Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.04.2004. In Atlantic Monthly grübelt Robert D. Kaplan über die Farbe seiner neuen schusssicheren Weste. Die Literaturnaja Gazeta feiert Peter Stein. Max Rodenbeck sucht in der New York Review of Books den islamischen Luther. Im Nouvel Obs stellt Jacques Derrida die neue Konvulsion-Konversion-Konfession vor. Haaretz genießt palästinensisches Essen. Die London Review beobachtet niedliche Japaner. Outlook India amüsiert sich über die Furcht vor den Ghandi-Nehrus. Im New York Times Magazin fragt Hillary Rodham Clinton ihre amerikanischen Mitbürger: "Now Can We Talk About Health Care?" 

The Atlantic (USA), 01.05.2004

Robert D. Kaplan, der gern von Orten berichtet, an denen viel geschossen wird, geht mit uns shoppen. Auf der Einkaufsliste: eine schusssichere Weste. Neben der Frage nach Gewicht und Material gilt es vor allem die Farbe zu bedenken: "Die Westen, die mich interessierten, gab es in schwarz, braun, graugrün, Wald-Camouflage, Wüsten- und Dreifarben-Camouflage. Schwarz war überall ausverkauft. Braun gefiel mir, weil es mich als Journalisten absetzen würde ohne zu sehr aufzufallen unter den Wüsten-Tarnanzügen der amerikanischen Truppen im Irak und Afghanistan. Wald-Camouflage ist das waldgrüne Muster, dass die US Armee in jedem Theater trägt außer im Mittleren Osten ... Ich mag Wald-Camouflage, aber graugrün wäre eine Alternative, dachte ich. Meine Entscheidung wurde noch kompliziert durch die Marines. Sie tragen Hightech-Tarnanzüge ("digital cammies") mit einem Muster, dass sich von den Wald- und Dreifarben-Mustern der anderen Dienste unterscheidet. Werden sie beleidigt sein, wenn ich wald trage?"

Weitere Artikel: Howell Raines, der Chefredakteur der New York Times, der über den Jayson Blair Skandal (mehr) stolperte, erklärt in einem langen, online leider nur auszugsweise zu lesendem Artikel, wie sich die New York Times - auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen - modernisieren muss. Paul Maslin, persönlicher Meinungsforscher von Howard Dean, erzählt, wie Dean das Rennen gegen John Kerry verlor. Daneben gibt es ein Interview mit Maslin über Deans Wahlkampagne. Christopher Hitchens nimmt Jeffrey Meyers Somerset Maugham-Biografie zum Anlass den britischen Schriftsteller postum als "Conrad in tweeds" zu beleidigen. Und Martha Spaulding stellt den "brillanten Satiriker" John P. Marquand (1893-1960) vor.

Nur im Print: die Idee, ein Flugzeug in einen New Yorker Wolkenkratzer krachen zu lassen, hatte schon Hitler, erzählt Dieter Wulf. In der Reihe "Anarchie auf hoher See" schildert William Langewiesche den Untergang der "Estonia", die 1994 mit mehr als 850 Menschen versank (mehr hier). Außerdem gibt es einen Auszug aus der Biografie "Sarge: The Life and Times of Sargent Shriver" und - nur online - ein Interview mit dem Autor Scott Stossel. Shriver war ein charismatischer und radikaler Demokrat (er hat das Peace Corps gegründet und Johnsons "War on Poverty"-Kampagne unterstützt), hatte aber das Glück und das Pech, mit einer Kennedy verheiratet zu sein, was seine politische Karriere letztendlich entscheidend behinderte, meint Stossel.

Archiv: The Atlantic

Espresso (Italien), 26.04.2004

Mit Tankwagen musste Mel Gibson das Blut an den Set von "Passion" herankarren, vermutet Umberto Eco. "Von der feinen Zurückhaltung der Evangelisten hat dieser Film rein gar nichts, er setzt alles in Szene, was vorher verschwiegen wurde, damit die Gläubigen in stiller Meditation des größten Opfers der Geschichte gedenken konnten. Wo die Evangelisten sich darauf beschränken, dass Jesus gepeitscht wurde, (drei Wörter in Matthäus, Markus und Johannes, keines in Lukas), lässt Gibson ihn zuerst mit Stöcken schlagen, dann mit nagelbesetzten Riemen und schließlich mit Knüppeln, bis er ihn so zugerichtet hat, wie das Publikum von McDonald's sich sein Hackfleisch vorstellt, also wie einen Hamburger, der nicht ganz durch ist."

