Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.06.2004. In Prospect erklärt Nicolas Sarkozy seinem Präsidenten die Verkehrsregeln. Die New York Review of Books feiert die Lizzie Borden der Literaturkritik. Im Spiegel verteidigt Andre Glucksmann den Irakkrieg. Outlook India entdeckt entzückende Moslems. Der New Yorker hat sich auf die große Dattelpalme des Irak begeben. Palabra warnt vor Chiquita-Bananen. Die New York Times reicht den Hut herum.

Prospect (UK), 01.07.2004

Wer zieht in den Elysee-Palast? Tim King liefert ein sehr interessantes Porträt des französischen Wirtschaftsministers Nicolas Sarkozy, der weder aus einer politischen Dynastie noch aus der ENA-Elite-Kaderschmiede kommt, und doch als heißer Kandidat für die französische Präsidentschaft gilt. "Mit 49 ist er bereit, den höchsten Job zumindest anzuvisieren. Nur dass der Mann, der Frankreich regiert, nicht will, dass er Präsident wird. Und diese Geschichte beherrscht die politischen Kolumnen in Frankreich, so wie Blair gegen Brown die in Großbritannien beherrscht - mit dem Unterschied, dass die Auseinandersetzung in Großbritannien nicht offen ausgetragen wird. Chirac hält ein Referendum über die Europäische Verfassung für überflüssig; Sarkozy, ein amtierender Minister, verkündet, dass ein solches Referendum unabdingbar ist. Chirac ist gewillt, der Türkei die Tür in die EU zu öffnen; Sarkozy schließt sie entschieden. 'Sie haben die gelbe Linie übertreten', warnte ihn der Präsident in einem von der Zeitung Le Canard Enchaine zitierten Gespräch. Darauf Sarkozy: 'Chirac hat noch nicht einmal bemerkt, dass die gelben Straßenlinien seit zehn Jahren weiß sind. Er gehört zu einer anderen Generation.'"

Prospect hat die Top 100 der britischen Intellektuellen ermittelt, und David Herman wertet die Gesamttendenzen aus. Die Verlierer der letzten zehn Jahre: Theoretiker, Linke, Emigrierte, Ökonomen, Philosophen und Theologen. Die Gewinner: Historiker und politische Essayisten. Insgesamt sind sie "sehr mittleren Alters, sehr männlich und sehr weiß". Wer sich die Liste und deren Kriterien (Was ist britisch? Was ist ein Intellektueller?) ansehen möchte, kann dies hier tun.

Weitere Artikel: Ist die Evolution vorbei? Gabrielle Walker hat sich erkundigt nach den vielleicht katastrophalen Folgen unseres zivilisierten und überbehüteten Lebenswandels. Michael Lind behauptet, dass auch 9 Milliarden Erdbewohner auf der Erde gut leben können, und das, ohne die Umwelt zu verkrüppeln. Jonathan Power hat den indischen Premierminister Manmohan Singh getroffen und blickt frohgemut in Indiens Zukunft. Und Jo Tatchell macht uns mit einer neuen literarischen Gattung bekannt, der Diktatoren-Literatur und ihrem aktuellen Aushängeschild Saddam Hussein.
Archiv: Prospect

Palabra (Kolumbien), 16.06.2004

Was ist eigentlich mit den Chiquita-Bananen? Klebt da immer noch das Blut lateinamerikanischer Plantagenarbeiter dran, wie schon in "Hundert Jahre Einsamkeit" nachzulesen und danach in Mittelamerika so oft recherchiert? Darf man die Dinger ohne schlechtes Gewissen essen? Nicht unbedingt, zumindest nicht, wenn auf ihnen Colombia steht, sie also aus Kolumbien kommen, wie eine Recherche von Ignacio Gomez belegt. "Trotz der Existenz einer Reihe unabhängiger Produzenten, kontrolliert dieses Unternehmen praktisch die gesamte Wirtschaft der Region Uraba, ganz ähnlich wie es ihre Vorgängerin United Fruits in den zwanziger Jahren in Cienaga tat", schreibt Kolumbiens profiliertester investigativer Reporter. Mehr noch: der kolumbianische Ableger von Chiquita Brands war in den vergangenen Jahren nicht nur in einen Bestechungsskandal, sondern auch in einen großen Waffenschmuggel für rechtsradikale paramilitärische Gruppen verwickelt, die zudem auch noch 100.000 Dollar Schutzgeld erhielten. Nachdem schon die New Yorker Börsenaufsicht eine Strafe verhängte, ermittelt nun auch das US-amerikanische Justizministerium.

