Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.07.2004. Outlook India singt Bombays Chhatrapati Shivaji Terminus und seinem Erbauer Frederick William Stevens ein Ständchen. Die lateinamrikansichen Magazine streiten über Pablo Neruda. Der Spiegel erklärt, warum Wladimir Kaminers Kinder keine deutschen Staatsbürger sein dürfen. Die London Review wirft sich für ältere Sibirier in die Bresche. Im Nouvel Obs findet Alexandre Adler den "kulturellen Imperialismus" der Amerikaner schwächlich. Im Economist verteidigt Jack Straw die Europäische Verfassung. Das New York Times Magazine feiert die graphic novel als Literatur der Zukunft.

Outlook India (Indien), 19.07.2004

"Besetzt niemals unser Land, denn nach eurem Tod werden wir zurückschlagen. Besiegt uns und errichtet eure männliche Grandezza auf unserem Boden, und seht zu, wie wir Schlag Mitternacht erwachen und Eintritt für eure Monumente kassieren, wie unsere Gassenkinder an eure kolonialen Mauern pinkeln und unsere Schweine in den Hinterhöfen der Grabmale scharren, die ihr zu Ehren eurer verblichenen Damen erbaut habt." Dass die Unesco Bombays Chhatrapati Shivaji Terminus (vormals Victoria Terminus, Bild) als einziges Zweckgebäude weltweit in den Rang des Weltkulturerbes erhoben hat, ist Manu Joseph Anlass für eine großartige Geschichte über den eitlen Aufputz des Vergangenen und die Macht der Gegenwart. Vor 116 Jahren erbaute ein gewisser Frederick William Stevens den Bahnhof ("als Gegenleistung gaben wir ihm Malaria"), den heute täglich drei Millionen Menschen gehetzt durchqueren, um zu ihren Arbeitsbussen (früh) oder ihren Vorortzügen (abends) zu gelangen. "Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass diese rasende Rush-Hour-Hölle einst eine öffentliche Hinrichtungsstätte war, wo das Publikum mit Schuhen und verfaulten Eiern nach den Verdammten warf." Und wenn sie es wüssten - sie hätten nicht viel Zeit, darüber nachzudenken.

Weitere Artikel: Nach sieben Jahren im politischen Abseits sitzt das Reformwunderkind Palaniappan Chidambaram - in Indien: PC - wieder am Steuer der Wirtschaft und hat für seinen neuen Chef, Premierminister Manmohan Singh, einen Staatshaushalt erarbeitet, der wie durch ein Wunder sowohl die Industrie als auch die Linke zufrieden stellt. Paromita Shastri weiß mehr. (Mein Gott, könnten wir PC nicht abwerben?) Iraks Bürger saßen am 1. Juli vor dem Fernseher, um Saddam Husseins historischen Gerichtsauftritt zu verfolgen. Bereit für einen weiteren Schritt aus der kollektiven Vergangenheit hinaus, warteten sie darauf, was der Diktator zu seiner Verteidigung sagen würde. Doch der blieb - dank der Zensuranstrengungen der Amerikaner - stumm. Keine gute Idee, findet Mitch Potter. Pramila N. Phatarphekar freut sich über gleich fünf indische Nominierungen für die diesjährigen "Wildscreen Awards", auch bekannt als "grüner Oscar", und erhofft sich davon Aufmerksamkeit für die gefährdete indische Tierwelt. Rajinder Puri schreibt zum Tod Marlon Brandos. Schließlich das Comeback der Saison: der lange Rock. Kein Wunder, meint Shobita Dhar: Er ist vorteilhaft, tres chic und außerdem der perfekte Vermittler zwischen Tradition und Moderne.

