card,' sagt Yossef Bodansky. 'Jedesmal wenn wir uns über die Heroinproduktion beschweren, sagen sie, "hört mal, wir helfen euch bei bin Laden", und wir machen einen Rückzieher. Wenn wir uns beschweren, dass Pakistan den Terrorismus in Kaschmir unterstützt, berufen sie sich auf bin Laden, und wir machen einen Rückzieher. "Wir sind auf eurer Seite", sagen sie. Aber ich glaube, es gibt starke Hinweise, dass Pakistan ihn beschützt.'"

Weitere Artikel: John Updike bespricht Bücher, die zum 200. Geburtstag von Ralph Waldo Emerson erschienen sind (dazu gibt es einen Artikel mit Links zu Emerson). Peter Schjeldahl stellt die Ausstellung "The American Effect: Global Perspectives on the United States, 1990-2003," im Whitney Museum vor, die zeigt, wie die USA im Ausland gesehen werden. Und David Denby schreibt über den Film "Seabiscuit" von Gary Ross ("Pleasantville"). Lesen dürfen wir außerdem Edward P. Jones' Geschichte "A Rich Man".
Archiv: New Yorker

Espresso (Italien), 31.07.2003

Im Sommerloch greift der Espresso auf bewährte Taktiken zurück, was bedeutet: Sex. Annalisa Piras berichtet im Aufmacher hautnah aus der Trendzentrale London, wo in schwülen Julinächten Fever-Parties steigen. Nur wer reich, jung und schön ist, kommt in die repräsentativen viktorianischen Villen rein. Und dann? "Um Mitternacht gibt es auf dem Bett im zentralen Zimmer keinen freien Platz mehr. Im Halbschatten windet sich ein keuchendes laokoonisches Gewirr aus Körpern. Präservative gibt es hier und da aus eleganten Kristallschalen, aber außer bei einigen wenigen Paaren in den dunkelsten Ecken scheinen sie kaum in Gebrauch zu sein. Die Faszination der Fever-Parties liegt nicht nur in den hemmungslosen Paarungen, sondern auch im aufregenden Vergleich. Im Erforschen, im Narzissmus, in der Zurschaustellung perfekter Körper (...)". Dem angeregten Leser empfiehlt dann Monica Maggi gleich noch die pikantesten Events des Sommers. Weltweit.

Desweiteren stellt Riccardo Stagliano eine interessante Widerstandsbewegung gegen die Überwachungsexzesse der amerikanischen Regierung vor. Unter dem Titel Open Government Awareness sind auf einer Website sonst verstreute und schwer zugängliche Informationen über die Regierung gesammelt . "Aber die Gründung einer Art 'Google über die Regierung', wie es einer genannt hat, ist nur der erste Schritt. In der nächsten Phase sind alle Nutzer dazu aufgerufen, Dossiers mit allen Informationen bereitzustellen, die sich in ihrem Besitz befinden: der Versuch einer Counter-Intelligence von unten."

Umberto Eco ist in den Ferien, weshalb nur noch der Artikel von Barbara Roncaralo über einen neuen Demonstrationstrend zu nennen wäre: per SMS benachrichtigte Jugendliche versammeln sich überfallsartig irgendwo, um als Flash Mob gegen alles und nichts zu protestieren und nach zehn Minuten wieder zu verschwinden.
Archiv: Espresso
Stichwörter: Eco, Umberto, Narzissmus, Mob

