26.07.2004. In der Boston Review analysiert Martha Nussbaum die Massaker in Gujarat. Der New Yorker findet im Internet einen terroristischen Stadtplan für die Anschläge in Madrid. Umberto Eco freut sich im Espresso über die Irrtümer der Wissenschaftler. Der Spiegel stellt Karlheinz Brandenburgers neue Erfindung vor. Prospect fordert respektvollere Journalisten. Der Express erklärt, dass sich die Farbe Grün erst seit dem 18. Jahrhundert aus Gelb und Blau zusammensetzt. Outlook India lanciert eine Tongefäßdebatte.
Boston Review, 01.07.2004

Die
Unruhen von Gujarat, bei denen bekanntlich fanatisierte Hindus Massaker unter ihrer moslemischen Mitbevölkerung anrichteten, waren stark
sexuell und sexistisch geprägt,
schreibt die Philosophin
Martha C. Nussbaum (mehr
hier und
hier) in einer sehr langen Analyse für die
Boston Review. Systematische und massenhafte Vergewaltigungen von Frauen gehörten zu den schlimmsten Scheußlichkeiten. Die Nation werde in Indien häufig als weiblicher Körper gedacht, und "die
Körper der Mosleminnen symbolisieren einen
widerstrebenden Teil der Nation, der noch nicht von männlicher Hindu-Macht dominiert wird", schreibt Nussbaum, die die Massaker in der Folge mit den Instrumenten der
feministischen Theorie untersucht.
Numero, 01.06.2004
Numero, eine von zwei vorzüglichen Kulturzeitschriften aus
Kolumbien (die andere heißt
El Malpensante), hat eine neue Ausgabe auf den Markt gebracht. Darin findet sich eine Stichwörter-Sammlung des mexikanischen
Essayisten Carlos Monsivais über Auswirkungen der
Globalisierung auf Literatur und Lesegewohnheiten. "In einem Prozess, in dem wir alle, auf die ein oder andere Weise, zum Inbegriff des Globalen werden, mutiert der einzelne Leser immer mehr zum
Vetreter aller Leser",
räsoniert er beispielsweise. "Es fehlt nicht mehr viel, und wir bekommen auf Partys zu hören:
'Du siehst aber global aus'. Oder aber: "Wusste gar nicht, dass du so lokal bist".
Weitere Artikel handeln von den
Eindrücken eines jungen kolumbianischen Schriftstellers in
Israel sowie von der Jagd nach einem
entwendeten Ulysses-Band (in einer
Kurzgeschichte der Ecuatorianerin
Coca Ponce). Ebenfalls frei zugänglich sind zwei Themenschwerpunkte: Während der eine, zu
Mexiko, eher anekdotisch gehalten ist, geht es in dem anderen um kolumbianische Autoren, die zumeist
unfreiwillig im Ausland leben. "Wegen Todesdrohungen musste ich das Land zweimal verlassen. Zuerst im Mai 1998 und dann im Mai 2003. Jetzt fällt mir auf, dass der Mai nicht mein Monat ist",
berichtet etwa der Ex-Guerillero, Journalist und frischgebackene Romancier
Leon Valencia.
Zu Wort kommt auch der Schriftsteller und Soziologe
Alfredo Molano, der schon seit Jahren auf
literarisch höchstem Niveau die Komplexität seines Heimatlandes erkundet, jedoch bislang kaum übersetzt worden ist (hier eine Ausnahme auf
englisch).
Times Literary Supplement, 23.07.2004

Richard Davenport-Hines
könnte unzählige Beispiele finden, die belegen, mit welch ignoranter Feindseligkeit die britische Aristokratie herumgestoßen wird. Nicht zuletzt die Reaktionen auf
Sir Peregrine Worsthorne' Manifest
"In Defence of Aristocracy", das als "wirrköpfiges, snobistisches Plädoyer für eine Wiedergeburt des
Erbadels karikiert wurde, voll reaktionärem Verlangen nach der guten alten Zeit, als die
Times ihre Journalisten noch über einem
Kotelett bei Pratt's rekrutierte." Aber Worsthornes Buch ist nichts davon, ruft Davenport-Hines, es will lediglich einen "Zustand der öffentlichen Meinung herstellen, in dem die
alte Upper Class und ihre Institutionen als eine Stärke empfunden werden - und vor allem als ideal geeignet für den
Dienst an der Öffentlichkeit."