Nur im Netz: "Entweder ist man zu schwarz oder nicht schwarz genug" - Samit Basu plaudert mit dem englischen Erfolgsautor Hari Kunzru über Identitätspolitik, neue nationale britische Mythen - diesmal die multikulturelle Sorte - und seine Nominierung für den Bad Sex Award. Eine Leseprobe aus Kunzrus Roman "Die Wandlungen des Pran Nath" finden Sie hier.)
Archiv: Outlook India

Revista de Libros (Chile), 10.07.2004

Neruda satt diese Woche in der spanischsprachigen Presse. Zum 100. Geburtstag des 1973 verstorbenen Dichters und Nobelpreisträgers tut sich natürlich besonders die Presse seines Heimatlandes, Chile, hervor. Revista de Libros, die Literaturbeilage von El Mercurio, hat sich die offizielle Festschrift besorgt, zu der auch Hans-Magnus Enzensberger beigetragen haben soll. An dieser Stelle nachzulesen ist allerdings nur, wie Mario Vargas Llosa behauptet, schon als 10-jähriger in dem vom Nachttischchen seiner Mutter entwendeten Band "Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung" geblättert zu haben. Die erotischen Verse verstand er nur insofern, dass sich da die ein oder andere "Sünde" verbarg. Ziemlich schmalzig geht in derselben Festschrift, die nur an Staatsgäste und Bibliotheken verteilt wird, Carlos Fuentes zu Werk: "Am siebten Tag der amerikanischen Schöpfung waren Gott und der Teufel müde. Da sprach Pablo Neruda und taufte all die Dinge dieses großartigen und schrecklichen Kontinents mit ihrem Namen".

Der Dichter wird auch in einer Vielzahl weiterer Artikel geehrt. Interessant zu lesen ist etwa wie der peruanische Literaturkritiker Julio Ortega begründet, warum der dieses Jahr erstmals verliehene Pablo-Neruda-Preis an den Mexikaner Jose Emilio Pacheco geht. Andere Beiträge beschäftigen sich mit mehreren der Biografien zu Neruda (hier und hier). Eine davon, "Las furias y las penas", ist übrigens in Deutschland entstanden: David Schidlowskzy hat mit ihr am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin promoviert und wird hierzu interviewt (auch die "Junge Welt" ist schon auf ihn gestoßen).

Reportajes (Chile), 11.07.2004

Die Konkurrenz von La Tercera (Zugang nach kostenloser Registrierung ) lässt sich ebenso wenig lumpen und hat anlässlich der Feierlichkeiten ein zumindest kurzes Interview mit dem amerikanischen Literaturpapst Harold Bloom geführt: "Ich habe keine Probleme damit, Neruda als einen der zwei oder drei größten spanischsprachigen Dichter des 20. Jahrhunderts zu betrachten", gibt der zu Protokoll. Damit aber genug der Lobhudelei, denn das Sonntagsmagazin Reportajes rezensiert glücklicherweise auch einen Band, in dem der chilenische Schriftsteller Leonardo Sanhueza Schmähschriften gegen den Dichterfürsten zusammengetragen hat. Und siehe da: die, die ihn nicht leidern konnten, waren auch nicht von schlechten Eltern. Etwa sein Landsmann Vicente Huidobro, Mitbegründer der modernen lateinamerikanischen Dichtung, aber auch der Spanier Juan Ramon Jimenez, der Mexikaner Octavio Paz oder der Kubaner Guillermo Cabrera Infante. Nachzulesen ist beispielsweise Huidobros bissige Gegenfrage, als er einmal auf Neruda angesprochen wurde "Müssen wir uns wirklich auf diese Ebene herablassen und uns über derart mittelmäßige Dinge unterhalten?". Auch mit Cesar Vallejo hat sich der Kommunist Neruda angeblich gestritten: dem Peruaner - seiner Ansicht nach ein "Trotzkist" - gönnte er in Paris noch nicht einmal einen kleinen Job, der ihm vielleicht das Leben gerettet hätte.

