Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
24.05.2004. "The Photographs are us", meint Susan Sontag im New York Times Magazine. Das TLS hat einen feuchten Traum. Outlook India gratuliert Sonia Gandhi zum Verzicht auf das Amt des Premiers. Literaturen feiert James Joyce. Haaretz erzählt eine abenteuerliche Geschichte über einen israelischen Kunstmäzen, ein Nietzsche-Manuskript und einen Mord. Der New Yorker wartet vergeblich auf heiße Bouillon an Bord der Queen Mary 2. In der London Review of Books sucht David Simpson vergeblich nach Individualität auf den Fotos von Terroropfern.

New York Times (USA), 23.05.2004

Das New York Times Magazine macht mit einer bilderlosen Seite auf (wie die taz vor einigen Wochen): "The Photographs are us" steht darauf. Im Aufmacher liefert Susan Sontag (mehr) einen Essay zu den Fotos von den Folterungen in Abu Ghraib. Milde ist sie nicht. "Es geht nicht darum, ob eine Mehrheit oder Minderheit der Amerikaner so etwas tut, sondern ob die Art der Politik, die die Regierung verfolgt und die Hierarchien, die sie ausführen, so etwas möglich macht. In diesem Licht gesehen sind wir die Fotografien. Das heißt, sie sind repräsentativ für die fundamentale Korruption jeder ausländischen Besetzung in Verbindung mit der ausgeprägten Politik der Bush-Regierung."

Weitere Artikel: Christopher Caldwell ärgert sich über Michael Maars Enthüllung in der FAZ (mehr hier), dass Nabokovs "Lolita" eine Vorgängerin hatte: "Ob man der Anklage des Plagiats glaubt, hat viel damit zu tun, ob man 'Lolita' für Kunst oder Dreck hält." (Maar, der die Dreifaltigkeit in Nabokov, Mann und Proust sieht, hat eine solche Anklage natürlich niemals erhoben!). Richard Ragan schildert die Stille am ehemaligen Bahnhof des nordkoreanischen Ryongchon, wo vor einem Monat Waggons mit Sprengstoff explodiert sind. Susan Dominus widmet sich einem pikanten Phänomen: "Erstaunlich" viele der Feuerwehrmänner, die an Ground Zero im Einsatz waren, haben ihre Frauen für die Witwen ihrer umgekommenen Kameraden verlassen. Der Schriftsteller und Drehbuchautor Hanif Kureishi erklärt im Interview, wie man einen Film "sexy" macht. Baz Dreisinger annonciert die Rückkehr von "music's misery man" Morrissey. Und Allison Glock porträtiert den Radiomoderator Ryan Seacrest, dem sein Arbeitgeber Fox Television für seine Morgenshow eigens ein 10-Millionen-Dollar-Studio in Los Angeles errichtet hat.

In der New York Times Book Review werden zwei Bücher über Israel vorgestellt: "How Israel Lost" (Auszug) nennt sich Richard Ben Cramers provokative Bilanz, in der er die Fehler Israels gegenüber den Palästinensern aufzählt. "Ignorant und deshalb unerheblich" urteilt Elena Lappin, noch dazu gegen "einen Staat im Krieg". Cramer liefere "eine selbstverliebte Schmährede voller simplifizierender Meinungen, als würde er über einen Teller voller Bagels kiebitzen." (kommt laut Duden aus der Gaunersprache und bedeutet, beim Karten- oder Schachspiel zuschauen). David Horovitz, einst Rabin-Anhänger, beschreibt den alltäglichen Terror, dem er und seine israelischen Mitbürger durch palästinensische Machtpolitiker ausgesetzt sind. "Still Life With Bombers" ist ein "eindringliches" Buch, meint Walter Reich.

Außerdem: "Fesselnd und einnehmend" erzählt Joseph Wilson in "The Politics of Truth" (Leseprobe) über seine Jahre als streitbarer Diplomat der USA, gluckst John W. Dean, besonders beeindruckt hat ihn aber der Teil, als Wilson herausfindet, dass seine Frau eine verdeckte CIA-Agentin ist. Michael Kinsley zollt David Brooks durchaus Respekt für dessen soziologisch angehauchte Charakterstudie der Amerikaner "On Paradise Drive". Weniger lustig findet er die ungenauen Generalisierungen, und spätestens beim kritischen Appell am Ende des Buches erkennt er: "David Brooks ist nicht nur ein Liberaler. Er ist Franzose. J'accuse." Dwight Garner folgt James Kelmans schottischen Antihelden in "You Have to Be Careful in the Land of the Free" recht unwillig durch fast alle Bars Nordamerikas, um schließlich festzustellen: "Dieses Buch braucht mehr Momentum."
Archiv: New York Times