Nachzulesen ist das alles in Palabra, einem gerade in Kolumbien gestarteten Nachrichtenmagazin-Projekt. Kein leichtes Unterfangen in einem Land, in dem sich derzeit nur eine nationale Tageszeitung sowie eine Handvoll Zeitschriften halten können. Um Unterstützung zu finden (mehr dazu hier), wurde erst einmal eine Nullnummer erstellt, die seit dieser Woche auch im Netz zugänglich ist. Offensichtlich ist das Bemühen über ein anderes, nicht-offizielles Kolumbien zu schreiben: unter anderem finden sich dort ein Reisebericht über den Amazonas, Reportagen aus Koka-Anbaugebieten (hier) und paramilitärischen Hochburgen (hier), aber auch Bestandsaufnahmen des kolumbianischen Hip-Hop (hier) sowie der örtlichen Swinger-Clubs (hier).

Aufmachung und Stil sind noch verbesserungswürdig, aber dafür lässt sich sich die Geschichte von Dalton Howard nachlesen, eines liebenswerten siebzigjährigen Mannes, der das Meer hasst, obwohl er sein ganzes Leben auf Old Providence, einer kleinen, Kolumbien zugehörigen Karibikinsel verbracht hat. "Auch kann er nicht fischen, und Boote mag er sowieso nicht", berichtet Cristian Valencia. Wie sich dann herausstellt, ist das durchaus nachzuvollziehen: Dalton Howard war als Kind 1943 mit seiner Mutter auf einem Segelboot unterwegs, als dort -sozusagen am Ende der Welt - ein deutsches U-Boot aufkreuzte und angriff. Er bekam einen Lungenschuss ab, das Segelboot sank.
Archiv: Palabra

Outlook India (Indien), 05.07.2004

Manu Joseph widmet eine seiner wunderbaren Reportagen der kleinen Hindu-Minderheit in Pakistan und bescheinigt ihr religiöses laissez faire (in Karatschi kommt auch schon mal Rind auf den Tisch) und gute Laune. So erzählt er von einer jungen schwangeren Frau, die vor einem Tempel steht und ein paar kichernde muslimische Mädchen wegscheucht, die "nur mal gucken wollen". "Doch dann wendet sie sich um und flüstert lächelnd: 'Eigentlich sind das ja entzückende Menschen, diese Muslime. Wenn's drauf ankommt, sorgen sie für uns bis ans Ende unserer Tage. Pakistan ist mein einziges Zuhause - aber wir können doch schließlich keine Muslime in den Tempel lassen.'"

In der anhaltenden Debatte um den Säkularismus und die indische Gesellschaft feuert der Oxford-Professor Sanjay Subrahmanyan eine Breitseite auf Ashis Nandy ab, der vergangene Woche den Säkularismus als europäischen Import aus einer Zeit der Kriege und Pogrome abgetan hatte, um im Gegenzug auf indigene, hinduistische Traditionen religiöser Toleranz zu verweisen. Wovon spricht er, fragt Subrahmanyan und klärt darüber auf, dass in Europa Säkularismus als staatspolitisches Prinzip praktisch keine Rolle spielt. Nandy bastle sich sein Europa als Anti-Indien zurecht und habe schlichtweg keine Ahnung von Geschichte - europäischer oder indischer. Und was die einheimischen Traditionen religiöser Toleranz angehe - die gebe es durchaus, allerdings komme man ihnen nicht mit romantisierendem "Zuckerwatte"-Geschwätz auf die Spur. (Auf der Seite befinden sich Links zu allen vorangegangenen Diskussionsbeiträgen).