Schwerpunkt des Heftes ist der Irak. Naomi Klein berichtet von amerikanischen Soldaten, die auf Zivilisten schießen, und räumt Muktada al-Sadr mehr Chancen ein als der Demokratie. Roberto di Caro beschreibt in seiner Aufmacherreportage Sadrs komplizierten und blutigen Weg zur Vorherrschaft im Irak. Als Kontrapunkt übernimmt der Espresso aus der New York Times vom 19. März Donald Rumsfelds höchst offizielle optimistische Lageeinschätzung. Er sieht den Irak als jüngstes Mitglied in einer Reihe demokratisierter Staaten wie Deutschland, Japan und Italien. "Terroristen sind wie Nazis".

Weitere Artikel: Giorgio Bocca findet Italien alles andere als demokratisch und wütet über die vorherrschende Anarchie und die Reichen, die den Staat ausplündern, aber vor allem über die Zivilgesellschaft, die das alles klaglos hinnimmt. Eleonora Attolico schwärmt von den modischen Meisterwerken der römischen Designerin Elsa Schiaparelli, die schon Greta Garbo und Marlene Dietrich zu ihren Kunden zählen durfte. Und Monica Maggi spürt Taschenuhren nach, natürlich keinen gewöhnlichen, sondern gesuchten Exemplaren mit erotischen Intarsien.
Archiv: Espresso

London Review of Books (UK), 15.04.2004

"Cute" - niedlich. So heißt die Mode, die Japans Frauen mit Zöpfchen und umgeschlagenen Söckchen durch die Welt laufen und Japans Männer in bubenhafte Schuluniformen schlüpfen lässt, erklärt uns Kitty Hauser. Doch was hat es mit dem "Cute" auf sich? Ist es das Vorspiegeln einer heilen Welt? Ist es lächerlich? Nicht ganz. "Der Cute-Stil idealisiert das Prä-soziale. In diesem Sinn ist Cute eine Art Rebellion, doch sein Rückzug in die Bilderwelt der Kindheit zeigt, dass es keine andere Alternative zur erwachsenen Welt gibt als eine vorsätzliche Regression zu diesem einzig übriggebliebenen Reich der Freiheit. So gesehen, ist der Cute-Stil trostlos: Er erlaubt keinen Blick nach vorn, weder den Individuen noch der Gesellschaft. In dieser Hinsicht ist er um vieles düsterer als Punk, dessen Energie und Wut Bewegung, wenn nicht sogar soziale Veränderung versprachen. Cute verkleidet seinen Pessimismus und seine politische Trägheit als gewinnende Art."

Insidercharme besitzt auch Jonathan Lethems Rückblick auf seine langjährige Comic-Leidenschaft, die vor allem um Jack Kirby und seine Kultfiguren kreiste. Aber es bleibt nicht beim Insidercharme: In Lethems Comic-Chronik zeigt sich, wie sehr die eigene Geschichte, Comics und Freundschaften zusammenhängen.

Weitere Artikel: Wo bleibt die Liebe? David Wootton hätte es vorgezogen, wenn Laura Gowing in ihrer Studie über die weibliche Nacktheit im England des 17. Jahrhunderts ("Common Bodies") auch die schönen Seiten des Berührens miteinbezogen hätte. Nacktheit hauptsächlich anhand von Prozessakten (etwa Vaterschafts- oder Vergewaltigungsklagen) erforschen zu wollen, so Wootton, liefert ein ähnlich düsteres und verzerrtes Bild wie Weihnachten aus Unfallstatistiken und Bildern aus der Notaufnahme zu erschließen. Paul Farmer überlegt, wer bei der Entmachtung Aristides seine Finger im Spiel gehabt haben könnte. Peter Campbell lobt die in der National Portrait Gallery ausgestellte Auswahl aus der fotografischen Sammlung Tom Phillips vor allem für ihre mysteriösen Fotopostkarten, die den Betrachter zum Geschichtenerzähler machen. Und schließlich reist Thomas Jones in Short Cuts mit Herges Comic-Legende Tim in die entlegenen Krisengebiete dieser Welt.

