Magazinrundschau
Die Magazinrundschau
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
15.03.2004. Im New York Times Magazine begründet Michael Ignatieff, warum er immer noch für den Irakkrieg ist. Im Espresso wundert sich Adriano Sofri über die Reichen, die glauben, sie seien unsterblich. In Le Monde verteidigt Barbara Spinelli Italiens Justiz gegen die französischen Intellektuellen. Outlook India fragt sich, warum die Chinesen keine indischen Filme gucken. Der New Yorker beschreibt die Gefahren auf der Straße von Kabul nach Kandahar. Keine Angst vor Putin, fordert Viktor Jerofejew im Spiegel. Die New York Review of Books geißelt das Zurechtschneidern von Geheimdienstinformationen.
New York Times (USA), 14.03.2004

Weiteres: Jennifer Senior führt die groß angelegte Reihe über Störenfriede im Haus Saud mit dem Anwalt Ron Motley fort, der prominente Saudis wegen Mithilfe zum Terror vor Gericht bringen will. Ein Special über Männermode präsentiert unter anderem einen Artikel von Cathy Horn, die die Schauen von John Galliano (Video) und Hedi Slimane (Bilder) vergleicht. Und Lynn Hirschberg verabschiedet Gucci.
Die New York Times Book Review: Jayson Blair ist berüchtigt. Der 27-Jährige stürzte die New York Times in eine ihrer schwersten Krisen. Vier Jahre lang konnte er gefälschte und abgekupferte Artikel in einem der renommiertesten Blätter der Welt veröffentlichen, bis er endlich aufflog (hier der Abschlussbericht der internen Untersuchungskommission, mit allen in Frage kommenden Artikeln). "Burning Down My Master's House" hat er seine Bekenntnisse betitelt, und mit der Anerkennung für den treffenden Titel endet auch das Lob, das Jack Shafer für seinen geschassten und "fabulierenden" Ex-Kollegen übrig hat. "Reue ist ein Gericht, dass in diesen Memoiren überhaupt nicht serviert wird. Er hätte gestehen können, aber alles, was er zustande bringt, sind Entschuldigungen. Er macht seine manische Depression für sein Verhalten verantwortlich."
Weitere Artikel: Will Blythe empfiehlt "Little Children" (erstes Kapitel), Tom Perottas "außergewöhnlichen Roman über Ehebruch und Kindserziehung in den Weiten der amerikanischen Vorstadt. "Was ist Perotta Anderes als ein amerikanischer Tschechow, dessen Charaktere sogar in ihrem lächerlichsten Moment von einer leuchtenden humanen Aura gesegnet und erhöht werden?" A.O. Scott lobt Chang-rae Lee, der in "Aloft" (erstes Kapitel hier, eine Lesung zum Anhören hier) das Genre des Vorstadtromans mit der Einwanderererzählung verbindet. Immerhin "sympathisch" findet Brooke Allen schließlich Jeffrey Myers kompakte Biografie (erstes Kapitel) des glamourösen Schriftstellers Somerset Maugham.
Espresso (Italien), 18.03.2004