Weitere Artikel: Ishita Moitra beobachtet einen Aufschwung des indischen Animationsfilms, bisher ein unbedeutendes Genre. Und V. Sudarshan ist enttäuscht von Bill Clintons Memoiren (zu viel Offizielles, zu wenig Offenheit).
Archiv: Outlook India

Spiegel (Deutschland), 28.06.2004

Andre Glucksmann verteidigt im Interview - leider nicht online - seine Unterstützung des Irakkriegs - trotz der Folter in Abu Ghraib: "Folter ist moralisch unerträglich, politisch kontraproduktiv, strategisch absurd und menschlich verabscheuenswert. Es handelt sich um Verbrechen, die ohne Einschränkung zu verurteilen sind. Ich bin dabei logisch mit mir im Reinen, da ich den Einmarsch der USA im Namen der Menschenrechte gutgeheißen habe und keineswegs um der fabelhaften Gründe willen, die offiziell vorgeschoben wurden. Viele, die jetzt laut gegen Amerikas Rückfall in die Barbarei schreien, haben zu Saddam Husseins viel schlimmeren Foltermethoden geschwiegen oder wenigstens in Kauf genommen, im Namen des Friedens - ihres Friedens -, dass die schrecklichen Verbrechen einer faschistischen Diktatur sich fortsetzten."

Im Kulturteil sucht ein Artikel nach Gründen für die zunehmende Beliebtheit von Dokumentarfilmen im Kino: "Einen Grund für den Doku-Boom sehen Branchenfachleute darin, dass das Blockbuster-Kino von den 'Matrix'- und 'Herr der Ringe'-Trilogien bis zu 'Shrek 2' die Zuschauer an immer entferntere Orte entführt - und bisweilen ermüdet. In den vom Computer erschaffenen künstlichen Welten Hollywoods ist alles möglich; das Publikum aber fragt sich immer öfter: Was ist wirklich?" Und Detlef Buck ärgert sich schwarz, dass Hamburg seine Filmförderung um fünfzig Prozent kürzen will: "Wenn man fünfzig Prozehnt der Subventionen eines Theaters kürzt, müsste der Intendant das Haus dichtmachen. Aber dann hätten die Politiker Stress in der Stadt. Bei Filmemachern denken sie offenbar, wir seien eh Zigeuener, die mal hier und mal dort arbeiten, da merkt es keiner."

Weiteres: Aime Jacquet, Trainer der französischen Weltmeister-Elf von 1998, erklärt im Interview, warum Franzosen, Italiener und Deutsche bei der EM ausgeschieden sind. Der Titel befasst sich mit der "Seuche Cannabis" an Deutschlands Schulen.
Archiv: Spiegel

New Yorker (USA), 05.07.2004

Heute kein Enthüllungsbericht von Seymour Hersh, sondern der zu wenig Hoffnung Anlass gebende irakische Alltag: Nir Rosen berichtet aus Falludschah, dem Ort des heftigsten Widerstands gegen die US-Invasion: "Fallduschah ist eine der in Sachen Religion konservativsten Städte im 'sunnitischen Dreieck', aber das Zusammentreffen des von Moqtada al-Sadr angeführten schiitischen Aufstands und der Belagerung Falludschahs durch die US-Marines hatte über die religiösen Differenzen hinweg eine kuriose Solidarität gestiftet. Ein hier lebender Dichter rezitierte eine Gedicht, das den Titel 'Tragödie von Falludschah' trägt. Ich habe ihn kaum verstanden, wegen seines starken Akzents, aber diese Sätze habe ich herausgehört: 'Falludschah ist eine große Dattelpalme. Sie wird nie erlauben, dass jemand ihre Datteln berührt. Sie wird Pfeile in die Augen derjenigen schießen, die von ihr probieren wollen. Dies ist Falludschah, deine Braut, O Euphrat! Sie wird nie einen anderen lieben als dich. (...) Amerikaner haben ein Loch gegraben und die Wurzeln der Dattelpalme herausgerissen.'"