New York Review of Books (USA), 29.04.2004

Wer alles über den gegenwärtigen Islam und seine Reformierbarkeit erfahren möchte, sollte Max Rodenbecks ausgesprochen lehrreichen Überblick über die wichtigsten Neuerscheinungen zum Thema lesen. Rodenbeck sieht es derzeit, im Jahre 1425 nach islamischer Zeitrechnung, gewaltig gären, und so ist für ihn nicht die Frage, ob der Islam reformierbar ist, sondern wer es macht. "Die Vorstellung von einem islamischen Staat zum Beispiel, ist zu einem Prüfstein für all die Bewegungen geworden, die den Islam zur zentralen politischen Identität machen wollen, wie die ägyptische Muslimbruderschaft oder Ayatollahs Khomeinis Anhänger im Iran. Aber wie Carl Ernst in 'Following Muhammad' zeigt, seinem, gedankenreichen und fein ausbalancierten Buch über den gegenwärtigen Islam, beantwortet der bloße Gebrauch eines Labels nicht die Frage, ob der Islam den Staat oder der Staat den Islam definieren wird."

Edward R.F. Sheehan schildert in einer langen Reportage aus den palästinensischen Gebieten, wie die dortige Bevölkerung zusehends auseinander fällt: "Der Zusammenbruch ziviler und sozialer Dienste, den ich in Nablus sah, ist mal in schwächerem, mal in stärkeren Ausmaß auch in Dschenin, Tulkarem, Kalkilia, Hebron und dem Gazastreifen zu beobachten. Der palästinensische Menschenrechtsaktivist Bassam Eid schrieb kürzlich in Haaretz über die wie er sie nannte- "Herrschaft der Gauner". Er beklagte, dass Premierminister Ahmed Kurei, und Innenminister Hakam Balawi nicht einmal für die grundlegende Sicherheit der Palästinenser sorgen können. In Tulkarem, behauptete er, dirigieren und organisieren die Al-Aksa-Brigaden die Ordnung der Stadt. Sie drohen, sie schlagen und sie töten." Sowohl die Sicherheitsdienste als auch die zivile Administration der Palästinensischen Behörden scheinen machtlos. Als einige von Arafats Ministern im letzten Frühling Dschenin besuchten, ohne Nahrungsmittel und Jobs mitzubringen, wurden sie von den Leuten mit Steinen beworfen."

Weitere Artikel: In vergangenen Zeiten hat die CIA Kriege gegen andere Länder geführt, Geheimfonds unterhalten oder versucht, missliebige Staatschefs umzubringen. Im Irak hat ein tausend Mann starkes Team es nicht geschafft, Massenvernichtungswaffen zu finden. Der Laden steckt in einer tiefen Krise, wie Thomas Powers ausführlichst analysiert. Adam Shatz begibt sich auf die Suche nach der libanesischen Hisbollah, dem schiitischen "Staat-im-Staate mit einer Armee von mehreren tausend Mann, einem weitgefächerten sozialen Netzwerk, einem beliebten Satellitenfernsehen mit Namen al-Manar und einem jährlichen Budget von über 100 Millionen Dollar." Timothy Ferris wirft einen Blick in die Zukunft der bemannten Raumfahrt, und Larry McMurty freut sich über Mark Perrys Buch "Grant and Twain", von dessen Untertitel "The Story of a Friendship That Changed America" man sich nicht abschrecken lassen sollte.

Nouvel Observateur (Frankreich), 15.04.2004

Im Debattenteil bringt der Obs Auszüge aus einem Vortrag, den Jacques Derrida (mehr hier) auf einem internationalen Kolloquium der Unesco gehalten hat. Darin kritisiert er das "Welttheater der Entschuldigung (pardon)" und konstatiert eine Zunahme von "Szenen der Reue und Bitte um Vergebung für Verbrechen gegen Menschlichkeit". Über die Vergebung schreibt er: "So rätselhaft die Vergebung im strengen Sinne bleibt, stellt man fest, dass ihr Bühnenbild, ihr Charakter und ihre Sprache, mit denen sie in Szene gesetzt wird, zu einem religiösen Erbe zählen (das wir abrahamitisch nennen können, um den jüdischen, christlichen und islamischen Glauben darunter zu fassen)." Und wenn zum Beispiel Japan um Vergebung für seine im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen bittet, so diagnostiziert Derrida hier die Globalisierung einer christlichen Tradition, eine "virtuell christliche Konvulsion-Konversion-Konfession, einen Prozess der Christianisierung, der keine christliche Kirche mehr braucht".

Ebenfalls im Debattenteil diskutieren Jacques Attali und Alain Minc anlässlich von Mincs jüngster Veröffentlichung - "Les Prophetes du bonheur Une histoire personnelle de la pensee economique" (Auszug) - über die "drei Säulen der ökonomischen Vernunft": Marx, Keynes und Schumpeter.