Außerdem hat Reportajes Alfredo Bryce Echenique interviewt, der munter über Nicaraguas Ernesto Cardenal lästert. Der Autor des in Deutschland leider wenig beachteten "Eine Welt für Julius" und vieler anderer großartiger Bücher hat mal wieder geheiratet und schreibt derzeit an dem zweiten Band seiner Memoiren, der 2005 erscheinen soll. Zu guter Letzt gibt es noch Vargas Llosa im Doppelpack: Vater Mario freut sich darüber, dass aus der EU-Verfassung der Bezug auf das christliche Erbe verschwunden ist, was seiner Ansicht nach den Beitritt der Türkei erleichtern wird, während sich Sohn Alvaro Gedanken darüber macht, warum John Kerry in den USA John Edwards mit ins Boot geholt hat.
Archiv: Reportajes

Spiegel (Deutschland), 12.07.2004

Michael Sontheimer berichtet über die Einbürgerung des russischen Schriftstellers Wladimir Kaminer, die das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht in seiner ganzen Modernität und Durchdachtheit zeigt: "Die Kaminers glaubten, dass beide Kinder mit der elterlichen Einbürgerung ebenfalls Deutsche würden - doch da hatten sie das deutsche Ausländer- und Staatsbürgerschaftsrecht falsch eingeschätzt. Denn Nicole, 7, und Sebastian, 5, hilft es wenig, dass sie in Berlin geboren wurden, hervorragend Deutsch sprechen und ihre Eltern ordnungsgemäß eingedeutscht worden sind. Die Kaminer-Kinder sind staatenlos - und werden es vorerst wohl auch bleiben."

Eine sehr schöne Reportage über Jugendliche im Iran liefert Susanne Koelbl. "Junge Iraner tun heute, was ihnen gefällt. Denn sie verfügen über eine Macht, die das rigide Mullah-Regime alt aussehen lässt: Sie sind so viele. Rund 50 Millionen Iraner sind unter 30 Jahre alt, über 70 Prozent der Bevölkerung." Doch: "Die Machtfrage stellt sich - noch - nicht. 'Sie sind stärker, durch ihre Gewalt', sagt die Studentin Venus, 26." Was das für eine 19-Jährige namens Assal bedeutet, erzählt Koelbl zu Beginn ihrer Reportage: "Assal heißt Honig, und so sieht sie aus, süß und verführerisch. Sie hat ihre schwarzen Augen auffällig mit Kajal umrahmt, der helle Lidschatten ist bis unter die hohen gemalten Bögen ihrer Brauen getupft, in der Unterlippe steckt ein glitzernder Piercing-Ring.(...) Assal zieht den heißen Rauch der Designerdroge 'Ice' ein, die sie 'high und leicht' macht. Es ist Donnerstagnacht, Partyzeit in Teheran. Doch auf Assals Rücken sind die Striemen noch nicht verheilt. Vor einigen Wochen hatte die 19-Jährige 74 Schläge mit der geflochtenen Lederpeitsche erhalten, im Keller des Teheraner Sittengerichts an der Bukarest-Straße."

Nur im Print gibt es einen kritischen Beitrag zur Reform des Hochschulstudiums und drei Interviews: Eines mit Joschka Fischer "über die Verantwortung der Weltgemeinschaft". Eines mit Griechenlands Premier Konstantinos Karamanlis "über die Fußball-Europameisterschaft und Athens Rolle in der EU". Und eines mit Bob Woodward über "die Vorgeschichte des amerikanischen Feldzugs und Bushs fehlende Selbstzweifel".