Outlook India (Indien), 31.05.2004

Sind die Inder, die Sonia Gandhi gewählt haben, liberaler als ihre Meinungsmacher? In Outlook India zeigt niemand Bedauern über die Entscheidung Gandhis, auf das Amt des Premiers zu verzichten. Das vorherrschende Gefühl ist Erleichterung. Bhavdeep Kang fühlte sich eher als Theaterbesucher denn als politischer Beobachter, als das Drama des Verzichts seinen Lauf nahm. Und jetzt? Jetzt ist Sonia Gandhi eine Märtyrerin und die zweite Regierungskraft neben dem Premierminister, aber weniger angreifbar. Und die Regierung hat an moralischer Autorität gewonnen. Murali Krishnan hat Informationen zusammengetragen, die zeigen, dass es vielleicht doch ganz profane Sicherheitsbedenken gewesen sein könnten - zumindest scheinen die kürzlichen Drohungen gegen Sonia Gandhi substanziell gewesen zu sein.

Was immer der Grund war - jedenfalls hat Sonias Verzicht sie endlich zu einer echten Inderin gemacht, meint Anupreeta Das. Und Swapan Dasgupta fügt raunend hinzu, sie habe die Spaltung des Landes und die Entwürdigung des wichtigsten politischen Amtes verhindert: "Mit Sonia als Premierministerin wäre Indien mit sich selbst nicht mehr im Reinen gewesen. Es wäre ein Indien in permanentem emotionalem Aufruhr gewesen." Jetzt ist sie zum Glück nur die neue "Mother India". Prem Shankar Jha schließlich begreift Sonias Entscheidung als unverhoffte, weil von einer Christin kommende "Erinnerung an die wahren Stärken des Hinduismus" und verspricht sich den Effekt neuen Vertrauens: "In den vergangenen Tagen wurde das Land von einer stillen Revolution erschüttert. Eine verzweifelte und zynische Öffentlichkeit (...) wurde Zeuge eines einzigartig selbstlosen Akts des Verzichts seitens der Politikerin der Stunde und des Aufstiegs des saubersten Mannes, der je die politische Arena betreten hat, zum Premierminister." Genau, da war doch noch einer, doch inmitten der Würdigungen von Frau Gandhis Grandeur geht er fast unter: Dr. Manmohan Singh, der neue Regierungschef. Alam Srinivas porträtiert ihn als Realpolitiker und Diener verschiedener Herren. Doch was wird er jetzt tun, da er selber führen muss? Nur im Netz: die Transkription eines Interviews, das Arundhati Roy aus Anlass des Regierungswechsels der amerikanischen Sendung "Democracy Now!" gegeben hat.

New York im letzten Jahrhundert hatte Hubert Selby, London in dem davor Charles Dickens, und Bombay? Gregory David Roberts! Hari Menon bespricht, nein besingt "Shantaram", den autobiografischen Roman eines literarischen Neulings, der einmal "Australiens meistgesuchter Mann" war. "Shantaram" hat fast tausend Seiten, aber es mussten ja auch vier Bücher in einem untergebracht werden: eine "packende Abenteuergeschichte", das "akkurate Porträt der Expat-Szene im Indien der Siebziger und Achtziger", dazu die Geschichte der Suche eines Mannes nach den Antworten auf die Fragen des Lebens - aber vor allem das beste englischsprachige Werk über eine der komplexesten Metropolen der Welt. "Nur eine Handvoll Schriftsteller", schreibt Menon hingerissen, "haben es geschafft, das Gefühl für den Puls dieser Stadt mit lyrischen Fähigkeiten zu verknüpfen". Dabei kam Roberts erst mit 28 Jahren nach Bombay - ein Junkie und Schwerverbrecher auf der Flucht vor der australischen Polizei. Was er dann erlebte, davon erzählt dieses Buch und zeichnet dabei ein literarisches Bild der mean streets und ihrem Durcheinander von "Gangstern, Drogen, fanatische Kulten, drei großen Weltreligionen, den verschiedensten Perversionen und exzellentem Essen", versichert Menon.