In einer Art Sammelrezension untersucht Aude Lancelin die Frage, ob man Guy Debord kritisieren darf - schließlich ist der Situationist einer der Säulenheiligen all jener Intellektuellen, die die trotz ihrer Wohlbestalltheit gerne radikal am Bestehenden zweifeln. Zehn Jahre nach dem Selbstmord des Autors von "La societe du spectacle" erscheinen Neuauflagen seiner Schriften - und auch seine Kritiker melden sich wieder zu Wort. Der "kleine Sturm" den ein Pamphlet des Philosophen Frederic Schiffter entfacht hat ("Contre Debord", PUF), belege allerdings "komischerweise, dass 'der gefährlichste Mann im Königreich' heute der am schwersten zu kritisierende Ideologe geworden" sei. Lancelin berichtet, dass einige linke Buchhändler Schiffters Manifest nur unter dem Ladentisch handeln.

Besprochen werden die Korrespondenz zwischen Simone de Beauvoir und ihrem Geliebten Jacques-Laurent Bost, ergänzt um einige Auszüge (Gallimard), eine Neuauflage des Klassikers "Le regle du Jeu" (la Pleiade) von Michel Leiris und eine neue Biografie über Lord Nelson, der Napoleon in der Trafalgarschlacht besiegte. In einem Gespräch mit Catherine Deneuve werden ihre Drehtagebücher vorgestellt, in denen sie ihre Notizen veröffentlicht, die sie während Dreharbeiten im Ausland gemacht hatte: von "The April Fools" von Stuart Rosenberg 1968 über "Tristana" von Luis Bunuel 1970 bis zu "Dancer in the Dark" von Lars von Trier 2000 ("A l'ombre de moi-meme", mehr hier).

Literaturnaja Gazeta (Russland), 14.04.2004

In einem Artikel mit der Überschrift "Die verzauberte Möwe" erklärt Irina Tosunjan, wie es Peter Stein, "dem russischsten unter den deutschen Theaterregisseuren", gelungen ist, die Moskowiter mit seiner modernen Inszenierung von Anton Tchechows "Die Möwe" nachhaltig zu beeindrucken. Steins Einfall, "einen riesigen, fahrbaren Bildschirm mit einem virtuellen See auf der Bühne zu postieren", sei nicht zuletzt auf Grund der "wahrhaft deutschen Präzision des genialen Theatermagiers" genau so "hervorragend" wie die ausgesprochen "eigenwillige Interpretation" eines der weltweit meistgespielten russischen Klassikers. Stein habe sich "den Text Satz für Satz mit Hilfe einer Übersetzerin erschlossen, um den verborgenen Sinn und die Zwischentöne" hinter Tchechows auf den ersten Blick eher wenig spektakulären Stücks zu erspüren. Immerhin, so Stein, seien "die antike Tragödie, Shakespeare und Tchechow die drei Säulen des europäischen Theaters", berichtet Tosunjan beglückt.

Outlook India (Indien), 26.04.2004

Die letzte Ausgabe vor den Wahlen ist entsprechend monothematisch: Outlook liefert die letzten Prognosen (das Wahlbündnis mit der Regierungspartei BJP an der Spitze liegt unangefochten vorn, die Frage ist nur: mit welcher Mehrheit?), begleitet die interessantesten Kandidaten auf Wahlkampftour, betrachtet die Besonderheiten einzelner Bundesstaaten und anderes mehr - hier die Übersicht.

Der Wahlausgang scheint also klar; der traditionsreichen Kongress-Partei gelingt es weiterhin nicht, an ihre frühere Bedeutung anzuknüpfen. Sonia Gandhi, die Witwe des ermordeten Ex-Premiers Rajiv Gandhi, bleibt als Parteiführerin umstritten und weckt als Kandidatin wenig Vertrauen, ihre Kinder Rahul und Priyanka sind zu spät ins Politikkarussell eingestiegen, um bei den anstehenden Wahlen noch etwas bewirken zu können - warum also, fragt sich Saba Naqvi Bhaumik, ist die BJP trotzdem so wenig gelassen, sobald es um die Familie der Gandhi-Nehrus geht? Was sollen die permanenten Anfeindungen gegen die in Italien geborene Sonia und ihre Kinder? "Keinem zufälligen Besucher in Indien könnte man übelnehmen, wenn er Sonia für die Machthaberin und die BJP für die Oppositionspartei hält", schreibt Bhaumik und vermutet, dass die Hindu-Nationalisten weniger Angst vor der Mutter als vor ihren dynamischen Kindern haben, den zukünftigen politischen Kontrahenten. Der populistische Schuss unter die Gürtellinie könnte auch nach hinten losgehen!