Bestätigung findet die Skepsis von Rosens Reportage in den nüchternen Zahlen, über die ein Kommentar von George Packer informiert: "Eine Umfrage, die die CPA (die provisorische Kontrollmacht im Irak) in Auftrag gegeben hat, kam zum Ergebnis, dass zwei Prozent der Iraker großes Vertrauen in die Koalitionskräfte haben, achtzig Prozent haben gar keins und mehr als die Hälfte glaubt, dass alle Amerikaner sich benehmen wie die Gefängnisaufseher in Abu Ghraib."

Besprechungen: Andrew Kirsch bespricht eine neue Dylan-Thomas-Biografie - und informiert in einem Exkurs zur Wirkungsforschung darüber, dass der Name Dylan 1914, im Jahr der Geburt des Autors, so gut wie unbekannt war und auf eine obskure Figur der walisischen Mythologie zurückgeht. Neunzig Jahre und einen Popmusiker, der dem Dichter zu Ehren das Pseudonym Bob Dylan annahm, später, ist Dylan immerhin auf Platz 19 der männlichen Vornamen in den USA. Die Biografie ist im übrigen klatschverliebt, aber in Ordnung, meint Kirsch. Etwas weniger gut, aber auch nicht ganz schlecht findet Thomas Mallon einen Roman von Jerry Stahl, der den skandalumwitterten Stummfilmkomiker Fatty Arbuckle als Ich-Erzähler wieder auferstehen lässt.

David Denby gerät sehr ins Schwärmen über Julie Delpy und Richard Linklaters "Before Sunset" (besser als Rohmer!) - und wünscht sich sogleich einen dritten Teil dieser Fortsetzungsromanze. Für einen mittelmäßigen und zutiefst überflüssigen Film hält er dagegen Steven Spielbergs Flughafen-Komödie "The Terminal".

Ganz was anderes: Paul Simms betet zu Gott und bittet darum, ihn bloß keinen komischen Tod sterben zu lassen. Keine Luftschiffe, kein Unfall mit einem Kerl namens Roger Crash. Und: "Wenn ich beim Sex sterben muss, dann bitte nicht aus einem der folgenden Gründe: extreme Austrockung, unerkannte Allergie gegen Öle mit Fruchtgeschmack oder 'Massage'öl, Hautkomplikationen wegen Teppichverbrennung oder im Zusammenhang mit dem Gebrauch - oder Missbrauch - von Gegenständen, die als 'seltsam' zu bezeichnen sind."

Archiv: New Yorker

Figaro (Frankreich), 25.06.2004

In Frankreich ist bei Gallimard ein Band mit Aufsätzen des jungen Cioran erschienen, geschrieben von 1931 bis 43, das heißt im Alter von 20 bis 32 Jahren. Patrice Bollon schildert die Nähe des jungen Philosophen zu Heidegger und Spenglers "Untergang des Abendlands" und fährt fort: "Auch wenn diese Artikelsammlung von den Herausgebern sorgsam von den engagiertesten und brutalsten seiner Texte gesäubert wurden, die er von 1933 bis 35 in Deutschland geschrieben hat, versteht man doch ohne Schwierigkeiten, wohin Cioran durch seinen vitalistischen Katechismus geführt wurde: Zur positiven Stellungnahme zu jener 'Revolution des Nihilismus', die der Nazismus für ihn darstellte. Gerade hier könnte die Lektüre dieses Bandes übrigens allen 'Gutwilligen' empfohlen werden: damit sie sehen und verstehen, wie völlig legitime und sogar schwierig zu widerlegende Ideen - ist die Auflösung der Kultur durch ultrademokratische Ideen nicht heute noch weiter fortgeschritten als in den dreißiger Jahren? - zum Schlimmsten führen können."
Archiv: Figaro

Espresso (Italien), 01.07.2004

Mit einem Doppelschlag rettet Umberto Eco den Espresso vor der Nichtbeachtung: Wir lesen einen Auszug aus seinem neuen Roman "La misteriosa fiamma della regina Loana". Darin versucht der Held sein amnesieversunkenes Leben wiederzufinden, indem er etwa seine alten Comics liest. "Wie ich unter anderem schon in anderen Comics gesehen habe, sind es die Femme fatales, die die jeweiligen Bösewichte (wie Ming mit Dale Argent) niemals besitzen, verletzen, ihrem Harem einverleiben oder sich lustvoll mit ihnen vereinen wollen. Sie wollen sie immer heiraten. Protestantische Heuchelei der amerikanischen Originale oder Exzesse der Schamhaftigkeit, die eine katholische Regierung, die eine demographische Schlacht schlägt, den italienischen Übersetzern aufgebrummt hat?"