Reich, ehrgeizig und anregend
findet H. J. Jackson
William St. Clairs große Studie
"The Reading Nation in the Romantic Period", besonders spannend die Passagen, in denen St. Clair erzählt, wie in den 1830er Jahren
Verlage vom Kontinent piratengleich die britische Inseln mit Lesestoff versorgt haben, als den viktorianischen Verlegern Inhalte und niedrige Preise der französischen Büchern gleichermaßen
sündhaft erschienen. Jacksons Fazit: "Die opportunistische Welt des Verlagswesens scheint damals genauso instabil gewesen zu sein wie die
Dotcoms von gestern.
Dem britischen Autor
Robert Macfarlane sind - kein Wunder - die Verrisse des "anständigen", aber keineswegs akademisch-blutarmen
James Wood lieber als die des
"Kampfhund-Kritikers" Dale Peck. Samantha Matthews
erfreut sich an
Carol Shields fantasievolle, witzige und mit Verve geschriebene "Collected Stories".
Economist, 23.07.2004
John Kerry steht eindeutig im Rampenlicht dieser Ausgabe. Doch wer oder was genau ist dieser John Kerry? Und wofür steht er? Sein größtes politisches Talent scheint jedenfalls im
Nicht-Sein zu bestehen (etwa darin,
nicht George Bush zu sein). Doch diese Umschreibung will dem
Economist nicht genügen und so schreitet er zum umfassenden
Porträt dieses dem
"entwendeten Brief" von Edgar Allan Poe so ähnlichen Mannes: "Vielleicht rührt die Schwierigkeit, den Kern seiner Überzeugungen auszumachen, weitgehend von seinen
Denkgewohnheiten her. Entscheidungen fällt er mit Bedacht. Er sichtet alles vorhandene Material, vertieft sich in Details und bildet sich ein Urteil, indem er widersprüchliche Argumente gegeneinander abwägt. Bestenfalls können solche Denkprozesse das Anzeichen für einen weitreichenden, sorgfältigen und für Nuancen, Komplexität und
feine Unterscheidungen sensiblen Geist sein. Schlimmstenfalls ist diese Haltung aber
Erbsenzählerei, Unentschlossenheit und die Unfähigkeit, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen."
Außerdem lesen wir,
warum der
Economist im Nachhinein gut verstehen kann, dass George W. Bush keinen
Untersuchungsausschuss zum 11. September einsetzen wollte,
was die kürzlich verstorbene Tänzerin und Choreografin
Bella Lewitzky bei ihrer Anhörung durch die McCarthy-Kommission antwortete ("Ich singe nicht, ich tanze"), und
dass Großbritannien jetzt
unziviles Verhalten kriminalisiert.
Nouvel Observateur, 22.07.2004

Nachdem vergangene Woche (
hier) der Philosoph Jean-Pierre Vernant über unser hellenistisches Erbe nachgedacht hat,
erklärt heute der
Historiker Jaques Le Goff, inwiefern das zeitgenössische Europa aus dem
Mittelalter hervorgegangen ist. Unter dem Stichwort "Die Intelligenzia und die Kaufleute" schreibt er: "Ich war immer davon überzeugt, dass das
Netzwerk der mittelalterlichen Universitäten in der Geschichte der westlichen Zivilisation eine wesentliche Rolle gespielt hat. Die Intellektuellen im Mittelalter, denen ich einen Großteil meiner Arbeit gewidmet habe, erfüllten Funktionen, die man heute als Forschung, Lehre und soziale Vermittlung bezeichnen würde. Die Institution Universität hat maßgeblich dazu beigetragen, dieser
dreifachen Funktion innerhalb eines Raums des Ausstauschs im europäischen Maßsstab eine Form zu verleihen."