London Review of Books (UK), 24.07.2003

Charles Glass beobachtet, wie sich Amerikas Aufmerksamkeit gezielter auf Syrien richtet, und welche Schwierigkeiten dies für Syrien bedeutet: "Eine amerikanische Regierung, die unter Diplomatie Diktat versteht, hat kein Interesse daran, sich Syriens Darlegungen anzuhören: dass die Palästinenser einen legitimen, legalen Kampf führen, um die militärische Besetzung zu beenden; dass die Syrer, wie auch die Araber anderswo, an palästinensische Nationalrechte glauben; dass im Libanon die Hizbollah eine legale politische Partei ist, mit neun gewählten Parlamentsmitgliedern; dass Israel weitaus mehr Massenvernichtungswaffen, darunter mindestens 250 Nuklearsprengköpfe, besitzt als Syrien sich überhaupt je leisten könnte; dass die syrische Regierung, anstatt den islamischen Fundamentalisten zu helfen, ihnen bereits zwanzig Jahre vor dem 11. September den Kampf angesagt hat, namentlich in Aleppo und Hama; dass ein abrupter Abzug der Syrer aus dem Libanon die sunnitisch-muslimischen Fundamentalisten, die für Osama Bin Ladens Aufruf empfänglich sind, jeder wirksamen Kontrolle entziehen und den libanesischen Bürgerkrieg neu entfachen würde. 'Was können wir tun?' fragt Boutheina Shaaban vom syrischen Außenministerium. 'Wenn wir Ja sagen, werden sie weitere Dinge fordern. Sie verstehen nicht, dass es hier um Würde geht.' "

Richard Wollheim ist dem Ausstellungspfad der großen Nicolas-de-Stael-Retrospektive im Pariser Centre Pompidou gefolgt, und portätiert de Stael als "experimentellen Maler", was man sich folgendermaßen vorzustellen hat: "Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts strotzte nur so vor experimentellen Künstlern. Anders die zweite Hälfte, die zahlreiche innovative Künstler der einen oder anderen Art hervorbrachte. Der Unterschied dabei ist, dass der innovative Künstler innovativ arbeitet, um seinem Werk eine unverkennbare Erscheinung zu geben, während der experimentelle Künstler innovativ arbeitet, in der Hoffnung, die später bestätigt oder widerrufen wird, dass diese neue Erscheinung es ihm erlaubt, seinem Gegenstand gerechter zu werden."

Weitere Artikel: Jonathan Dollimore zeigt sich ziemlich unzufrieden mit der von Peter Wollen und Joe Kerr herausgegebenen Kulturgeschichte des Autos, "Autopia: Cars and Culture": Zu wenig Fließband, zu wenig Schmiere und zu wenig Autorennen. In Short Cuts beobachtet Thomas Jones, wie sich Wortbedeutungen verschieben, oder besser, wie die US-Regierung um George Bush die Bedeutungen einiger Wörter verschiebt, wie etwa "frei" oder "Terror". Und schließlich hat sich Peter Campbell im neu eröffneten Baltic Museum in Newcastle umgesehen.

Nur im Print zu lesen: Patrick Cockburns Tagebuch aus Bagdad.

Literaturnaja Gazeta (Russland), 23.07.2003

Sergej Markedonow kommt in seinem Artikel "Krieg der freien Bürger" zu dem Schluss, dass "die Intellektuellen in großem Maße die Schuld daran tragen, dass die russische Gesellschaft den Terrorismus nur aus der Entfernung wahrnimmt und dem Tschetschenien-Konflikt gleichgültig gegenübersteht." Dabei werde insbesondere nach den Selbstmordattentaten in Moskau Anfang Juni eines immer deutlicher: "Ein schwacher Staat ist nicht in der Lage, die Grundrechte und Grundfreiheiten seiner Bürger zu garantieren. (?) Wir müssen endlich einsehen, dass ein starker Staat und eine bürgerliche Gesellschaft einander nicht ausschließen." Wahr sei vielmehr, dass "die jedem Demokraten und liberal denkenden Menschen heiligen Begriffe - Freiheit, Eigentum, Rechtsstaatlichkeit - ohne den Staat oder außerhalb des Staates nicht umsetzbar sind."