Ein anderer Artikel, eine andere Stadt: "Falls Sie es nicht wussten - in Indiens Hauptstadt und einigen anderen Städten ist es verboten zu betteln." Sanghamitra Chakraborty erhebt schwere Anklage gegen ein altes Gesetz, dass es den Autoritäten Delhis erlaubt, Armut zum Delikt zu erheben. Denn neunzig Prozent aller Obdachlosen betteln gar nicht, sondern gehen arbeiten. Und das Gesetz sieht vor, dass jeder, der ungepflegt aussieht und keine feste Adresse vorweisen kann, mit Verhaftung rechnen muss. Und einer bis zu zehnjährigen Unterbringung in einem "Heim" - ein Euphemismus für "Gefängnis", hat Chakraborty herausgefunden.
Archiv: Outlook India

Literaturen (Deutschland), 01.06.2004

Der 16. Juni 1904 (der legendäre Tag, an dem "Ulysses" spielt) feiert seinen 100. Geburtstag, und Literaturen gibt James Joyce zu Ehren eine Party (doch leider sind die Online-Leser nicht geladen). Unter anderem fragt Klaus Reichert, warum "Ulysses" ein Schlüsseltext der Moderne ist, Hans Peter Kunisch folgt in Dublin den Spuren Leopold Blooms, und Jan Philipp Reemtsma erklärt, warum Arno Schmidt nicht der deutsche James Joyce ist.

Aus Israel berichtet Tekla Szymanski (homepage) über den Skandal um das Enthüllungsbuch "Checkpoint Syndrome", in dem der 26-jährige Liran Ron-Furers in "derbem, chauvinistischem Soldaten-Jargon" seinen dreijährigen Militärdienst im Gaza-Streifen und seine eigene zunehmende Verrohung schildert: "Ich hatte Angst; ihr habt mich verändert; ich war nicht mehr ich, das war jemand anderer. Ich hab' (dem Palästinenser) kräftig in den Hintern getreten. Alle haben gelacht und gesagt, was ich für ein Schlawiner bin. Ich war glücklich. Wir sind doch eigentlich alle gute Menschen in der Armee; wir sind keine Nazis, denen es gefällt, Arabern weh zu tun. Ich muss mich zusammenreißen. Das Böse in mir darf nicht mehr überhandnehmen."

Weitere Artikel: Im Kriminal watet Franz Schuh bei Leonardo Paduras "Handel der Gefühle" (mehr) in Sozialismus und Depression. Wäre Diderot heute ein Löschkandidat? - In der Netzkarte wagt es Aram Lintzel, am Lack der wegen ihres demokratischen Prinzips sonst so besungenen Online-Enzyklopädie Wikipedia zu kratzen. Und schließlich, was liest Aris Fioretos, Kulturattache an der schwedischen Botschaft in Berlin? Scheinbar nur eins, oder zumindest am liebsten: Katja Lange-Müller.
Archiv: Literaturen

Haaretz (Israel), 21.05.2004

Die Titelgeschichte von Aviv Lavie liest sich wie ein Krimi-Drehbuch. Im Mittelpunkt steht Shaya Yariv, 71-jähriger israelischer Kunstmäzen, Gründer der angesehenen Galerie "Gordon" in Tel Aviv und großer Nietzsche-Verehrer. Von der Echtheit des Nietzsche-Manuskripts "My sister and I" (mehr hier) überzeugt, das gemeinhin als Fälschung eingeschätzt wird, gab Yariv eine hebräische Übersetzung in Auftrag. Aber mit der Arbeit des Übersetzers Eyal Levine, der drei Jahre dafür investierte, war er unzufirieden. Es folgte ein heftiger Streit zwischen Yariv und Levine. Schließlich übersetzte Yarivs Frau Helit das Buch neu. Wenig später wurde sie Opfer eines brutalen Attentats. Wer steckt dahinter? War es Rache? In der Öffentlichkeit kursieren verschiedene Gerüchte, aber Multimillionär Yariv ist ratlos: "Ich habe zwar eine Theorie, die untersucht wird, aber es ist nur eine Theorie. Die Ungewissheit macht mich wahnsinnig."