Zu
lesen ist außerdem ein Interview mit dem derzeit bekanntesten australischen Schriftssteller
Tim Winton (
mehr), dessen letzter, für den Booker Prize nominierter Roman "Dirt Music" gerade in Frankreich unter dem Titel "Par-dessus le bord du monde" (Rivages) herauskommt (in Deutschland heißt es abwechslungshalber
"Der singende Baum"). Der Roman erzählt eine Liebesgeschichte und spielt in einem
Küstenort Westaustraliens, in dem Winton inzwischen lebt. Mit dessen Einwohnern, die erst allmählich herausfanden, welche Berühmtheit da anonym zugezogen war, hat er einen Deal geschlossen: "Sobald Journalisten versuchen, mich aufzustöbern, schicken sie sie
meilenweit in die entgegengesetzte Richtung. Im Gegenzug habe ich mich verpflichtet, den Namen der Stadt nicht zu verraten, damit die Leute nicht belästigt werden. Aber der Ort in meinem Buch, White Point, hat Ähnlichkeit mit diesem Städtchen."
In Fortsetzung der
Sommerserien bringt der
Obs einen weiteren
Brief von
Emile Zola an seine Geliebte und Mutter seiner beiden Kinder Jeanne Rozot.
Exzentriker der Woche ist diesmal
Salvador Dali: "Le grand masturbateur" - soll man das jetzt mit "der große Wichser" übersetzen?
New York Times, 25.07.2004

Die Diskussion über das
Imperium der Vereinigten Staaten von Amerika läuft auf Hochtouren. In dieser Ausgabe nimmt sich die
New York Times Book Review der vier wichtigsten neuen Büchern zum Thema an, und keines kommt ungeschoren davon.
Als "den bisher
ambitioniertesten Versuch, historische Analyse mit dem derzeitigen Weltgeschehen zu verbinden",
lobt John Lewis Gaddis den Band des englischen Historikers
Niall Ferguson, der den USA ein schlechtes Zeugnis im imperialen Benehmen ausstellt. Trotz bedenkenswerter Argumente leide "Colossus" (
erstes Kapitel) aber unter Widersprüchen,
wundersamen Abschweifungen und Fehlern. Für eine euphemistische Mogelpackung
hält Ronald Steel
Michael Ignatieffs Gedanken zu einem politisch-ethischen Kodex in den Zeiten des modernen Terrors. Denn anstatt Folter, Angriffskriege oder gezielte Tötungen zu verbieten, liefere Ignatieff in "The Lesser Evil" (
erstes Kapitel) ein "elegant verpacktes Handbuch für
nationale Selbstgerechtigkeit".
Francis Fukuyama (
mehr) hat für "Multitude" (
Leseprobe), das neue Buch der neomarxistischen Denker
Michael Hardt und
Antonio Negri (bei uns bekannt durch
"Empire"), nur ein Kopfschütteln
übrig. "Die
Schwammigkeit der Analyse kann gar nicht genug betont werden." Nahezu uneingeschränkte Zustimmung
erfährt einzig
Hugh Thomas' "Rivers of Gold" (
erstes Kapitel), das die kurze Ära der
spanischen Eroberer wieder aufleben lässt. Paul Kennedy staunt: "Er scheint alle verfügbaren Quellen gelesen zu haben." Schließlich kann ein Gespräch
angehört und
gelesen werden, dass
Paul Kennedy und
John Lewis Gaddis über die
neue Weltordnung geführt haben.
In den übrigen Besprechungen
stellt Mark Kamine
Debütromane vor, Judith Martin
widmet sich Sally Bedell Smiths Schilderung der
königlichen Aura der Kennedys, und Carlo D'Este
empfiehlt Norman Davies Untersuchung des gescheiterten
Warschauer Aufstandes gegen die deutschen Besatzer im August 1944.
Matt Bai
stellt in der Titelgeschichte des
New York Times Magazine die neue Generation von Demokraten vor, die an einer
riesigen linksliberalen Revolution und der Neuerfindung der Demokratischen Partei tüfteln. Stephen Mihm
fragt sich, ob die neue Generation
nichttödlicher Waffen den Krieg wirklich sicherer machen. Christopher Caldwell
denkt über die Zauberformel
"Integrität" nach, die zwar nichts mehr bedeutet, die aber alle Politiker anstreben. Sam Schechner
überlegt, woran die einst übermächtige
Deutsche Küchenschabe gescheitert ist. Und Deborah Solomon
lässt sich vom
Schriftsteller Carl Hiaasen erklären, warum Florida
schäbiger ist als man es beschreiben kann.