In Italien startet das weltweit erste Filmfestival, das ausschließlich im Netz stattfindet. Die Jury bildet sich aus den Besuchern der Seite, die mehr als zwanzig Filme auf dem Computermonitor anschauen und bewerten können. Cesare Balbo lehnt sich voller Vorfreude zurück und meint, die Traditionalisten sollten das Niff nicht gleich verdammen. "Diese Seite ist beileibe nicht der Tod des Kinos, vielmehr bedeutet das den Beginn einer neuen Phase in der Kunst des Filmemachens."
Außerdem sieht der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun (mehr) das schwere Erdbeben im Rif-Gebirge im Norden Marokkos als Katalysator der Unzufriedenheit mit dem autoritären Staat. Die Einwohner dieses Landstrichs haben schließlich schon die französischen Kolonialherren gestürzt. Giorgio Bocca vermutet in seiner Antitaliano-Kolumne, dass ein zynischer Berlusconi das Leben der italienischen Soldaten im Irak für schäbige amerikanische Dollars aufs Spiel setzt. Und Eugenio Scalfari rechnet ab mit dem Schlagerfestival von San Remo, das mittlerweile keine Minute Zeit noch einen Euro Aufwand mehr wert sei (siehe auch unsere Post aus Neapel).
Le Monde (Frankreich), 15.03.2004
Na gut, Le Monde ist eine Tageszeitung, aber wir behandeln sie heute mal als Magazin, weil wir sonst nicht auf zwei fulminante Artikel hinweisen können, die in der letzten Woche auf den Debattenseiten des führenden Pariser Instituts veröffentlicht wurden. Beide handeln vom Fall Cesare Battisti. Dieser italienische Ex-Terrorist lebt im französischen Exil als Krimiautor. Präsident Francois Mitterrand hatte italienischen Terroristen einst Asyl gewährt. Die heutige Regierung aber will Battisti ausliefern - gegen den Protest der gesamten Pariser Intellektuellenschaft (in Le point etwa begründet Bernard-Henri Levy seine Gegnerschaft zur Auslieferung).
Le Monde veröffentlichte als Antwort zwei Artikel italienischer Intellektueller, einen von Claudio Magris (mehr hier), der vielen ehemaligen Sympthisanten des italienischen Terrorismus heute vorwirft, für Berlusconis Medien zu arbeiten. Und einen umwerfenden Artikel von Barbara Spinelli, der Stampa-Korrespondentin in Paris. Sie verweist darauf, dass Battisti vier Morde zu verantworten hat, zwei in der Planung und zwei als Täter, und dass er zwar in Abwesenheit, aber in einem fairen Prozess mit klaren Beweisen verurteilt worden sei. Sie richtet sich direkt an die französischen Intellektuellen, denen sie vorwirft, die Geschichtsversion der Ex-Terroristen übernommen zu haben, ohne sich über die italienische Realität zu informieren: "Ich bitte Sie, sprechen Sie nicht mehr von Flüchtlingen, sondern von flüchtigen Verurteilten. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Ihre Vision unserer Gerichtsbarkeit jener gleicht, die Berlusconi Tag für Tag zum besten gibt. Auch er spricht von Sondergerichten, wie so viele angebliche Flüchtlinge. Ich nehme an, dass Sie einem ehrlichen und ehrbaren Italien helfen wollen. Nun, Sie helfen ihm nicht. Jenes Italien, das heute von Berlusconi unterminiert wird, kämpft für die Verteidigung der Institutionen, und an erster Stelle der Gerichtsbarkeit."
Le Monde veröffentlichte als Antwort zwei Artikel italienischer Intellektueller, einen von Claudio Magris (mehr hier), der vielen ehemaligen Sympthisanten des italienischen Terrorismus heute vorwirft, für Berlusconis Medien zu arbeiten. Und einen umwerfenden Artikel von Barbara Spinelli, der Stampa-Korrespondentin in Paris. Sie verweist darauf, dass Battisti vier Morde zu verantworten hat, zwei in der Planung und zwei als Täter, und dass er zwar in Abwesenheit, aber in einem fairen Prozess mit klaren Beweisen verurteilt worden sei. Sie richtet sich direkt an die französischen Intellektuellen, denen sie vorwirft, die Geschichtsversion der Ex-Terroristen übernommen zu haben, ohne sich über die italienische Realität zu informieren: "Ich bitte Sie, sprechen Sie nicht mehr von Flüchtlingen, sondern von flüchtigen Verurteilten. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Ihre Vision unserer Gerichtsbarkeit jener gleicht, die Berlusconi Tag für Tag zum besten gibt. Auch er spricht von Sondergerichten, wie so viele angebliche Flüchtlinge. Ich nehme an, dass Sie einem ehrlichen und ehrbaren Italien helfen wollen. Nun, Sie helfen ihm nicht. Jenes Italien, das heute von Berlusconi unterminiert wird, kämpft für die Verteidigung der Institutionen, und an erster Stelle der Gerichtsbarkeit."
Outlook India (Indien), 22.03.2004