In der Rubrik "Skandal" zweifelt die Literaturnaja Gazeta an der Glaubwürdigkeit des russischen Schriftstellers Viktor Jerofejew. In einem Interview mit der Welt hatte dieser sich in einer Reihe mit Wladimir Sorokin gestellt, dessen Bücher im Herbst letzten Jahres verboten worden waren: "Ein Teil dieser Strategie war der öffentlich erhobene Vorwurf, Schriftsteller wie Pelewin, Sorokin und ich würden mit schlechten, unmoralischen, perversen Büchern die russische Jugend verderben. (?) Das ist ein altes Muster der russischen Politik: Erst wird jemand zum Feind, am besten zum ideologischen Feind erklärt, dann wird der Unmut des Volkes über die schlechte Lage des Landes auf ihn gelenkt." Im Gegensatz zu Sorokin aber fungiere der "verfolgte" Jerofejew nun als "offizieller Vertreter des Gastlandes" der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, und "die Spesengelder, Tagespauschalen und anderen Auslagen" des "tapferen Oppositionellen" werden "vom russischen Presseministerium erstattet", höhnt die Literaturnaja.

Weitere Artikel: Im Interview fordert der Verfassungsrechtler Alexander Jakowlew Nachbesserungen in der Sozial- und Steuergesetzgebung Russlands: "Der räuberische Kapitalismus in Russland ist nur möglich, weil es die Alternative einer Beilegung von Vermögensstreitigkeiten im Rahmen eines funktionierenden Staatsapparates nicht gibt." Vor allem "muss im Gesetz verankert sein, dass es rentabler ist, Geld in Russland anzulegen als im Ausland." Andernfalls kann es passieren, dass ein Industriemagnat wie Roman Abramowitsch lieber "einen Londoner Fußballverein kauft", als das Geld in die heimische Wirtschaft zu investieren. Schließlich gewährt Nadeschda Gorlowa noch einen Einblick in die beliebteste Website der Russen. Unter dem russischen Ableger von livejournal versuchen sich "an die zehntausend russische User" als Nachwuchs-Dostojewskis und -Tschechows. Das Forum scheinen "vorwiegend russischsprachige User zu nutzen, die das Schicksal ins Ausland verschlagen hat, was einmal mehr beweist, dass 'Sprache Heimat ist'."

Nouvel Observateur (Frankreich), 24.07.2003

In einem Interview erklärt der ägyptisch-amerikanische Chemiker und Nobelpreisträger Ahmed Zewail, was den Forschritt des wissenschaftlichen Denkens in der arabisch-muslimischen Welt verhindert und welche Wege zu einer Renaissance es geben könnte. Abgesehen davon, dass es keinen singulären benennbaren Grund gebe und mit Verweis auf die "gelehrten Araber", ohne die sich "Entwicklung Europas um 500 Jahre verzögert" hätte", sieht er eine Hauptursache in der Kolonisation, die "per definitionem ein Klassen- und Kastensystems, das einer minoritären Regierungselite gegenübersteht, eingeführt" habe. Nach der Dekolonialisierung und dem Zweiten Weltkrieg, habe sich die islamische Welt "zunächst nach Westen, dann nach Osten orientiert", dabei aber "im Sinne der ökonomischen Entwicklung nicht das mindeste erreicht. Nach dem Ende des Kalten Krieges (...) blieb schließlich nur noch ein Ort, an den man sich wenden konnte: der Himmel."

Im Nachdruck eines weiteren Interviews warnte der Lyriker, Schriftsteller und Dramaturg Kateb Yacine (mehr hier) schon im Jahr 1985 vor dem "Terrorismus einer Staatsreligion".

Das Dossier widmet sich einer angeblich neuen und zerstörerischen Tendenz zu zügel- und tabuloser Sexualität. Der Psychoanalytiker Willy Pasini erläutert anhand von Erfahrungen aus seiner Praxis, inwiefern die sexuelle Revolution "sämtliche Ketten gesprengt" habe, und der Philosophiedozent Dominique Folscheid gibt Auskunft über "herzlose Körper und körperlose Herzen."