In seine Bustina liest Eco ein antike Ratschläge für Politiker und staunt, wie sehr die Empfehlungen Quintus Tullius Ciceros an seinen Bruder Markus Tullius dem Medienzaren Berlusconi auf den Leib geschrieben sind. "Der Kandidat muss laut Quintus immer faszinierend 'erscheinen', Geschenke verteilen, Versprechungen machen, zu niemandem Nein sagen, denn das Gedächtnis der Wähler ist kurz, und wenig später haben sie die früheren Versprechen vergessen."

Weitere Artikel: Marco Lillo polemisiert über den galaktischen Bluff mit dem terrestrischen Digital TV. Ansonsten regiert die Politik: Im Netz sind vier kurze Videos abzurufen, die unmittelbar nach dem Anschlag auf die Basis der italienischen Soldaten im irakischen Nassiriya im November 2003 aufgenommen wurden. Einer der Filme, die dem Espresso zugespielt wurden, zeigt auch das überfüllte, von den Italienern betriebene Gefängnis. Außerdem liegt dem Heft eine CD mit Fotos, Interviews und Filmen von Bin Laden bei, Gianni Perelli erzählt dazu etwas (wenig Neues) über den Terrorscheich.
Archiv: Espresso
Stichwörter: Eco, Umberto, Heirat, Exzess, Cicero

Point (Frankreich), 24.06.2004

Bernard-Henri Levy kommt in seiner Kolumne noch einmal auf die Affäre Cesare Battisti zurück. Der ehemalige italienische Terrorist, der der Gewalt inzwischen abgeschworen hat, soll entgegen einem einstigen Beschluss Mitterrands ausgeliefert werden - falls die Richter am Mittwoch nicht noch ein Machtwort sprechen. Levy gehört in der bitteren Debatte zu den Gegnern der Auslieferung und begründet es juristisch: Battisti hatte keinen ordentlichen Prozess und würde im Fall einer Auslieferung lebenslang ins Gefängnis kommen, ohne dass er sich je zu den Vorwürfen gegen ihn hätte äußern können: "Ich weiß, dass die französischen Richter das wissen. Ich weiß, dass sich der Justiziminister, so wie ich ihn kenne, Argumenten des Rechts, der Gerechtigkeit und Menschlichkeit nicht verschließt... Die Unschuldsvermutung muss gelten und Battisti demzufolge mehr denn je in den Genuss der französischen Gastfreundschaft kommen."
Archiv: Point

New York Review of Books (USA), 15.07.2004

Über neuen Schwung in die Literaturkritik freut sich Daniel Mendelsohn: "Eindeutige Worte - ganz zu schweigen von aristophanischer Übertreibung, komischer Lebhaftigkeit und dem schuldhaften Vergnügen, die Demütigung anderer zu erleben - bietet ein neues Werk der Literaturkritik, geschrieben von dem Schriftsteller Dale Peck. Der Titel des Buchs, "Hatchet Jobs" sagt eine Menge über den Stil des Autors. Im Sommer 2002 veranstaltete Peck, wie er selbst in seiner Einleitung zu den zwölf Essays stolz schreibt, ordentlich 'Krawall in der Bücherwelt'. Grund war eine vernichtende Kritik, die er zu den Erinnerungen des Romanciers Rick Moody geschrieben hatte - und den Peck in einer für seinen modus operandi typischen Eröffnungssalve als 'den schlechtesten Schriftsteller seiner Generation' bezeichnete." (Einen Artikel über den Zustand der amerikanischen Literaturkritik findet sich auch in der kanadischen Zeitschrift "The Walrus". Darin wünscht sich Andy Lamey mehr von der hohen Kunst, schlechte Kritiken zu schreiben.)