Das letzte Wort zu den Wahlen fällt einem Ausländer zu, dem Südasien-Korrespondenten der Financial Times Edward Luce. Er macht sich Gedanken darüber, wie man über das indische Wahlspektakel berichten kann, ohne auf Klischees zurückzugreifen oder in der Masse an Perspektiven den Überblick zu verlieren. Sein Vorschlag: Mut zur Vogelperspektive.
Archiv: Outlook India

Economist (UK), 16.04.2004

Entweder sie sind blind oder arrogant, meint der Economist, jedenfalls scheinen die allmächtigen Werbefirmen noch nicht erkannt zu haben, welche Bedrohung von den sogenannte "persönlichen Videorecordern" (PVR) für sie ausgeht. Denn diese neue Generation von Geräten erlaubt den Fernsehzuschauern, die gewünschten Serien zur gewünschten Zeit zu sehen, und dabei die Werbeblöcke schnell zu überspringen. "Bislang würden nur wenige Medien- und Werbe-Chefs öffentlich zugeben, dass ein großes Problem auf sie zukommt. Wie auch Irwin Gottlieb, Chef-Manager von Group M (?) einräumt, sind die Werbe-Flucht-Statistiken der PVR-Nutzer alarmierend. Gleichzeitig ist er der Meinung, dass die Masse der Zuschauer sich auch weiterhin eher zurücklehnen und passiv das konsumieren wird, was ihnen vorgesetzt wird, so wie sie es jetzt tun. Eigentlich überspringen die Zuschauer ja schon immer die Werbung - indem sie den Raum verlassen, den Sender wechseln oder ähnliches. Persönliche Videorecorder werden die Werbe-Flucht nur offensichtlicher und messbarer machen - wirklich ändern wird sich wenig. Eine weitere, verzweifelte Hoffnung mancher Werbefirmen ist, dass die Zuschauer der Werbung sogar beim Vorspulen ausgesetzt sein werden, weil sie hinsehen müssen, um den Moment abzupassen, an dem sie 'play' drücken."

Wer braucht noch Mel Gibson, wenn es "Left Behind" gibt? Der Economist stellt die christlich-apokalyptische Bestseller-Serie vor, die im amerikanischen Süden Furore macht. Deren Thema hört sich für den Economist stark nach christlicher Horrorfantasie an: "die Welt nach dem Raub (für die Nicht-Gottgefälligen: der Moment, in dem Gott die Gottgefälligen zu sich nimmt und den Rest von uns dem Satan überlässt)".

Weitere Artikel: Indien braucht eine AIDS-Politik, doch dazu müsste man natürlich über Sex reden, meint der Economist und wundert sich, wie prüde das Land des Kamasutra eigentlich ist. Ansonsten findet der Economist die Parlamentswahlen in Indien vergleichsweise unaufgeregt. "Wir haben es euch ja gesagt", lautet der Tenor aus der arabischen Welt angesichts der schiitischen Aufstände im Irak. Der Economist liefert daraufhin ein Panorama der Interessen und Befürchtungen im Nahen Osten. Und schließlich lernt der Economist bei dem Harvard-Professor Howard Gardner, wie man Menschen dazu bringt, ihre Meinung zu ändern.

Nur im Print zu lesen: Was Wal-Mart zum erfolgreichen Konzernriesen macht.
Archiv: Economist

Times Literary Supplement (UK), 16.04.2004

Rachel Polonsky schickt einen Brief aus Lutsino, jener idyllischen Siedlung nahe Moskau, in der die verdienten Mitglieder der Akademie der Wissenschaft ihre Datschen bauten. Hier verbrachten Tschechow und Gorki ebenso ihre Sommer wie Andrej Sacharow. "Zunächst wirkte Lutsino auf mich sauber, ein Refugium vom Schmutz der Stadt. Ich liebte die Luft, schlief tief. Jetzt beunruhigt mich seine Geschichte, sein Müll. Im Winter fand ich einige Prawdas im Holzstapel: Reden vom Zwanzigsten Parteitag, Februar 1956. Ich frage mich, was wohl, lebendig oder tot, in den erhabenen Fundamenten der Datschen verborgen ist. Auf dem Dachboden herrscht ein wildes Durcheinander aus alten Wissenschaftsbüchern, dem gesammelten Lenin, nutzlosem Schrott. Wenn der Schnee schmilzt, tauchen Wodkaflaschen und ausgebleichtes Plastik in den Gräben des Ortes auf. Nina und Mariana sagen, dass sie hier ihren Frieden finden. Sie besuchen jeden Tag die Kirche, die kürzlich ein Mafiaboss aus Swenigorod nach dem Tod seines Sohnes wiederaufbauen ließ."