Weitere Artikel: Bücherklau ist offensichtlich Volkssport in Frankreich. Ein kleiner Text informiert über das aktuelle Ausmaß und die Lieblingsobjekte der Klauerei - und deren Wandel. "Viele Buchhändler erinnern sich an die finsteren Jahre nach dem Mai 68: 'Da herrschte im anarchistischen Milieu oder in den sozialwissenschaftlichen und experimentalsoziologischen Fakultäten wie Vincennes ein Geist der Libertinage, der sich zum Diebstahl bekannte' (...) Im Visier standen ausnahmslos Bücher, die sich mit dem Situationismus beschäftigten." In der Reihe über Familiendynastien geht es in dieser Woche um den Picasso-Clan, und in der Serie über kleine Museen in der Provinz wird auf zwei Meisterwerke von Georges de la Tour hingewiesen, die in seiner Geburtsstadt Vic-sur-Seille hängen.

Besprochen werden schließlich der als "außergewöhnlich" gelobte Dokumentarfilm "La machine de mort khmere rouge" (mehr hier) von Rithy Panh über den kambodschanischen Genozid und der Film "Le cout de la vie" von Philippe Le Guay über unser "inniges Verhältnis" zu Geld.

Prospect (UK), 01.08.2003

Wie problematisch die Zukunft des israelisch-palästinensischen Zweistaatenmodells trotz der Road Map bleibt, berichtet David B. Green aus Jerusalem. Einerseits sei der Verlauf der schon teilweise errichteten Absperrung noch größtenteils ungewiss - es könne durchaus sein, dass sie nicht der "grünen Linie" folge - , andererseits spüren die Palästinenser deutlich, dass diese vermeintliche "Sicherung" einseitig, israelisch, ist. Wer allerdings bei dem Wort "Absperrung" etwa an einen Bretterverschlag denkt, wird eines besseren belehrt: "Zum einen ist die Absperrung weit mehr als ein Gitter oder eine Mauer. Sie ist eher eine Reihe von Hindernissen mit einem elektronischen Gitter in der Mitte, das eine Kommandozentrale in Alarmbereitschaft versetzt, wenn jemand versucht, sie zu durchqueren. Auf der Ostseite wird eine Zufahrtsstraße verlaufen sowie eine pyramidale Stacheldraht-Struktur und ein Graben; auf der Westseite wird es eine Verfolgungsstraße geben, die den Aufspürern erlaubt, zu ermitteln, ob jemand die Absperrung durchquert hat; und es wird eine dritte Straße für Panzerkampfwagen geben, sowie eine weitere Stacheldraht-Pyramide. Das Verteidigungsministerium erklärt, dass die durchschnittliche Breite des Absperrungskomplexes sechzig Meter betragen wird, auf besonders schwierigem Gelände, bis zu hundert Metern."

Weitere Artikel: Alexander Linklater huldigt in einem dichten und sehr menschlichen Porträt einem menschlichen Architekten - Frank Gehry. Adeed und Karen Dawisha liefern eine detaillierte Analyse der derzeitigen politischen Lage im Irak und zeigen sich hoffnungsvoll, was eine demokratische Zukunft angeht. Samuel Brittan nimmt die Pläne der britischen Regierung, jedem neugeborenen Kind ein Startkapital zur Verfügung zu stellen, zum Anlass über Vermögensverteilung und Gesellschaftsentwicklung nachzudenken (dazu gibt es hier Brittans kurzen Essay zum Thema Gleichheit zu lesen). Pat Barker mag großes Talent zur Darstellung älterer Historie besitzen, schreibt Julian Evans, in ihrem jüngsten Roman "Double Vision", der sich mit der Zeitgeschichte beschäftigt, begehe sie jedoch den entscheidenden Fehler die Handlung "von oben" aufzuziehen, vom Allgemeinen, Theoretischen her. Und das entziehe den Figuren und somit dem Roman die Glaubwürdigkeit. Evans hält es da mit E. M. Forster: Figuren dürfen nicht "entworfen", sondern müssen "geschaffen" wirken. Zuletzt verteidigt sich Peter Oborne, Herausgeber des Spectator, gegen die von John Lloyd (in der letzten Ausgabe) hervorgebrachten Anschuldigungen, er habe unehrenvollen Journalismus betrieben.