Der Titel ist dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gewidmet. In einem Interview dazu besteht der Historiker Stephan Malinowski darauf, beide Geschichten zu erzählen: die "Rolle von Grafen und Baronen beim Attentat auf Hitler" ebenso wie die "Begeisterung im deutschen Adel für den Nationalsozialismus".
Archiv: Spiegel

Express (Frankreich), 08.07.2004

Der Express hat eine ganz hübsche Idee fürs Sommerloch, das in Frankreich immer besonders ausführlich gähnt: Dominique Simonnet unterhält sich in aller Ausführlichkeit mit dem Kulturhistoriker Michel Pastoureau über Farben. Diese Woche ist "rot" dran: "Von roter Farbe sprechen", sagt Pastoureau, "ist fast ein Pleonasmus. Gewisse Wörter wie coloratus in Latein oder colorado im Spanischen bedeuten zugleich 'rot', aber auch einfach 'farbig'. Im Russischen bedeutt krasnoi zugleich 'rot', aber auch 'schön' (etymologisch gesehen ist der Rote Platz der 'schöne' Platz). Im symbolischen System der Antike, das um drei Pole kreiste, stand Weiß fürs Farblose, Schwarz für den Schmutz, und Rot für die Farbe, die einzige, die des Namens würdig war. Die Überlegenheit des Rots hat sich dem ganzen Westen aufgedrängt." Letzte Woche ging's um die Farbe Blau.
Archiv: Express
Stichwörter: Latein, Pastoureau, Michel

London Review of Books (UK), 08.07.2004

Sibirien hat es nicht leicht, weder mit dem Klima noch mit seiner unfürsorglichen Regierung, und das weiß auch Russlandkenner James Meek. Doch der verächtliche und besserwisserische Ton, den Fiona Hill und Clifford Gaddy (beide vom amerikanischen Forschungsinstitut Brookings Institution) in ihrem Buch über Sibirien anschlagen, geht ihm entschieden zu weit. Besonders wenn die Autoren der russischen Regierung empfehlen, das unwirtschaftliche Sibirien und seine "Auslaufmodelle" aufzugeben und die Jugend in die wärmeren Provinzen umzulagern (während die Alten in Sibirien zurückbleiben dürfen), kann der Rezensent darüber nur staunen: "Was wäre gewesen, wenn sich ein Team von der Brookings Institution an Bord der Titanic befunden hätte? 'Junge, nichtbehinderte Männlein und Weiblein zuerst! Der Rest von Euch Auslaufmodellen, tanzt einfach weiter.' "

Irrtümer sind in der Wissenschaft nicht selten. Daher, erklärt Hugh Pennington, sind Widerrufe meistens - und zu recht - unspektakulär. Am Beispiel eines medizinischen Forschungsartikels jedoch, der in der renommierten Zeitschrift The Lancet veröffentlicht und später auf scheinheilige und selbstherrliche Art widerrufen wurde, zeigt Pennington, wie Götter in Weiß meinen, sich über den Ehrenkodex der wissenschaftlichen Forschung hinwegsetzen zu können.

Weitere Artikel: Der Text ist schlecht, die Bilder genial - Rebecca Solnit hat durch Sandow Birks Illustrationen von Dantes Inferno erkannt, was Los Angeles zur urbanen Hölle macht. Die zahllosen Marilyn-Monroe-Biografien (es soll etwa 600 davon geben!) lassen Andrew O'Hagan über die Bedeutungslosigkeit des Lebens im Vergleich zum Nachleben nachdenken. Und Peter Campbell spaziert nicht durch Gärten, sondern durch Bilder von Gärten (Art of the Garden).

Al Ahram Weekly (Ägypten), 08.07.2004

Der Filmkritiker Samir Farid diskutiert in einem nicht uninteressanten Beitrag die Greater Middle East Initiative der amerikanischen Regierung. Einerseits fürchtet er um die arabische Identität. "Bald werden wir im Großen Mittleren Osten leben, nicht in der Arabischen Welt. Und sie werden uns Mittelostler nennen, nicht mehr Araber", klagt er etwa. Anderseits wendet er sich gegen jede Form von islamischer Regierung: "Die USA scheinen bemüht, moderate islamische Regierungen nach dem türkischen Vorbild zu bilden. Doch wie lange werden die Moderaten moderat bleiben, wenn sie erst einmal an der Macht sind? Das interessiert niemanden. Wer würde wagen, eine Autorität herauszufordern, die von Gott rührt? Deshalb könnte dieses Schema die Demokratisierung und Säkularisierung im Mittleren Osten für Dekaden aufhalten, während die Region für Ausländer geschmeidiger und benutzerfreundlicher wird."
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Säkularisierung