Weitere Artikel: Bildungsnotstand auch in Israel: Aviva Lori berichtet über neue Versuche, das israelische Bildungssystem zu reformieren, nachdem Israel in der PISA-Studie sogar noch schlechter abgeschnitten hat als Deutschland. Was christliche Pilger in Ekstase (mehr dazu hier) geraten lässt, interessiert in Israel noch lange niemanden: Ein Artikel über die archäologischen Ausgrabungen der antiken Stadt Bethsaida am See Genezareth. Jonathan Yavin verweist darauf, dass die absurde Filmkomödie "Blue-and-White Collar " zumindest in Israel Filmgeschichte schreibt: Als erste Abschlussarbeit eines Filmstudenten, die kommerziell ins Kino kommt. Im wöchentlichen Porträt geht es um die Familie Abu-Zaid, die in einer Beduinensiedlung in der Nähe von Beersheva lebt.
Archiv: Haaretz

New Yorker (USA), 31.05.2004

In einer wunderbaren, historisch wie schiffbautechnisch ausholenden Reportage, berichtet Simon Schama über seine Fahrt auf der Queen Mary 2, die seit vergangenen April auf der legendären Passage Southampton - New York verkehrt. Doch obgleich dort alles "Größe und Vornehmheit" ausstrahlt, bestehen doch entscheidende Unterschiede gegenüber ihren Vorgängern, etwa der "Britannia", meint Schama. "Mitte des 18. Jahrhunderts bestand ein ordentliches Frühstück aus Steak und Haxe", was ihr Betreiber "wohl für einen erfreulicheren Start in den Tag auf wogender See hielt als dünnen Tee, abgestandenen Kaffee und ausgetrocknete Croissants. Und jeder, der sein Leben lang auf den Moment gewartet hat, in dem er in seinem leinenbezogenen Liegestuhl die Lektüre von Anita Loos oder Evelyn Waugh unterbrechen kann, um bei einem Steward eine dampfendheiße Bouillon zu bestellen, wird darauf noch ein bisschen länger warten müssen: Auf der Queen Mary 2, bedaure ich berichten zu müssen, gab es keine Bouillon."

Weiteres: William Finnegan porträtiert den Verfassungsrechtler Barack Obama, der für den Senat kandidiert. Gary Giddins erinnert an die "anhaltende Anziehungskraft" der Musik von Glenn Miller und Fats Waller, die seiner Ansicht nach mehr gemeinsam haben, als man angesichts ihrer offenkundigen Unterschiede meinen könnte. Ben McGrath informiert über Pläne für eine New York City Hall of Fame in Queens, in der ausschließlich in und für New York bedeutende Persönlichkeiten, auch nichtprominente, Einzug halten sollen. Kevin Conley verfolgte die Preisverleihung an das Stuntpersonal von Hollywood. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Secret Goldfish" von David Means.

Besprechungen: Adam Haslett bespricht Publikationen über die Entstehung der modernen Ehe und die Homoehe, die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer Stalin-Biografie. Paul Goldberger kritisiert das neue National World War II Memorial in Washington ("will majestätisch sein, ist aber nur ein zu groß geratener Platz"; Bilder hier). John Lahr bespricht die Theaterstücke "Boy" und "Light Raise the Roof". Und David Denby sah im Kino" die satirische Komödie "Saved!", ein Debüt von Regisseur Brian Dannelly, und Mario Van Peebles' "Baadasssss!" ("anstrengend und bis zur Erschöpfung vergnüglich").

Nur in der Printausgabe: eine Reportage von Jeffrey Goldberg über jüdische Siedler, die durch ihren Glauben, Gott habe sie in die besetzten Gebiete gesandt, Israel zu zerstören drohten, sowie Lyrik von Kathleen Jamie und John Ashbery.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 19.05.2004

Brauchen wir die Bilder der Toten? David Simpson denkt über den Umgang mit diesen Bildern nach und sieht Zusammenhänge zwischen den "Porträts der Trauer", die anlässlich des 11. Septembers in der New York Times abgedruckt wurden, und den Fotos derer, die im Irak gefallen sind. In beiden Fällen, so Simpson, handelt es sich eben nicht um Bilder der Toten, sondern um Bilder der Toten als sie noch lebten - im Fall der "Porträts der Trauer" - oder um Fotos von flaggenumhüllten Särgen im Fall der gefallenen Soldaten. Niemals jedoch gebe es tote Körper in ihrer erschreckenden Individualität zu sehen. "Jedes Gesicht hatte eine Geschichte, und die Geschichten waren fast alle lediglich Versionen ein und derselben Geschichte: Glückliche Menschen, die in ihrem Job aufgingen, Springbrunnen von Liebe und Barmherzigkeit, Stützen ihrer Familie und Gemeinschaft. Die zusammengestellten Miniatur-Biografien erzählten die Geschichte einer blühenden Zivilgesellschaft, in der Rasse, Geschlecht oder wirtschaftliche Lage gleichgültig waren. Jeder unter dem Dach der Twin Towers war glücklich und wurde immer glücklicher ... Die Wirkung dieser mehreren hundert Kurzbiografien war, über alle Details hinweg, ziemlich die gleiche wie die der flaggenumhüllten Särge, eine Wirkung von Gleichförmigkeit und einer sehr begrenzten Spanne von Unterschieden."