Nur im Print zu lesen: Misha Glenny prophezeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen, egal wer für die Demokraten startet, und Aidan Foster-Carter stellt sich Nordkoreas Untergang vor.
Archiv: Prospect

Times Literary Supplement (UK), 28.07.2003

Mit dem Ruf des deutschen Expressionismus steht es in Großbritannien offenbar nicht zum besten. Er firmiert dort unter der Rubrik "hysterisches Gekreische", wie wir von Timothy Hyman erfahren. Nun findet in der Royal Academy die erste große Ludwig-Kirchner-Ausstellung überhaupt in London statt und Hyman ist begeistert: "In der Ausstellung sehen wir Kirchner augeregt durch Berlin streifen, vom Bleistift zu Tusche zu Pastell, von Radierung zu Lithografie zu Holzschnitt. Das Gefühl schwankt zwischen Lebenshunger und Angst... Höhepunkt der Schau und Kirchners Meisterwerk ist der 'Potdamer Platz'. Zwei Prostituierte stehen fast lebensgroß auf ihrer grauen Insel - sehr nah und zugleich doch unerreichbar. Am Rande machen sich kleine männlich Figuren auf, den enormen Strom zu durchqueren; die Frauen überragen uns - barbarische Göttinnen, Engel des Todes."

Der amerikanische Autor Edmund White macht sich in einem Essay darüber Gedanken, wie man einen Roman schreibt und welche Rolle die Liebe darin spielen muss. Nach Exkursen zu Benjamin, Barthes und Bovary kommt er zu dem Schluss: "Der fortschrittliche Romancier muss die Natur verbannen und der Geschichte wieder zu ihrem Recht verhelfen. Wir dürfen nicht suggerieren, dass Jungs immer Jungs bleiben, unabhängig von Zeit und Ort, oder dass Liebe ewigen Gesetzen folgt, unbeachtet der sozialen und ökonomischen Umstände. Denn die Liebe ändert sich ständig."

"Liest eigentlich noch jemand Emerson?", fragt Christopher Benfey, der dies zwar tut, aber auch nach zweihundert Jahren nicht sagen kann, ob Ralph Waldo Emerson nun "der Prometheus der amerikanischen Nationalliteratur war oder ihr Polonius". Sudhir Hazareesingh empfiehlt Benoit Peeters "fesselndes" Porträt des Comic-Zeichners Herge, das dessen frühere Nähe zum Faschismus, seine Kollaboration und chauvinistischen Anwandlungen nicht unterschlage und einem trotzdem die Freude an Tim und Struppi nicht nehme.

Economist (UK), 28.07.2003

Frostig steht es um die Beziehungen zwischen Frankreich und Amerika, denn trotz seiner diplomatischer Anstrengungen, den transatlantischen Bruder zu besänftigen, bleibt Frankreichs Überzeugung, in Sachen Irakkrieg das Richtige getan zu haben, deutlich spürbar. Gerade das macht die erneute Zusammenarbeit so schwierig, meint der Economist und warnt Frankreich vor kontraproduktiver Selbstgefälligkeit: "In mancher Hinsicht würden es den Franzosen gefallen, um Hilfe gebeten zu werden, und dadurch die Möglichkeit zu haben, großmütig im Geiste und nützlich in der Praxis zu erscheinen. Aber nicht ohne UN-Mandat. Ob George Bush es fertigbrächte darum zu bitten, geschweige denn einem UN-Banner zuzustimmen, ist eine andere Sache. Frankreichs wirkliches Langzeit-Problem könnte seine Gleichgültigkeit angesichts Amerikas tiefer Gekränktheit sein."