Guardian (UK), 10.07.2004

In der Kunstbeilage des Guardian legt Lucasta Miller ein ausführliches und lesenswertes Porträt über den Pianisten und Autor Charles Rosen vor, dessen Buch "The Classical Style" auch in Deutschland als Klassiker der Musikgeschichtsschreibung gilt. "Charles Rosens Fähigkeit, zwei getrennte, wenn auch verbundene Existenzen als Gelehrter und Musiker zu führen, macht ihn zu einer einzigartigen Erscheinung. Wenige andere Künstler - Alfred Brendel oder Dietrich Fischer-Dieskau gehören dazu - haben Anerkennung mit Büchern über Musik gefunden. Aber was Rosen in eine eigene Liga bringt, sind die Weite und Tiefe seiner Bildung, seine erfolgreiche Fähigkeit, Einzelanylsen mit einem weiten Überblick zu kombinieren, und die verführerischen, humanen Qualitäten seiner Prosa."
Archiv: Guardian
Stichwörter: Brendel, Alfred

Espresso (Italien), 15.07.2004

Das italienische Bildungsministerium fragt sich, ob die teuren Schulbücher nicht abgeschafft und durch Texte im Internet ersetzt werden könnten. Als Ergänzung durchaus, meint Umberto Eco, und erklärt, warum das Buch für die Erziehung unverzichtbar ist. "Es stimmt zwar, dass der Ministerpräsident einmal gesagt hat, er habe seit zwanzig Jahren keinen Roman mehr gelesen, aber die Schule soll einem ja auch nicht beibringen, wie man Ministerpräsident wird (zumindest nicht so einer)."

Zehn Jahre nachdem der Tangentopli-Skandal (mehr) die Stadt erschüttert hat, erlebt die Schöne im Norden als New Mailand eine Renaissance, schwärmen Enrico Arosio und Claudio Lindner in ihrer Titelhymne. Neue Messe, neue Scala, die "Stadt der Mode" (mehr), hinzu kommt eine kulturelle Aufrüstung im großen Stil: "Die Lust an Entwicklung und Expansion ist zurück."

Im Gespräch mit Gigi Riva versucht der ehemalige oberste UNO-Waffeninspekteur im Irak Hans Blix das Ende der Inspektionen zu kritisieren, ohne die amerikanische Regierung zu hart anzugehen. Michele Serra stichelt über den Cavaliere, der wohl bald mit einem Kopfputz aus Papageienfedern als Inkakönig regieren wird. Monica Maggi plaudert ganz fasziniert von Untreue verhindernden High-Tech-Slips.

Nur im Print gibt es ein Gespräch mit dem schillernden Ahmed Chalabi, der Märchen von Massenvernichtungswaffen erzählte und der den einen deshalb nun als amerikanischer, den anderen als iranischer Spion gilt.
Archiv: Espresso

Nouvel Observateur (Frankreich), 08.07.2004

Typisch französisch halten es der Historiker Alexandre Adler ("Die amerikanische Odyssee") und Philippe Roger ("Der amerikanische Feind") in ihrem Gespräch zur Frage des französischen Antiamerikanismus. Einerseits verärgert über die weltweite amerikanische Einflussnahme, beteuern sie, dass die Franzosen gegen diesen Einfluss immun sind: "- A. Adler: Dieser kulturelle 'Imperialismus' ist viel schwächer als es zum Beispiel der englische war. Und was die berühmte Hollywood-Traumfabrik angeht, bezweifle ich, dass Arnold Schwarzeneggers Filme den Charakter der Franzosen beeinflussen. Viel eher bin ich verblüfft, wie wenig die amerikanische Werte in unsere Welt eindringen konnten. - P. Roger: Konsum heißt nicht Zustimmung. Das Gegenteil zu glauben, wäre soziologische Naivität."