Weiteres: Die Medizinerin Marcia Agnell knöpft sich die Pharma-Industrie vor, die unter der magischen Formel "Forschung und Entwicklung" immer höhere Kosten veranschlagt, dabei aber vor allem immer höhere Gewinne verbucht und immer weniger forscht und entwickelt. Anthony Lewis kommentiert die Memoranden der US-Regierung zur Behandlung von Gefangenen: "Diese Memos lesen sich wie die Ratschläge eines Mafia-Anwalts an seinen Paten." Stephen Kinzer hält es für immer wahrscheinlicher und richtiger, dass die EU im Dezember Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnehmen wird. John Updike widmet sich der Ausstellung zum Werk des amerikanischen Impressionisten Childe Hassam im Metropolitan Museum of Art in New York. Außerdem besprochen wird eine Geschichte der Festmähler von Roy Strong.

Times Literary Supplement (UK), 25.06.2004

Der russische Schriftsteller Zinovy Zinik lässt seine Gedanken ins Exil und wieder zurück in die Heimat schweifen, zu den Emigranten James Joyce und Anthony Burgess und schließlich nach Dublin: "Die Iren verbinden, ähnlich wie die Russen, die Emigration mit einem Gefühl der Schuld und des Betrugs - Betrug an ihrer Vergangenheit, an ihrem Clan, an der nationalen Idee, an der Revolution. Deshalb wirft für beide Völker jedes Abschiednehmen die Frage des Heimkehrens auf. Jeder Russe, zumindest meiner Generation, würde mehr oder weniger leicht in dieses Bild passen. Wir werden von Natur aus von den exilischen Nervenzentren der Erde angezogen, solchen wie Dublin."

"Die Welt füllt sich mit enttäuschten Blair-Anhängern", spottet Robert Skidelsky und lauscht mit einer gewissen Genugtuung dem anschwellenden Chor eloquenter Kritiker. Zum Beispiel David Marquand, der sich in seinem "kraftvollen" Buch "Decline of the Public" die von New Labour betriebene Demontage des öffentlichen Sektors vornimmt. Besprochen werden außerdem Barry Strauss' Studie über "Salamis" (die der großen Schlacht endlich "ein Gesicht" gibt, wie sich Tom Holland freut) und Robert Bartletts Buch "The Hanged Man", das die Geschichte des Walisers William Cragh erzählt, den die englischen Besatzer drei mal hängen mussten, bis sein Widerstandsgeist gebrochen war und das Seil hielt.

London Review of Books (UK), 24.06.2004

E. S Turner hat bei der Lektüre von Miranda Seymours Biografie "The Bugatti Queen" mit einer der rasantesten Frauen der Welt Bekanntschaft gemacht, nämlich mit der tollkühnen Rennfahrerin Helle Nice, die vom begeisterten Publikum auch "Hellish Nice" genannt wurde. Rasanz bewies Nice allerdings nicht nur auf der Rennbahn: "Sie warb für Lucky Strike-Zigaretten und Esso; und wenn das Geld ausging, waren reiche Freunde niemals knapp. 'Die Liste der Liebhaber', schreibt Seymour, 'ob aristokratische oder andere, die sich während der dreißiger Jahre mit Helle Nice einließen, ist fast so lang wie die Liste der Rennen, an denen sie teilnahm.' " Kein Wunder allerdings, starben ihr doch die meisten einfach weg - in den Überresten ihrer Rennwagen.

Weitere Artikel: Amit Chaudhuri lobt Dipesh Chakrabartys "Provincialising Europe", das die Moderne als kulturelle Spezifik des Westens reflektiert und damit erkennt, dass der "Warteraum der Geschichte", in den die anderen Kulturen geraten sind, weil sie noch keine Moderne produziert haben, gar kein Warteraum ist, sondern ein Abstellgleis. John Connelly tadelt Norman Davies' Studie ("Rising ཨ: The Battle for Warsaw") über die unnötig blutige Befreiung Warschaus im Zweiten Weltkrieg als romantisch und unkritisch. In Short Cuts entschuldigt Thomas Jones zynisch die erfolgsverliebten Verlage, die nur Schrott auf den Markt bringen: Schließlich sei es heutzutage schwer, einen talentierten Autor zu vermarkten. Und Peter Campbell lässt sich in der Londoner Tate Modern einspinnen von Edward Hoppers besonderer Art von Melancholie.