Offiziell besitzt Japan, sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, weder eine "Armee", noch "Panzer", noch "Bomber", sondern arglos klingende "Selbstverteidigungkräfte", "Spezialgefährte" und "Unterstützungsflieger". Doch unter Premier Koizumi, so der Economist, scheint Japan nun die ersten Schritte hin zum längst fälligen internationalen Engagement zu tun.

Weitere Artikel: Zehn Jahre nach dem öffentlichen Aufschrei in Sachen genmanipuliertes Saatgut liefert der Economist einen Überblick über die seither verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse. Ein nicht ganz alltägliches Szenario, so der Economist, trägt sich zur Zeit im US-Bundesstaat Illinois zu, wo der Indo-Amerikaner Chirinjeev Singh Kathuria (mehr hier) sich als republikanischer Senatskandidat bewirbt. Nach den jüngsten Unstimmigkeiten zwischen der BBC und der britischen Regierung bestehen Zweifel, ob der 2006 auslaufende Staatsvertrag mit der BBC unter den bisherigen Bedingungen verlängert wird. Amüsiert hat sich der Economist bei der Lektüre von Pierre Boisards stolzer Kulturgeschichte des Camemberts "Camembert: A National Myth" - : "Der Camembert, eine von Tierorganismen produzierte lebendige Substanz, erinnert uns ständig an den Körper, an den sinnlichen Genuss, an die sexuelle Erfüllung und an alles, was darin verboten ist."

Außerdem erfahren wir, dass es in der Europäischen Kommission an "Verantwortungskultur" fehlt, wer Saddam Husseins tote Söhne Udai und Kusai waren, was es mit der Sadristischen Oppositionsbewegung im Irak auf sich hat, und schließlich dass es mit Disney anders ausgehen könnte als in den Disney-Filmen, wo der in großen Schwierigkeiten steckende Held am Ende triumphiert.

Leider nur im Print zu lesen ist, wie der Selbstmord des britischen Wissenschaftlers David Kelly den Konflikt zwischen der BBC und der britischen Regierung verschärft hat.
Archiv: Economist

Spiegel (Deutschland), 28.07.2003

Ein Artikel zum Untersuchungsbericht des US-Kongresses über Versäumnisse bei amerikanischen und anderen Geheimdiensten vor dem 11. September schildert einige der inkriminierten Pannen im Detail: "Schon lange hatten die Spanier den Madrider Imad Jarkas als militanten Qaida-Mann im Visier gehabt. Sie wussten, dass der im syrischen Aleppo geborene Jarkas Rekruten nach Afghanistan schleuste. Am 6. August 2001 meldete sich bei ihm ein Mann mit dem Namen 'Schakur'. 'Ich bereite einige Dinge vor, die dich erfreuen werden', prahlte der Anrufer. Drei Wochen später rief 'Schakur' erneut an. 'Im Unterricht haben wir das Feld der Luftfahrt erreicht. Wir haben gerade den Hals des Vogels aufgeschlitzt.' Da waren es noch 16 Tage bis zum 11. September. Von dem Telefonat erfuhren US-Behörden erst nach dem Anschlag."

Gunther Latsch und Michael Sontheimer berichten aus Großbritannien, dass die öffentliche Meinung nach dem Selbstmord des Waffenexperten David Kelly inzwischen vor allem einen Schuldigen ausgemacht hat, nämlich Alastair Campbell, seit 1994 engster Mitarbeiter von Tony Blair und Sprecher von Downing Street 10: "Fast zwei Drittel forderten in einer Umfrage, Blairs Kommunikationsdirektor müsse zurücktreten." Wenn Campbell ginge, könnten die Probleme für Blair allerdings erst anfangen: "Denn seit er vor neun Jahren von Blair angeheuert wurde, hat Campbell akribisch und exzessiv Tagebuch geführt. Mit seinen Memoiren, brüstete er sich schon vor einiger Zeit gegenüber seinem Freund, dem Bestseller-Autor Robert Harris, 'werde ich mehr Geld machen, als du mit all deinen Romanen verdient hast'."