Sehr schön liest sich auch das Interview mit dem Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie, der das Gebiet der Klima-Geschichtsforschung begründet hat und mit Fabien Gruhier über sein jüngstes Werk, die "Menschliche und vergleichende Geschichte des Klimas" ("Histoire humaine et comparee du climat"), spricht.

In einem dramatischen Plädoyer ruft der Sozialist und Ex-Premierminister Laurent Fabius dazu auf, die Kultur wieder ins Zentrum der Politik zu rücken. Denn Kultur sei schlichtweg lebenswichtig: "Ich habe mich im Umweltschutz engagiert, weil das Leben unseres Planeten bedroht ist. Tja, und das Gleiche gilt eben für die Kulturpolitik: Sie ist für das geistige Leben des Menschen so unentbehrlich wie es die Wälder für die Erneuerung seines Sauerstoffs sind."

Weiteres: Pascal Merigeau huldigt dem Marlon Brando von früher. Und Didier Eribon stellt Judith Butlers neues Buch über die Macht der Worte ("Le Pouvoir des mots. Politique du performatif") vor, die sich die Zivilgesellschaft zunutzen machen sollte.

Economist (UK), 09.07.2004

Es gibt nur einen Grund, mit der neuen EU-Verfassung unzufrieden zu sein, meint der britische Außenminister Jack Straw: Sie passt nicht in die Hosentasche. Andere Kritikpunkte, die in der letzten Ausgabe des Economist laut geworden waren, weist Straw mit bestimmter Höflichkeit zurück und wirbt für Zustimmung. Der Economist hatte unter anderem einen Kontrollverlust von Seiten der Bevölkerung moniert. "Die Argumentation des Economist ist an dem Punkt hinfällig, an dem angedeutet wird, nur die Verfassung könne Europa zu wirklichem Fortschritt verhelfen. Doch das kann keine Verfassung von alleine. Diese bietet der EU jedoch eine bessere Plattform, sich auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen ein EU-weites Engagement wichtig ist - und dadurch besser zu arbeiten."

Weitere Artikel: Im paradoxen Werdegang des kürzlich verstorbenen und umstrittenen russisch-orthodoxen Dissidenten-Priesters Dimitri Dudko erkennt der Economist das grundlegende Dilemma der Kirchen zwischen ihrem Kampf gegen den Atheismus und ihrer nostalgischen Befürwortung eines autoritären Regimes. Hat Großbritanniens Labour-Regierung das Geld der Steuerzahler gut angelegt? Ja, lautet gleich zweimal (hier und hier) die Antwort des Economist. Ein umfassender Artikel ist der Lage der Billig-Gesellschaften in den USA und Europa gewidmet.

Außerdem geht es um die neue Generation von Lügendetektoren, um Sicherheitsängste, die Filmbudgets in schwindelnde Höhen treiben, und um ein Dorf in Kanada, in dem Polygamie praktiziert wird.

Der Aufmacher ist nur in der Printausgabe zu lesen und dem Präsidentschaftskandidaten-Duo Kerry / Edwards gewidmet. Ebenfalls nur in der Printausgabe: Japans neue Außenpolitik, eine Attacke gegen Michael Moore und ein Buch über die Rolle der Königin im Schachspiel.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 11.07.2004