Literaturen (Deutschland), 01.07.2004

Es ist Sommer (sagt der Kalender) und Literaturen feiert im großen Stil: die Entdecker. Dazu müssen die Leser allerdings schon zum Kiosk reisen, denn die Internetausgabe begnügt sich mit einer Inhaltsangabe.

Franz Schuh graut es vor der "Mankellisierung" der Krimi-Welt. Dafür schwärmt er von dem Satz, mit dem Alicia Gimenez-Bartlett Schweden beschreibt: "In eine stinkende Pfütze zu treten war leicht, aber den Fuß in einen See mit Schwänen zu setzen war etwas ganz anderes." In der Netzkarte beobachtet Aram Lintzel, dass im Internet eine autoritäre Bestenliste die nächste jagt, und verrät seine eigene Nummer Eins der Hitlisten-Hitparade: Listology.

Im Magazin berichtet Torsten Israel vom Sturm olympischer Bücher auf den griechischen Büchermarkt und von der aktuellen Debatte über Gegenwart und Zukunft der griechischen Literatur. Aus Italien kündigt Henning Klüver die nächste große Umberto-Eco-Welle an und klagt über den Einbruch im Taschenbuchmarkt, der den Tageszeitungen und ihrer neuen Beilagenpolitik zu verdanken ist. Ganz bezaubert zeigt sich Manuela Reichart von Christoffer Boes dänischem Liebesfilm "Reconstruction", der Bilder dafür findet, was es bedeutet, wenn nach einem Seitensprung nichts mehr ist wie vorher. Und was liest die Professorin für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsforschung Helga Nowotny? Peter Nichols' Roman "Darwins Kapitän".

Nur im Print: Peter Demetz' Lobgesang auf Elisabeth Edls neue Übersetzung von Stendhals "Rot und Schwarz", Robert Devilles Streifzug durch Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg und Gustav Seibts Porträt Guiseppe Tomasi di Lampedusas, dessen "Leopard" ebenfalls neu übersetzt wurde.
Archiv: Literaturen

Economist (UK), 25.06.2004

Die europäische Verfassung ist fertig und Gott sei Dank, so der Economist, gibt es wenigstens einige Länder, in denen die Bevölkerung per Referendum über ihre Ratifizierung entscheiden wird. Und die, so die klare Position des Economist, sollten mit Nein stimmen, weil die Verfassung in ihrer aktuellen Form der europäischen Ebene zuviel Hoheit gibt, ohne dass klare Kontrollmechanismen von unten erkennbar wären. Und so schlimm sei eine Ablehnung gar nicht: "Manche europäische Politiker und EU-Anhänger haben behauptet, dass eine Ablehnung katastrophale Folgen hätte. Das ist übertrieben. (...) Doch wäre es in der Tat seltsam - und sogar verfassungswidrig - wenn Regierungen ein Referendum abhalten wollten, bei dem nur ein Ergebnis akzeptabel ist. Wenn man Nein nicht als Antwort hinnehmen kann, warum dann die Frage stellen? Die EU braucht dringend mehr Legitimität unter der Bevölkerung, wie die vielen Anti-Obrigkeits-Stimmen und die beträchtlichen Anti-EU-Stimmen bei den jüngsten Europawahlen gezeigt haben. Der große Makel am vorliegenden Verfassungsvorschlag ist, dass er wenig oder gar nichts dafür tut, dass sich die Europäer bei der ganzen Sache wohlfühlen."