Die Titelgeschichte gehört dem Kricket. Manu Joseph konnte es noch nicht wissen, als er seinen Artikel schrieb, aber er ahnte es schon: Das indische Team wird Pakistan im Prestigeduell auf gegnerischem Boden schlagen, und genauso ist es (nach Reaktionsschluss der Print-Ausgabe) gekommen. Der Grund für Josephs Zuversicht: Die unteren Schichten Indiens haben den reichen Söhnen das Spiel aus der Hand genommen und den Charakter der Mannschaft verändert. Geradliniges Spiel, wenig Drumherum, und fertig ist die laut Joseph beste indische Kricket-Mannschaft aller Zeiten. Mehr über das bis zum Schluss spannende Match hier.
Außerdem: Auszüge aus Khushwant Singhs Schlüsselroman "Burial at Sea", der die Liebesaffären von Nehru und seiner Tochter Indira schildert und offenbar solide recherchiert ist.
New Yorker (USA), 22.03.2004

Rebecca Mead berichtet über eine Pressekonferenz, auf der die segensreiche Wirkung von Transzendentaler Meditation auf Kinder und Jungendliche präsentiert wurde. O-Ton eines Teenagers: "TM macht meinen Kopf klarer, deshalb kann ich jetzt auch jede Menge Hausaufgaben machen - wenn es sein muss, fünf Stunden lang". (Offenbar verlangsamt TM die Hirntätigkeit.) Anlässlich einer Lesung porträtiert Dana Goodyear die Lyrikerin Jane Mayhall (Bibliografie und Besprechungen hier). Und Alice Munro schrieb die Erzählung "Passion".
Besprochen werden zwei Publikationen, die anlässlich des 100. Geburtstags des Times Square die Stadt- und Sozialgeschichte seiner Entstehung aufarbeiten. Peter Schjeldahl lobt die Whitney Biennale als "ernstzunehmender und vergnüglicher als alle, wahrscheinlich sogar die Kuratoren, erwartet haben". Alex Ross beschäftigt sich mit Olivier Messiaens "Quartett auf das Ende der Zeit", das dieser 1940 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager komponiert hatte, und bespricht eine aktuelle Aufführung des Werks durch das Metropolitan Opera Orchestra. Und Anthony Lane sah im Kino Michel Gondrys Film "Eternal Sunshine of the Spotless Mind" mit Jim Carrey und Kate Winslet.
Nur in der Printausgabe: Eine Reportage über die Wiederbelebung der Drag Queen-Tradition in Omaha und Lyrik von Linda Gregg und Galway Kinnell.
Spiegel (Deutschland), 15.03.2004

Markus Feldenkirchen hat Horst Köhler bei seinen ersten Terminen begleitet, und einen schwer einschätzbaren Kandidaten erlebt - über den eigentlich nur die FDP sich richtig freut: "'Wir waren immer der Meinung, dass er eher zu uns passt als zur Union', sagt ein Spitzenliberaler und prophezeit: 'Die werden noch Spaß kriegen mit ihrem Präsidenten.'"
Nur im Print: Ein Interview mit Golo Manns Schwiegertochter Ingrid Beck-Mann über Querelen in der berühmten Familie. Ein Gespräch mit Salomon Korn über Judenfeindlichkeit in Deutschland. Ein Interview mit dem Kurdenführer Massud Barsani "über die provisorische Verfassung, die geplanten Wahlen und den Traum vom eigenen Staat". Und Heinrich August Winkler lieferte eine ausführliche Besprechung des ersten Bandes von Richard J. Evans' auf drei Bände angelegter Studie über "Das Dritte Reich".
Der Titel ist dem Terroranschlag in Madrid gewidmet. Ein Artikel ist ausnahmsweise frei zugänglich: Erich Wiedemann berichtet aus der baskischen Metropole San Sebastian: "Die Frau im Kiosk neben dem Hotel 'Maria Christina' hat erlebt, wie ein Mann in Tränen ausbrach, als er seine Zeitung bei ihr kaufte. 'Ich kenne ihn gut, er ist ein Freund der Eta, aber das hier war für ihn zu viel.' Die Zeitungsfrau klopft mit dem Handrücken auf das Titelbild von El Mundo, das zwei zerfetzte Leute zeigt. Die monströse Dimension des Verbrechens liegt auch für kleine Terrorsympathisanten, die daran glauben, dass der unabhängige Baskenstaat herbeigebombt gehört, weit jenseits ihrer Toleranzgrenze."
Times Literary Supplement (UK), 12.03.2004