Outlook India, 02.08.2004

Manchmal zeigt sich der Subkontinent von dieser pittoresk-grotesken Seite, wie sie wohlmeinende Orientalisten zu schätzen wissen. Zum Beispiel sollen in indischen Zügen Getränke jetzt nur noch in
Tongefäßen verkauft werden. Schluss mit Plastikbechern, der Eisenbahnminister will es so. Teilt
Outlook India ausführlich mit, und zwar bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen. Denn die Entscheidung des Ministers hat eine breite Debatte ausgelöst: Wie, rechnen die einen vor, sollen die Töpfer denn die Herstellung von Tonschalen für täglich
14,2 Millionen Fahrgäste organisieren? Andere erregen sich über den Hintersinn der politischen PR-Aktion, die vor allem geeignet sei, die Töpfer an eine
Niedriglohnarbeit zu ketten, anstatt ihnen wirkungsvoll zu helfen. Auch Umweltaktivisten haben Bedenken, allerdings räumen sie ein, dass die Plastikbecher möglicherweise auch nicht besser sind. Und dann ist da die Sache mit der Hygiene: Wegwerfschalen minderer Qualität oder lieber die
abwaschbare Sorte? Und viele Fragen mehr - Paromita Shastri kennt sie alle und
kommentiert die Antworten.
Ansonsten: Nette Idee,
Jane Austen nach Bollywood zu entführen, cleverer Titel - aber leider,
meint Sanjay Suri, taugt
"Bride and Prejudice", der neue Film der Regisseurin
Gurinder Chadha ("Bhaji on the Beach" und "Kick it Like Beckham") nicht viel. Smita Mitra
freut sich für
dicke Frauen, dass die Textilindustrie das Geschäft mit den Übergrößen entdeckt. Und Manu Joseph
stellt in der Titelgeschichte
indische Tüftler ("Best in the World", verkündet das Cover) und ihre besten Erfindungen vor.
New Yorker, 02.08.2004

In einer ausführlichen Reportage
geht Lawrence Wright der Frage nach, ob die Anschläge in Madrid von einem
neuen Al Qaida-Netzwerk ausgeführt und
im Internet geplant worden seien. "Am Tag der Bombenattentate riefen Analytiker des
Forsvarets Forskningsinstitutt, eines norwegischen Thinktanks bei Oslo, noch einmal ein Dokument auf, das ihnen im vergangenen Dezember auf einer islamistischen Website aufgefallen war. Damals hatte es keinen großen Eindruck auf sie gemacht, aber jetzt, im Lichte der Ereignisse von Madrid, las es sich wie ein
terroristischer Stadtplan. Es war unter der Überschrift: 'Jihad Irak: Hoffnungen und Gefahren' von einer bis dato unbekannten Gruppierung namens
Medienkommittee für den Sieg des irakischen Volkes (Mujahideen Services Center) ausgearbeitet worden."
Weiteres: Paul Goldberger
porträtiert das neue
"Shanghai am Hudson", sprich die Bemühungen New Jerseys, so wie lower Manhattan zu werden - nur "sauberer und ordentlicher". Michael Egger
berichtet von den Dreharbeiten zu einem neuen Film von
Robert Altman, mit dem er an seine Fernsehserie
"Tanner 88" anknüpft und in dem es wieder um
Politkandidaten und ihre Kampagnen geht. Bruce McCall
gibt Tipps zur Handhabung von "
sport-utility vehicles (S.U.V.)" in der Innenstadt ("Fahren Sie Ihr neues S.U.V.
stets doppelt so schnell wie erlaubt"). Zu
lesen ist außerdem die Ezählung "The Shore" von
Richard Ford.
Besprechungen: Joan Accocella
resümiert zwei Veranstaltungen anlässlich der 100. Geburtstage der beiden "Ballettgiganten des 20. Jahrhunderts",
Frederick Ashton (
mehr) und
George Balanchine (
mehr). Anthony Lane
findet, dass
Spike Lees neuer Fim
"She Hate Me" eigentlich zwei neue Filme sind, die zusammenmontiert wurden. Außerdem gibt es wie immer
Kurzbesprechungen, die bis Redaktionsschluss allerdings noch nicht aufrufbar waren.