Weitere Artikel: Bill Clintons Autobiografie "My Life" hat den erwartungsvollen Economist ziemlich enttäuscht, und zwar gerade deswegen, weil Clinton alles hat, was es zu einer inspirierenden Autobiografie braucht. Nach amerikanischem Vorbild verabschieden jetzt auch die Briten ein Gesetz gegen die Diskriminierung aus Altersgründen am Arbeitsplatz, berichtet der Economist zufrieden. Die Zukunft der Werbung, so der Economist weiter, liegt in der besseren Einschätzung ihrer Wirksamkeit und nicht ihrer quantitativen Präsenz. Der Economist kann gut verstehen, warum die Irakis ihre Dinare immer noch lieber in ihr Kopfkissen stopfen als sie auf einem Bankkonto zu deponieren. Irritiert fragt sich der Economist, ob Alan Greenspan bewusst ist, wie dringend man die Inflation eindämmen muss.
Im Aufmacher, aber nur in der Printausgabe zu lesen: das Porträt des neuen irakischen Regierungschef Iyad Allawi.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 27.06.2004

Lang ist die Liste der neuen Kurzgeschichten, die sich die New York Times Book Review in dieser Ausgabe vornimmt. "Entweder ist es das coolste Ding, das gerade in der anspruchsvollen Literaturszene abgeht oder der verdammt schlagende Beweis, dass die amerikanische Belletristik fast am Ende ist", poltert Walter Kirn über "Oblivion" von David Foster Wallace. Eindeutiger und wohlmeinender fällt Thomas Mallons Resümee über "The Lemon Table" aus, der neue Kurzgeschichtenband des etwas arrivierteren Julian Barnes. "Viele scharfe, sogar grausame, komische Bilder. Stilistisch vermeidet Barnes Bravourstücke und zieht den dauerhaften, gefälligen Witz des englischen komischen Realismus vor, in dem schiere Intelligenz und genaue Beobachtung die ganze Konstellation tragen, Zeile für Zeile und Seite für Seite." Hier liest Barnes selbst. Den Short-Stories-Schwerpunkt komplettieren Besprechungen von E. L. Doctorows Band "Sweet Land Stories" (Auszug) und David Bezmozgis' Zyklus "Natasha" (Auszug).

Laura Secor nähert sich der legendären Leiterin des Verlags Simon & Schuster, Alice Mayhew, die so aufsehenerregende Bücher wie "All the President's Men" herausbringt, um ihre Person aber ein großes Geheimnis macht. Geoffrey Wheatcroft begeistert sich für die gesammelten Briefe des "Geistesgiganten" Isaiah Berlin aus den Jahren 1924-1946, die einen guten Teil der sozialen und literarischen Geschichte Englands im 20. Jahrhundert entschlüsseln. Cristina Nehring lästert schließlich über den neuen Typus des Buchliebhabers, der stolz auf seine Belesenheit ist, ansonsten aber nichts zu sagen hat.

Im New York Times Magazine tröstet uns Arthur Lubow, dass nicht nur in Berlin die Kultur am Boden ist: Das altehrwürdige New York Philharmonic Orchestra kränkelt, denn das Geld fließt nicht mehr, schreibt Lubow. "Vor etwas mehr als zehn Jahren brachten Radio- und Fernsehverträge etwa 700.000 Dollar jährlich ein. Heute dümpelt man bei 150.000 herum. Und wenn das Orchester ein wichtiges neues Werk eines berühmten zeitgenössischen Komponisten einspielen will, muss es den Hut herumreichen."

Für Michael Ignatieff macht der Irak Amerika endgültig zu einem ganz gewöhnlichen Land. "Die Illusion, von der die USA im Irak und überall aufwachen müssen, ist die, dass sie Gottes Vorsehung erfüllen oder (für diejenigen mit säkulareren Ansichten) der Motor der Geschichte sind. Im Irak ist Amerika nicht der Schöpfer der Geschichte, sondern ihr Spielzeug." Erfrischend ist Deborah Solomons Gespräch mit Ronald P. Reagan, der so ganz andere Ansichten als sein präsidentieller Vater hat. Außerdem wägt Barry Bearak die Chancen des brasilianischen Präsidenten Lula ab, wie versprochen das Los seiner Landsleute zu verbessern. Und Benoit Denizet-Lewis geht der Frage nach, wie aus den mittelmäßigen Tennisspieler Brad Gilbert der beste Trainer der Welt werden konnte.
Archiv: New York Times