Weiteres: Marjorie Perloff rühmt D. H. Lawrences (mehr hier) "Studies in Classic American Literature" und legt den Universitäten nahe, "The Norton Anthology of American Literature" durch Lawrences Essays zu ersetzten. Dann nämlich würden ihre Studenten nicht nur umgehend aufhören, angesichts der obligatorischen Klassikerlektüren zu "gähnen", sondern auch lernen, "dass Schriftsteller weder notwendig noch auch nur wahrscheinlich 'nette' Menschen mit den 'richtigen' Ideen über Sex, Religion und Politik sind ..."
Besprochen werden außerdem der Erzählband "The Lemon Table" von Julian Barnes (der "fesche Clown" der britischen Literatur, wie Robert MacFarlane spöttelt), James Sharpe's Biografie des Straßenräubers "Dick Turpin" und Richard Haymanns Studie "Trees, Woodland and Western Civilisation".
Economist (UK), 12.03.2004

Weitere Artikel: Skandalös nennt der Economist im Aufmacher die globale Ungleichheit. Ökonomischen Ungerechtigkeit sei allerdings nicht daran schuld. Gefallen haben ihm zwei Bücher über C.G. Jung, die sehr verschiedene Perspektiven bieten: Während sich Deirdre Bair in "Jung: A Biography" mit den dunklen Punkten seiner Biografie beschäftigt, stellt Sonu Shamdasani in "Jung and the Making of Modern Psychology" Schriften aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen zu einer Art intellektuellem Panorama des Schweizer Psychologen zusammen.
Und Neues aus der Forschung: Der Economist berichtet von neuen Studien, die der weiblichen Langlebigkeit eine neue, generationenübergreifende Interpretation geben (je länger eine Frau lebt, desto mehr Enkelkinder kommen zur Welt). Schließlich wird der kürzlich verstorbenen Lady Virginia Twisleton-Wykeham-Fiennes, der Ehefrau des rastlosen Forschungsreisenden Sir Ranulph Fiennes, gehuldigt, ohne deren unglaubliches Organisationstalent wohl keine einzige Expedition je das Licht der Welt erblickt hätte.
New York Review of Books (USA), 25.03.2004
Brian Urquhart (mehr hier) hat zwei entscheidende Dokumente zum Irakkrieg gelesen: Hans Blix' Erinnerungen "Disarming Iraq" und den Hutton-Bericht zum Tod des Waffenexperten David Kelly. Mehr oder weniger explizit kommen beide seiner Meinung nach zu dem gleichen Ergebnis: Die Geheimdienste haben genau das getan, was von ihnen erwartet wurde. Und das sei das Problem. "In Kriegszeiten sind nachrichtendienstliche Erkenntnisse eine Angelegenheit von Leben und Tod und deshalb normalerweise immun gegen Politik. Sie dürfen manchmal falsch sein, aber niemals aus politischen Gründen manipuliert ... Die Schuld an der fragwürdigen Kriegsbegründung auf die Geheimdienste zu schieben, wird nicht von der Tatsache ablenken, dass die Entscheidung in erster Linie ein politische war. Wenn wir uns also, wie der Präsident unterstellt, immer noch in einer Kriegssituation befinden, werden Geheimdienstinformationen noch einmal für politische Zwecke zurechtgeschneidert?"
Weitere Artikel: Worte des Bedauerns findet Michael Chabon für Philip Pullman (mehr hier) und andere Autoren fantastischer Literatur: "Sie können einem Leid tun, all die Abenteurer und Autoren von Jugendliteratur, die ihren Weg durch das Grenzland zwischen den Welten machen wollen. Schlimmstenfalls ist es ein unsichtbarer Ort, bestenfalls ein ungastlicher." Emma Rothschild erinnert daran, dass die USA ihre Entstehung dem Niedergang gleich zweier Empires verdanken, des britischen und des französischen.
"Ein kurzes Buch mit wunderbaren Geschichten über die menschliche Dummheit, die als Wissenschaft verkleidet daherkommt", feiert Freman J. Dyson: "Debunked!", ein Buch von Georges Charpak und Henri Broch, lüfte die Geheimnisse der Telepathie, erkläre erstaunliche Zufälle und informiere über Littlewoods Gesetz der Wunder. Außerdem besprochen werden John Flenleys und Paul Bahns Band "The Enigmas of Easter Island", in dem die beiden behaupten, dass es Bäume aus den Osterinseln gegeben hat. Und Jonathan Millers Inszenierung des "King Lear" im Vivian Beaumont Theater in New York.
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