James Wood stellt leicht entnervt fest, dass Randall Stevenson in seiner Literaturgeschichte "The Oxford English Literary History, Vol. XII: 1960-2000: The Last of England?" auch noch die kleinste literarische Sardine erwähnt, und so jeder Art von Gewichtung aus dem Weg geht.

Weitere Artikel: Neal Ascherson fördert anhand von drei Biografien ein interessantes und ambivalentes Porträt Wladimir Putins zutage. In den Short Cuts amüsiert sich Thomas Jones über Peregrine Worsthornes Verteidigung der Aristokraten ("In Defence of Aristocracy") gegen die so ungerechten Klischees. Und schließlich findet Paul Myerscough es schwierig, vor Cy Twomblys Gemälden (die zur Zeit in der Londoner Serpentine Gallery ausgestellt sind) selbstsicher zu bleiben.

New York Review of Books (USA), 10.06.2004

Vorweg die Hymne, die The Nation auf die Wiedergeburt der New York Review of Books singt: Der Staub sei weggepustet, schreibt Scott Sherman. "Im Gegensatz zum New Yorker, dessen Chefredakteur David Remnick in einem eigenen Essay vom Februar 2003 den Irakkrieg ausdrücklich unterstützte, oder zum New York Time Magazine, das Michael Ignatieff, Bill Keller, Paul Berman, George Packer und anderen liberalen Falken breiten Raum zugestand, lehnte die Review den Krieg mit einer bemerkenswert konsistenten und einheitlichen Stimme ab." Auf soviel Lorbeeren darf man sich dann auch ruhig mal ausruhen.

Mark Danner hat sich durch die Untersuchungsberichte von General Taguba und dem Internationalen Roten Kreuz gearbeitet, die Aussagen der irakischen Folteropfer gelesen und ist an der Stelle hängen geblieben, an der ein Mitarbeiter des militärischen Geheimdienst schätzt, dass 70 - 90 Prozent der Häftlinge im Irak zu Unrecht einsitzen. Schließlich meint Danner: "Wir müssen die Fotografien klar ins Auge fassen und uns fragen: Hat sich nur geändert, was wir wissen, oder auch das, was wir akzeptieren?"

Weiteres: Nach Lektüre von Bob Woodwards "Plan of Attack" erklärt Brian Urquhart das Jahr 2004 zum Jahr der singenden Insider und die Seite 440 zu seiner Lieblingspassage: "'Heilige Scheiße', sagt Powell zu sich selbst, als er eine Kopie von Tenets Rede las." Wie immer gut unterrichtet liefert Elizabeth Drew ihren Report aus Bushs Wahlkampf-Komitee. Bill Mc Kibben legt ausführlich dar, warum die Regierung Bush keine Umweltpolitik betreibt, sondern "institutionalisierte Korruption".

"E.L. Doctorow ist wütend", stellt John Leonard fest, der unter anderem Doctorows neue Essays "Reporting the Universe" gelesen hat. "Er ist wütend, weil jemand gerade seinem Land antut, was sonst nur Milos Forman mit Doctorows Büchern macht."