Roy Foster versinkt im faszinierend-dramatischen Leben der Iseult Gonne, deren Briefe an W. B. Yeat, den Liebhaber ihrer Mutter, und Ezra Pound er schier verschlungen hat. "Endlich kann ich wie ein Mensch leben", soll Nero gesagt haben, als seine megalomanische, 300 Morgen umfassenden Palastanlage in Rom bezog: Mary Beard stellt eine Reihe von Büchern vor, die sich mit dem "Goldenen Haus" und weiteren architektonischen Revolutionen im alten Rom beschäftigen. Peter Stothard empfiehlt allen Besuchern der Olympischen Spiele Sofka Zinovieffs Führer durchs neue Athen "Eurydice Street".

Haaretz (Israel), 16.04.2004

Zunächst zwei kulinarische Berichte: Haim Handwerker erklärt ausführlich, warum die im Nahen Osten gern verspeiste Kichererbsenpaste Humus in den USA immer beliebter wird, und Gadi Shimshon stellt unter dem Titel "Make Halva, Not War!" den Schriftsteller und Computerexperten Eli Swed vor, dessen Firma Heke arabische Produkte aus der Westbank nach Israel importiert, und der sagt: "Es geht mir nicht um Frieden - sondern um Genuss." Arabisches Essen ist seiner Meinung nach einfach besser als israelisches. Ganz oben auf seiner Liste stehen Tahine aus Nablus, Olivenöl aus Meskha, Kuchen und Gebäck aus Ost-Jerusalem und Sesambretzeln aus Beit Hanina.

In der Titelgeschichte des Magazins der israelischen Tageszeitung Haaretz betrachtet Aviv Lavie die "separation fence intifada", die sich gegen den israelischen Bau des Trennzauns auf palästinensischem Gebiet richtet. Obwohl dieser Widerstand gewaltfrei ausgetragen wird, geht die israelische Armee immer wieder hart gegen die Demonstranten vor. Dennoch könnte der gewaltfreie Protest ein Vorbild sein für eine neue Form des Widerstandes gegen die Besatzung, meint Lavie. Auch viele israelische Friedensaktivisten glauben an die politische Macht gewaltloser Proteste - und setzen dabei ihr Leben aufs Spiel.

Weitere Artikel: Aviva Lori erzählt die ergreifende Geschichte der Brüder Yitzchak und Dov, die nach sechzig Jahren des Schweigens mit der Schriftstellerin Malka Adler erstmals über den Holocaust und ihr eigenes Überleben sprachen. Weiter gibt es ein Porträt des israelischstämmigen Filmkritikers Emanuel Levy, der seit den siebziger Jahren in den USA lebt und nun ein Buch über die Geschichte der Oscar-Verleihung ("All About Oscar") veröffentlicht hat, sowie einen Artikel über ein von Abraham Kandel geleitetes Institut in Florida, das sich mit der Abwehr von terroristischen Aktivitäten im Internet beschäftigt (leider funktioniert die Homepage nicht).

Nur in der hebräischen Online-Ausgabe: "Über Politik, Triebe und menschliche Gefühle" - Eine Politfarce um den Aufstieg einer Provinzrichterin aus Petach Tikva und ein Porträt des exzentrischen Lazy Gordon, Sportkommentator und ehemaliger Basketballprofi (mehr hier).
Archiv: Haaretz

Moskowskije Novosti (Russland), 16.04.2004

In dieser Woche veröffentlicht Moskowskije Novosti einen sehr aufschlussreichen Artikel von Tatjana Andriasowa über die Finanzstreitigkeiten hinter den Kulissen des 1998 eröffneten Nabokov-Museums in Sankt Petersburg. Der Immobilienausschuss der Sankt Petersburger Stadtverwaltung hat die gemeinnützige Einrichtung auf "Mietrückstände in Höhe von 20.000 Dollar" verklagt. Der Prozess beginnt am 19. April, kurz vor der Eröffnung einer von Dmitri Nabokov, Vladimir Nabokovs einzigem Sohn, in Genf anberaumten Auktion zur Versteigerung eines Teils der "Nabokov-Familienbibliothek". Das kann kein Zufall sein. Dmitri Nabokov vermutet "hausgemachte bürokratische Verzögerungen und inkompetente, korrupte Kulturbeamte" hinter dem "Komplott zur Erpressung einer hübschen Summe" für die Sanierung des im Verfall begriffenen Jugendstilgemäuers an der "Bolschaja Morskaja Uliza", in dem Vladimir Nabokov 18 Jahre seines Lebens verbrachte.