Weitere Artikel: Im Interview spricht Bianca Jagger über ihren Kampf für Menschenrechte. Elke Schmitter nimmt amüsiert die Furcht einiger Männer - besonders Herrn Schirrmachers (hier) und Herrn Buchs (hier) - über die angebliche neue Frauenmacht in Kultur und Medien aufs Korn. Nur im Print: Marlene Streeruwitz, das prophezeien wir jetzt einfach mal, ohne ihren Artikel gelesen zu haben, wird diese Ängste jedenfalls gewiss nicht besänftigen. Besprochen werden Norbert Gstreins neuer Roman "Das Handwerk des Tötens" und der Film "Lichter". Der Titel versucht sich diesmal an einer ganz großen und sehr schönen humanistischen These: "Machte erst die Musik den Menschen zum sozialen Wesen?"
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 27.07.2003

Für kurze Zeit war Wired das coolste Magazin der Welt, schreibt Gary Wolf in seinem Abgesang auf den einst hippen Propheten des digitalen Zeitalters. David Carr hat Wolfs "Wired. A Romance" (erstes Kapitel) weniger als eine Liebeserklärung gelesen, denn als "theologische Autopsie einer Religion", die "in weniger als einem Jahrzehnt aufblühte und wieder erlosch". Grundsätzlich sei das Buch des ehemaligen Wired-Redakteurs Wolf eine Biografie von Louis Rossetto (mehr hier), einer "überlebensgroßen Persönlichkeit", der das Magazin zusammen mit Jane Metcalfe 1993 gründete. "Rossetto, einst Anarchist mit einem Business-Master-Diplom aus Columbia, wusste einiges über Revolutionen." Seine Ambitionen waren aber immer größer als seine Finanzen. "Das Magazin wurde schließlich an Conde Nast verkauft, und seine beiden Gründer gingen mit 30 Millionen und einem ziemlich schlechten Nachgeschmack aus der Sache heraus."

Eine der "überzeugendsten wahren Liebesgeschichten der Gegenwart", jubelt Richard Eder über Marianne Wiggins' Roman "The Evidence of Things Unseen" (erstes Kapitel, Audio Lesung). Eder zeigt sich begeistert vom umfassenden Anspruch des Werks und Wiggins' "Leidenschaft, sich in ein gewaltiges Unbekanntes hineinzustürzen, zu suchen, zu fehlen, sich zu erholen und wieder weiterzumachen, und dabei jeden Grashalm auf dem Weg zu bemerken: das scheint mir Kennzeichen für wahre epische Anstrengung zu sein."

Laura Miller empfiehlt das Studium der Werke des britischen Architekten Christopher Alexander (hier sein Musterbaukasten zum Selbstentwerfen von Räumen oder Städten, zu empfehlen sind auch die Informationen über Alexanders Einfluss auf das Studium orientalischer Teppiche). Er verfasse "jene Sorte von Büchern, mit denen jeder ernsthafte Leser sich bisweilen auseinandersetzen sollte: umfangreiche, herausfordernde, grandiose Traktate, die den Leser ermutigen, das eigene Denken auseinanderzunehmen und wieder neu zusammenzusetzen."

Weitere Besprechungen: Besonders gefallen hat Fareed Zakaria an Simon Schamas inhaltlich wie stilistisch gelungener "A History of Britain" der Schluss: ein "brillanter essayistischer Blick" auf das moderne England, durch die Augen von Winston Churchill und George Orwell. Jonathan Wilson lobt Alan Lightman hingegen, dass dieser bei "Reunion" (erstes Kapitel) ganz auf Sepzialeffekte verzichtet hat. Herausgekommen sei ein schlichter, eleganter Roman über die Art, wie wir uns die Vergangenheit zurechtkonstruieren.
Archiv: New York Times