Nouvel Observateur (Frankreich), 20.05.2004

Im Debattenteil erhalten zwei miteinander befreundete Journalisten - einer Moslem, der andere Jude - Gelegenheit, einen Streit beizulegen, der nach den Selbstmordanschlägen in Israel in Folge des 11. September zwischen ihnen entstanden war. Es geht unter anderem um die Frage, was ist ein Araber. Hamid Bara, Fernsehjournalist marokkanischer Herkunft, erklärt: "Ich gehöre zum Westen. (...) Das ist ein Glaubensbekenntnis, der Ordnungsbegriff eines politischen Programms, das alle Araber betrifft. (...) Für mich ist der Westen der geometrische Ort der Gesamtheit der universellen Werte, vor allem der drei entscheidenden: Religion, Politik und die Stellung der Frau. Zum Westen zu gehören erfordert, die religiöse Freiheit aller zu garantieren." Der jüdische Journalist Guy Sitbon, der auch als Buchautor bekannt wurde, schreibt unter anderem: "Nicht alle Araber sind Terroristen, aber alle Terroristen sind Araber. (...) Um die Wahrheit zu sagen: die Tunesier und Ägypter sind keine Araber. Die Franzosen leben in Frankreich, die Marokkaner in Marokko und die Araber in Arabien. Algerien ist Algerien und Arabien ist Arabien. Punkt." Die arabisch-islamischen Eliten sollten sich "ein Beispiel an Mandela und Gandhi nehmen und an ihre Völker appellieren, Nationen wie alle anderen zu werden. Ihre Regierungen werden dem folgen."

Im Titeldossier äußert sich Ann Cantat, jüngste Schwester des in Litauen wegen Totschlags an der Schauspielerin Marie Trintignant verurteilten Sängers von "Noir Desir", Bertrand, über den "wahren Cantat". Sie tut dies - erstmals öffentlich - im Vorfeld des Erscheinens eines zweiten Buchs von Nadine Trintignant, Mutter des Opfers, "um ein Gleichgewicht herzustellen".

Anlässlich seiner jüngsten Studie "Le Sens du Progres. Une approche historique et philosophique" (Flammarion) spricht der Philosoph und Politologe Pierre-Andre Taguieff (mehr hier) über die Zukunft der Idee des Fortschritts. Deren gegenwärtige "Erschöpfung" erlaube uns, "die Faszination zu verstehen, die die verschiedenen Formen des islamischen Fundamentalismus ausüben. Der Islamismus funktioniert wie eine Ersatzreligion für eine Art Religionsersatz, welcher die Fortschrittsideologie im Westen war."

Besprochen werden der Essay "Libertad!" von Dan Franck über die Intellektuellen der dreißiger Jahre, die sich gegen den Faschismus stellten (Grasset). Außerdem gibt es einen Hinweis auf einen Dictionnaire, in dem sich 350 zeitgenössische französische Schriftsteller in Selbstauskünften vorstellen (Mille et Une Nuits).

Economist (UK), 21.05.2004

Im Dossier schaut der Economist nach Osten auf Wladimir Putins Russland und versucht zu erkennen, wohin die politische Reise geht. Doch diese Frage, so der Economist, kann man nur beantworten, wenn man verstanden hat, wer der Mann an Russlands Spitze wirklich ist. Wer also ist Wladimir Putin? "Diejenigen, die ihn kennen, beschreiben ihn als einen 'Spiegel-Mann', der oft die Ideen und sogar die Redeweise seines Gegenübers anzunehmen scheint, was nur noch mehr Verwirrung stiftet. Menschenrechts-Aktivisten und Armee-Generäle denken gleichermaßen, dass er auf ihrer Seite steht. Er hält alle Kräfte seiner Regierung im Gleichgewicht und stiftet damit endlose Diskussionen darüber, wen er befürwortet und nicht zuletzt, ob er der Puppenmeister ist oder die Puppe. Er ist außerdem sehr geschickt darin, öffentlichen Tadel auf seine Funktionäre abzuwälzen, so dass er trotz seiner unbeliebten politischen Maßnahmen äußerst beliebt bleibt. Innerhalb der letzten vier Jahre ist sein hauptsächliches Ziel dennoch klarer geworden. Und eigentlich ist es einfach und vernünftig. Er will, dass Russland zu einem starken Land wird: wirtschaftlich mächtig, politisch stabil und international respektiert. Fraglich ist, was diese Ziele ihm bedeuten, fraglich sind auch die Methoden, derer er sich bedient, um sie zu erreichen, und fraglich ist, ob er so mächtig ist wie er scheint."

Weitere Artikel: Der Economist ist begeistert von der Ausstellung "Courtly Art of the Ancient Maya" in der Washingtoner National Art Gallery und findet sie ähnlich revolutionär wie die mittlerweile legendären Ausstellung "Das Blut der Könige", die 1986 mit dem Klischee der pazifistisch-romantischen Maya aufräumte. In der Homo-Ehe sieht der Economist den nächsten amerikanischen Kulturkampf, allerdings mit glücklichem Ausgang, wie er meint, schließlich schockiert die noch vor dreißig Jahren verpönte Mischehe heute auch niemanden mehr.