El Cultural (Spanien), 15.04.2004

Knapp ein Monat nach der Veröffentlichung in Portugal erscheint das neue Buch von Jose Saramago, "Ensaio sobre a lucidez" (Essay über die Klarheit) nun auch auf Spanisch. Der Literatur-Nobelpreisträger malt sich aus, was passieren würde, wenn bei einer Wahl alle Bürger plötzlich leere Stimmzettel abgäben. "Wir leben in einer Schein-Demokratie, in der sich die politische der wirtschaftlichen Macht unterordnet oder einfach nur ihre Komplizin ist, während der resignierte Bürger sich auf seine Rolle als Wähler beschränkt", erklärt Saramago in einem Interview mit El Cultural, der Kulturbeilage der spanischen Tageszeitung El Mundo. Mit seinem Buch trete er allerdings keineswegs für leere Stimmzettel ein. "Ich zeige nur eine Möglichkeit auf und beschreibe die Konsequenzen". Alles andere stünde dem strammen Kommunisten auch nicht gut zu Gesicht: immerhin ist er Kandidat eines Linskbündnisses für die anstehenden Europawahlen.

Norberto Fuentes dürfte mit Saramagos Parolen nur wenig anfangen können. Der seit 1991 im US-amerikanischen Exil lebende kubanische Schriftsteller - vom Spiegel einmal "Rächer der Erschossenen" genannt- hat ein bemerkenswertes Projekt in Angriff genommen: so zu tun, als sei er Fidel Castro, der seine Memoiren schreibt. Der erste Band dieser fiktiven Erinnerungen erscheint nun in Spanien, und El Cultural veröffentlicht Auszüge: "Meine Feinseligkeit gegenüber den USA wurzelt tief in meiner Psyche. Erstens war mein Vater Soldat unter Valeriano Weyler, und schon der litt an einem tiefen Ressentiment wegen der Niederlage Spaniens gegen die USA ..."

Interessanter ist "Der siebte Tag", der neue Film von Spaniens Regie-Altmeister und Fotograf Carlos Saura. Es geht um eine wahre Begebenheit in einem kleinen Ort in Extremadura, Puerto Hurraco: eine Familienfehde, die 1990 in einem wahren Massaker endete und neun Tote und zwölf Verletzte hinterließ. Ursache waren anscheinend Streitigkeiten um Landbesitz. "Alles Übel und alle Kriege wurzeln in Territorialkonflikten... es gibt da etwas Tierisches im Menschen", meint Saura im Interview. Das Drehbuch schrieb übrigens einer der erfolgreichsten jüngeren Schriftsteller Spaniens, Ray Loriga.

Eine weitere frei zugängliche Beilage von El Mundo ist die sonntags erscheinende "Cronica". Hier werden noch einmal die Terroranschläge des 11. März analysiert. Lesenswert (wenngleich, wie häufig in dieser Zeitung, etwas reißerisch) sind etwa das Tagebuch einer Marrokanerin über den seitdem wachsenden Rassismus im Einwandererviertel Lavapies in Madrid sowie ein Besuch in Marokko bei der Familie eines der vermeintlichen Terroristen.
Archiv: El Cultural

Spiegel (Deutschland), 19.04.2004

"Deutscher Platzhirsch oder Global Player - das ist die Alternative", vor der der Springer Verlag derzeit steht, schreibt Frank Hornig. Den Traum vom Global Player könnte sich Springer mit dem Kauf des britischen Daily Telegraph erfüllen. An Geld werde der Kauf des Telegraph wohl nicht scheitern, denn 2003 schrieb Springer wieder schwarze Zahlen und erzielte sogar das "dritthöchste Ergebnis seiner Geschichte". Inhaltlich könnte die Zusammenarbeit schwieriger werden, meint Hornig, denn die Londoner Kollegen berichten am liebsten "über die 'drei europäischen Tugenden': 'Amtsmissbrauch, Bürokratie, üble Tricksereien'." Der erste Grundsatz der Springerschen Unternehmensverfassung fordere dagegen "von allen Konzern-Schreibern das 'unbedingte Eintreten für die Förderung der Einigungsbemühungen der Völker Europas'".