Nur in der
Printausgabe: eine Reportage über die Sinnhaftigkeit des freien Handels, ein Porträt des Schaupielers
Don Rickles, eine Reportage über einen
philanthropischen Millionär, die Rezension von
Bill Clintons Autobiografie und
Lyrik von Gary Snyder und Jack Gilbert.
Espresso, 29.07.2004
Stephen Hawking widerruft Teile seiner Theorie der
schwarzen Löcher, und
Umberto Eco ist
begeistert. Nicht von den neuen Erkenntnissen - "ehrlich gesagt kann ich mir die schwarzen Löcher nur wie den
Hecht in
Yellow Submarine vorstellen, der alles verschlang, was sich in seiner Nähe befand, um schließlich sich selbst zu fressen" -, sondern von der von vornherein eingeplanten und sogar erwarteten
Möglichkeit des Irrtums in der Wissenschaft. "Diese Art des Denkens ist jedwedem Fundamentalismus entgegengesetzt, jeder wörtlichen Auslegung der Heiligen Schriften, jeder
dogmatischen Überzeugung von den eigenen Ideen."
Ansonsten grüßt das Sommerloch. Cesare Balbo
kündigt an, dass das
Tribeca Film Festival im Herbst eine
Dependance in Mailand eröffnen wird. Monica Maggi
wertet eine Erhebung zum Sexualverhalten ihrer Landsleute aus, die der
Liebe im postmodernen Italien eine unsichere Zukunft voraussagt.
In der Titelgeschichte
widmet sich Gianni Perelli den
Olympischen Spielen in Athen. Nur im Print gibt es Mario Cuomos Gespräch mit dem ehemaligen
Bürgermeister von New York
Rudolph Giuliani, der erklärt, warum George Bush die Wahl verlieren wird.
Prospect, 01.08.2004

Früher war alles besser,
findet John Lloyd ("What the Media are Doing to Our Politics"). Da hieß es vonseiten der
Journaille noch respektvoll:
"Gibt es etwas, was Sie uns sagen möchten, Herr Premierminister?". Jetzt gelte das Motto des ehemaligen
Sunday-Times-Herausgebers Harry Evans: "Frag dich immer, während du einen Politiker interviewst:
'Warum lügt das Schwein mich an?'" Doch gerade diese
Verachtung sei es, die an der "Abwärtsspirale des modernen Medienkrieges" Schuld sei: "Politiker und andere hohe Tiere sprechen ausweichend oder gar nicht um sich vor sich vor Schmähungen der Medien zu schützen. Dieses
Ausweichen fördert dann den journalistischen Drang der Aufdeckung und Anklage (manchmal sogar im öffentlichen Interesse), der wiederum zu noch zwanghafterem Ausweichen der politischen Klasse führt."
Was man nicht alles für eine Predigt tut, wenn man ein ehrgeiziger junger weißer Priester in Afrika ist, liest sich in
Damon Galguts Kurzgeschichte "An African Sermon".
Weitere Artikel: Für Anatol Lieven
steht fest, dass die
Bush-Regierung, solange sie fortfährt, in den
Paradigmen des Kalten Krieges zu denken, nicht in der Lage sein wird, eine adäquate Antwort auf nichtstaatlichen Terror zu finden. David B. Green
fragt sich, was aus dem großen Historiker
Benny Morris und der israelischen Linken geworden ist, und ob die
depressive Resignation jener Israelis, die in den Palästinensern keinen wirklichen Verhandlungspartner zu haben glauben, nicht zu
selbstgerecht ist. Es ist soweit,
raunt Philip Ball, amerikanische Wissenschaftler haben
aus nichts Leben geschaffen. Und das hat Konsequenzen. Und schließlich
wundert sich Jonathon Keats, wie
David Foster Wallace es schafft, nicht nur ein
grottenschlechter Schriftsteller zu sein - wie sein jüngster Erzählband "Oblivion" erneut bezeuge -, sondern sogar eine Art
Dr. Mengele der amerikanischen Literatur, und dabei trotzdem einer der besten Essayisten überhaupt.