Neben einem ehrfürchtigen Nachruf auf Clement "Sir Coxsone" Dodd, den Vater des Reggae, ist zu lesen, ob Management-Schulen das Richtige lehren, warum London trotz seiner Olympia-Kandidatur für 2012 nicht sehr olympisch zumute ist, dass Zentralamerika vor einem riesigen Gang-Problem steht, und warum Eltern bei Mädchen-Vornamen erfinderischer sind als bei Jungen-Vornamen.

Leider nur im Print zu lesen ist der Aufmacher, in dem der neue indische Premierminister Manmohan Singh vorgestellt wird (dem auch das wie immer wunderbare Titelbild gewidmet ist, ein Porträt der BBC hier), die Besprechung einer neuen Koran-Übersetzung und schließlich, was der Economist von Horst Köhlers Qualifikationen hält.
Archiv: Economist

Times Literary Supplement (UK), 21.05.2004

Bücher über Tantra sind entweder interessant, aber grottenschlecht, oder gut und langweilig - David Gore Whites "Kiss of the Yogini", versichert Wendy Doniger, "ist eines der wenigen guten und interessanten Bücher über Tantra". Nach Whites Darstellung ist Tantra nicht nur ein "orientalischer feuchter Traum", sondern "ein Ritual, in dem Körperflüssigkeiten - sexuelle oder menstruelle Ausflüsse - als transformative Energiesubstanzen geschluckt werden. Er erzählt, dass Tantra irgendwann zwischen dem sechsten und achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Zentralindien entstanden ist, in einer niederen Schicht der indischen Bevölkerung, die berauschende Getränke und Opfertiere zur Besänftigung furchteinflößender Clan-Gottheiten nutzte. Im neunten oder elften Jahrhundert entwickelte sich dieses Ritual zu einer erotisch-mystischen Praxis, und die Clan-Gottheiten wurden ersetzt durch eine Gruppe von hinreißend schönen, Schrecken erregenden und mächtigen Göttinnen, genannt Yoginis."

Weiteres: Erschüttert ist Carolyne Larrington von den frauenfeindlichen Sprichwörtern, die Mineke Schipper für ihr Buch "Never Marry a Woman With Big Feet" aus aller Welt zusammengetragen hat: "Deine Mutter ist deine Mutter, deine Frau ist nur eine Frau", sagt man etwa auf den niederländischen Antillen, in der arabischen Welt heißt es dagegen "Behandle deine Frau gut, und du kannst auch die deines Nachbarn haben" oder: "Ein Pferd kann sich nicht selbst verkaufen".

Bharat Tandon hält James Kelmans neuen Roman "You Have To Be Careful in the Land of the Free" für einen seiner witzigsten und seinen Helden Jeremiah Brown, der unter post-traumatischem Beziehungsende-Stresssyndrom leidet für einen seiner überzeugendsten, den Roman aber doch nicht für einen seiner besten. Christopher Hawtree wundert sich über den apokalyptischen Ton in Nicholas A. Basbanes' Studie "A Splendor of Letters", mit dem Basbanes seine Trilogie zur Geschichte der Buchkultur abschließt.

Spiegel (Deutschland), 24.05.2004

Nicht ein einziger lesenswerter Artikel online in dieser Woche. Im Print finden wir ein Porträt Franz Münteferings. Matthias Geyer vergleicht ihn mit Erich Ollenhauer, der wie Müntefering aus kleinen Verhältnissen kam und sich nur für die Partei interessierte: "Mit Vorsitzenden wie Brandt, Lafontaine und Schröder hat die SPD nach fremden Milieus gegriffen, es reichte fünfmal für über 40 Prozent. Jetzt liegt sie bei 27 Prozent und kommt nicht vom Fleck. Franz Müntefering ist ein Vorsitzender für das, was von der SPD übrig geblieben ist."

Außerdem: Benjamin Stuckrad-Barre erzählt im Interview, wie das so war mit seiner Drogensucht, und warum er nicht mehr mit Anke Engelke zusammen ist. Der Titel widmet sich dem "Kampf um das Erdöl", der gerade erst begonnen habe.
Archiv: Spiegel