Alan Wolfe sieht die Flut von Polemiken, die den politischen Diskurs in die Buchhandlung verlagert haben, als Rückgriff auf die Tradition der Federalist Papers. "Lange vor der Dekonstruktion waren wir begeistert von einer Hermeneutik des Verdachts. Es gab Parteinahme, bevor wir überhaupt Parteien hatten. Unsere Verfassungsväter warnten vor den Gefahren der Fraktionen, weil wir so selten zusammenhielten." Michael Moore (mehr), Anne Coulter (mehr) & Co beweisen Wolfe, dass die etablierten Eliten und Institutionen nicht mehr in der Lage sind, den nötigen Konsens herzustellen. In einer Präsentation sind einige Zitate aus den neuen Pamphleten versammelt, deren Schärfe man hierzulande nicht gewohnt ist. Mitglieder der Regierung werden mal als Fanatiker bezeichnet, mal mit Hitler verglichen, und ihr Vorgehen firmiert unter "Bushs-Mittelfinger-Politik".

Respektlos, aber witzig ist Christopher Buckleys Stichwortverzeichnis zu Bill Clintons Biografieschmöker, von A wie "Angelou, Maya: liest fürchterliches Gedicht bei Clintons Vereidigung" bis zu "Frau, diese: siehe auch Monica Lewinsky".

Weitere Artikel: Eine intelligent präsentierte "Horde Bilder" die tausendfach belohnen, verspricht Thomas Hoving den Lesern von "Red Grooms", der "bisher beste" Band über den Zeichner, der New York "so perfekt einfängt, dass wir manchmal vergessen, Kunst zu betrachten und nicht die Stadt selbst" (hier einige Beispiele). Philip Caputo bedauert, dass Ex-General Tony Zinni seine Erinnerungen "Battle Ready" (erstes Kapitel) unbedingt mit der Hilfe von Tom Clancy schreiben musste. Als hervorragendes Buch über das Geschäft mit High End Restaurants und "erstaunlich lesbar" empfiehlt Adam Platt "Sirio", in dem Sirio Maccioni die Geschichte seines Esstempels "Le Cirque" erzählt.

In Hochform präsentiert sich das New York Times Magazine. In einer formidablen Titelgeschichte kündigt Charles McGrath die Graphic Novel als Literatur der Zukunft an. In der Herstellung verfahren Art Spiegelman (mehr) und Kollegen aber eher altmodisch. "In gewisser Hinsicht sind Graphic Novels fast ein primitives Medium und benötigen eine Menge Handarbeit: Zeichnen, Tuschieren, Einfärben und Beschriften, fast alles von Hand (auch wenn einige Künstler mit Computerzeichnen experimentieren). Es ist, als ob ein traditioneller Romancier seinen Ausdruck nehmen und ihn dann Wort für Wort kopieren müsste, wie ein federschwingender Mönch in einem mittelalterlichen Kloster. Für einige Zeichner sind vier oder fünf Bilder eine gute Tagesleistung, und sogar ein bescheiden bemessenes Buch kann Jahre brauchen, bis es fertig ist." In einem interaktiven Feature sprechen Heroen der Gattung schließlich selbst über ihre Arbeit.

Deborah Solomon wagt sich in die Höhle des Löwen und interviewt William F. Buckley, Konservativer und Gründer der honorablen National Review. "- NYT: Müssen Sie immer so clever sein? - W.F. Buckley: Mit der Alternative kenne ich mich nicht aus. - NYT: Und warum sind konservative Autoren grundsätzlich witziger als liberale? - W.F. Buckley: Da bin ich mir nicht sicher. Karl Marx war ein Knüller, hab ich gehört."

Weiteres: Robert S. Boynton schildert den Kampf zwischen dem "Guerilla-Dokumentarfilmer" Robert Greenwald und Fox News. Ersterer hat aus unveröffentlichtem Material und internen Memos ein Stück über den Murdoch-Sender gemacht, und hofft, mit einem Schnellstart dem Verbot seines Films zuvorzukommen. Peter Landesmann grübelt über die Unklarheiten und auch den Sinn des lang vorbereiteten Prozesses gegen Saddam Hussein. Und Ted Widmer freut sich über das überfällige Revival des amerikanischen Gründervaters Alexander Hamilton.
Archiv: New York Times