Spiegel, 26.07.2004
Karlheinz Brandenburg, Erfinder des
MP3-Formats (mehr
hier und
hier), hat ein
neues Tonsystem,
Iosono, erfunden und in
Hollywood vorgeführt,
berichtet Marco Evers: "Es wurde dunkel im Saal, und in der Düsternis erwachte eine pralle Welt der Klänge, gespeist von über 20.000 Watt: Vorn links
knallte eine Peitsche. Pferde galoppierten, Vögel sangen, brüllende Löwen jagten quer durch den Raum, dann ging ein tropischer Regenschauer nieder ... Das Besondere in diesem Pan-Audium: Jeder Ton kam nicht einfach nur von vorn, hinten, links oder rechts. Die Zuhörer konnten seine Herkunft vielmehr so exakt bestimmen, dass ein Großwildjäger in diesem Raum einen
Löwen nach Gehör hätte erlegen können. Fast schien es, als ploppte jeder Regentropfen an einem anderen Punkt innerhalb des Raumes auf den Boden." Brandenburgs MP3-Format hat viele Menschen reich gemacht hat, nur ihn nicht. Mit
Iosono würde er gern auch einmal Geld verdienen, findet aber
in Deutschland kein Risikokapital, um eine Firma zu gründen!
Weitere Artikel: Gerald Traufetter
liefert einen hübsch selbstironischen Bericht über die Jahrestagung der
International Society for Contemporary Legend Research: Es ging um die Verbreitung
urbaner Mythen im
Internet. Conny Neumann
berichtet unter dem Titel "Das Scheitern der Tochter" vom
Karriereknick der Monika Hohlmeier: "Im Krisen-Management war ihr Vater Franz Josef Strauß eben doch geschickter". Außerdem lesen wir einen
Bericht über Präsidentenkandidat
John Kerry vor dem Parteitag der Demokraten und ein
Interview mit Saudi-Arabiens Ölminister
Ali al-Naimi "über Terrorgefahr und wachsende Ölnachfrage".
Nur im Print: Ein Interview mit
Nike Wagner - und hier nun außerdem einmal nicht nur, wie in diesen Tagen meistens, in ihrer Eigenschaft als "Urenkelin Wagners", sondern auch als neue Intendantin des
Kunstfestes in Weimar befragt. Ein Artikel über den "neuen Ekel-Song" von
Rammstein. Besprochen wird
Peter Handkes neues Buch "Don Juan (erzählt von ihm selbst)".
Der Titel behandelt die Ergebnisse der Washingtoner Untersuchungskommission zur Vorgeschichte des
11. Septembers.
New York Review of Books, 12.08.2004
Kaum hat sich Reporter
William Langewiesche den Staub von Ground Zero abgeschüttelt, legt er auch schon ein Buch über das
Chaos auf hoher See vor. Jonathan Raban
ist begeistert und fassungslos zugleich: "
'The Outlaw Sea' ist zum einen eine Folge von
luziden und oft aufregenden Geschichten über untergegangene, aufgelaufene oder geenterte Schiffe. Es ist aber auch eine beunruhigende Untersuchung all der Gesetze, Verträge, Konventionen, Traditionen und Organisationen, die die See regulieren sollen, aber nur zu Myriaden von Schlupflöchern führen, die von
erfindungsreichen Schurken ausgenutzt werden können. Laut Langewiesche sind über die sieben Zehntel Wasser des Globus 143.000 Schiffe verstreut, die meisten segeln unter den Billigflaggen von Ländern wie
Tuvalu; viele sind gefährliche Rostkähne, alle viel zu schlecht bemannt mit Crews, die nach Drittwelt-Löhnen angeheuert sind. Die Besitzer dieser Kähne sind, versteckt hinter einem
Gestrüpp von Strohfirmen, nur schwer, meist gar nicht aufzuspüren... Wie Langewiesche trocken bemerkt, sind auch
Osama bin Laden und seine Kompagnons im
Schiffsgewerbe, mit einer bemerkenswerten Flotte älterer Frachter. Die Aufenthaltsorte und Identitäten dieser vielgesuchten Schiffe sind unbekannt: Sozusagen auf dem üblichen Seeweg sind ihre Namen, ihre Flaggen tief vergraben in einem
Ozean irreführenden Papierkrams, jenseits aller Auffindbarkeit."