Weitere Artikel: Henryk M. Broder war auf des Kanzlers Geburtstagsparty. Und weiß, was die Mutter über das Geburtstagskind sagte: "Er war sehr fleißig und wollte immer was werden. Und das hat er jetzt geschafft." Dagegen lautet die erste Frage im Interview mit der Sängerin Andrea Corr: "Ms Corr, Sie und Ihre drei Geschwister werden von den Managern der Musikindustrie bestaunt als glänzender Millionenerfolg in Zeiten der schlimmsten Krise seit Beginn der Popmusik. Wie schaffen Sie das?" Hans-Jürgen Schlamp stellt Oriana Fallacis neuestes Buch "La Forza della Ragione" vor.

Der Titel fragt, ob der Irakkrieg ein zweites Vietnam für Ameria wird.
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 18.04.2004

Das bisher intimste Porträt von Stalin hat der britische Journalist Simon Sebag Montefiore mit "Stalin. The Court of the Red Tsar" (erstes Kapitel) vorgelegt, lobt Richard Pipes. Sebag sehe Stalin als "superintelligenten und begabten Politiker, der seine historische Rolle über alles stellte, ein nervöser Intellektueller, der manisch Geschichte und Literatur las, und ein zappeliger Hypochonder, der an chronischer Tonsillitis, Psoriasis und Rheuma litt. Dieser einsame und unglückliche Mann ruinierte jede Liebe und Freundschaft seines Lebens, indem er sein Glück politischen Zwängen oder seiner kannibalistischen Paranoia opferte. Er glaubte, die Lösung für jedes menschliche Problem sei der Tod." So ganz kann Pipes, selbst Professor der Geschichte, Stalin doch nicht als Intellektuellen akzeptieren, trotzdem kommt an dieser sorgfältig zusammengetragenen und lebhaft präsentierten Biografie in Zukunft keiner mehr vorbei, glaubt er.

Die Politik der USA gegenüber Saudi-Arabien wurde maßgeblich von den finanziellen Beziehungen der Bush-Familie zum saudischen Königshaus geprägt, behauptet Craig Unger in "House of Bush, House of Saud". "Er klebt sogar ein Preisschild auf die saudischen Zuwendungen an die Familie Bush: erschütternde 1.476 Milliarden Dollar, in einem Zeitraum von 30 Jahren, als Geschenke an mit den Bushs verbundene Wohltätigkeitsorganisationen und als Investitionen in die familieneigenen Unternehmen." Jonathan D. Teppermann nimmt das alles recht ruhig zur Kenntnis und gibt durchaus zu, dass hier "schamlos" geschachert wurde. Das verschwörungslastige Buch insgesamt aber scheint ihm beizeiten "an der Grenze zur Selbstparodie".

Weitere Artikel: Restlos begeistert ist Ted Conover von Edward Conlons "ausufernden, gewitzten, meinungsstarken und wunderschön geschriebenen" Memoiren mit dem etwas pathetischen 'Titel "Blue Blood". Conlons Berichte von seiner Arbeit als Polizist in New York formierten sich zu einem "reichhaltigen ethnografischem Dokument". Daniel Soar empfiehlt "The View from Stalin's Head", den Erstling von Aaron Hamburger, ein Band mit zehn "attraktiven" Kurzgeschichten, die meist in Prag spielen und deren Protagonisten "meistens männlich, meistens Mitte Zwanzig, meistens amerikanisch, meistens schwul und meistens jüdisch" sind.

Das New York Times Magazine ist einem Thema gewidmet, das endgültig aus der politischen Agenda in den USA verschwunden zu sein schien: das Gesundheitssystem. Hillary Rodham Clinton schreibt den Aufmacher und beweist zumindest zu Beginn Selbstironie: "Ich weiß, was Sie jetzt denken. Hillary Clinton und Gesundheitsfürsorge? Gab's schon mal. Hat nichts gebracht."

Melanie Thernstrom beobachtet eine Ärztin, die einen interessanten "narrativen" Diagnoseansatz verfolgt. Sie lässt ihre Patienten ausführlich von ihren Leiden erzählen und achtet dabei vor allem auf Satzbau, Zeitwechsel, Subplots und Pausen. Lisa Sanders annonciert die Rückkehr des guten alten Hausdoktors, der die Patienten kennt und persönlich vorbeikommt. Zumindest zu denen, die es sich leisten können.
Archiv: New York Times