Weiteres: John Ryle
blickt auf die Situation im Sudan und findet es besonders tragisch, dass die
Massaker von Darfur auch sämtliche Friedensaussichten für den noch weitaus blutigeren
Bürgerkrieg im Südsudan zunichte machen. Dort kämpfen seit 21 Jahren Truppen der islamischen Regierung gegen die christlichen Rebellen der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung. Ronald Dworkin
diskutiert ausführlich das Urteil des Obersten Gerichtshof zu
Guantanamo, das "ein für allemal den
empörenden Anspruch der Bush-Regierung zurückgewiesen hat, der Präsident habe die Macht, Personen einzusperren, die er für Terroristen hält, ohne Zugang zu Anwälten und ohne die Möglichkeit, ein Gericht anzurufen."
Garry Wills hat
Bill Clinton immer noch
nicht verziehen, dass er
nicht zurückgetreten ist, obwohl er das amerikanische Volk belogen habe. Geoffrey O'Brien
hält Michael Moores "Fahrenheit 9/11" für eine notwendige Erinnerung daran, dass "wir mehr sehen und hören müssen, als uns die Regierung und die Nachrichtenkanäle zugestehen." Und schließlich
feiert die mexikanische Schriftstellerin
Alma Guillermoprieto den
Clown Brozo für seine tägliche Sendung
"El Mananero", deren letztes Highlight ein Video war, das den Wahlkampfmanager des Bürgermeisters von Mexiko City
bei einer Geldübergabe zeigt.
London Review of Books, 22.07.2004

Rosie muss sterben, damit Gracie leben kann. David Wootton ist
tief beeindruckt von
Alice Dromurat Dregers Buch
"Conjoined Twins and the Future of Normal", in dem sie anhand des medizinischen und juristischen Umgangs mit
siamesischen Zwillingen die scheinbar grundsätzlichen und unveräußerbaren Begriffe der Menschlichkeit als nicht-hinterfragte, gedankliche Norm entlarvt. Beispiel: der
Fall Gracie und Rosie Attard, die sich Herz und Lunge teilten, und die 2000 gegen den Willen ihrer Eltern getrennt wurden, weil zu befürchten war, dass sie andernfalls beiden sterben würden. Dies bedeutete,
Rosie vorsätzlich zu töten, und es kam zum Gerichtsverfahren - das die Trennung für rechtmäßig erklärte: "Alle Richter waren stimmten darin überein, dass Trennung ein Gut an sich darstellt, weil sie
Autonomie, Selbstbestimmung und Privatspäre ermögliche. Lord Justice Walker ging sogar so weit, zu argumentieren, dass es in Rosies größtmöglichem Interesse sei, sie zu töten, da ihr die Trennung 'die körperliche Integrität und die menschliche Würde' gebe, die ihr rechtmäßig zustehe."
Der israelische
Schriftsteller Yitzhak Laor beobachtet, wie panisch die israelische Öffentlichkeit den
eigenen Opfermythos am Leben erhält, um das aggressive Handeln den Palästinensern gegenüber zu rechtfertigen: "
Gräueltaten wurden schon immer gegen uns verübt. Doch je brutaler Israel wird, desto mehr braucht es unser
Image als das ewige Opfer. Daher auch die Wichtigkeit des Holocausts seit dem Ende der achtziger Jahre (der ersten Intifada), und seine Rückkehr in die hebräische Literatur (David Grossmans "See under: Love"). Der
Holocaust ist Teil des Opferbildes - was auch den Wahn der staatlich bezuschussten
Schulfahrten nach Auschwitz erklärt. Das hat dann weniger damit zu tun, die Vergangenheit zu verstehen, als eine Umgebung zu schaffen, in der wir heute als Opfer dastehen können. Pendant dieses Opferbildes ist das Bild des gesunden, schönen und
sensiblen Soldaten." Kein Wunder also, so Laor, dass die von israelischen West-Bank-Soldaten organisierte
Refusenik-Ausstellung 'Breaking the Silence' geschlossen wurde und wichtige Ausstellungsstücke wie Videobänder mit den Aussagen junger Soldaten beschlagnahmt wurden. Laor hat die
Texte der Aussagen ausfindig gemacht, und beschließt damit seinen Artikel.
Weiteres: Die höhere Mathematik lässt grüßen: Mit Hilfe von
Keith Devlins Buch
"The Millennium Problems" versucht A. W. Moore, mathematischen Laien die
sieben mathematischen Rätsel vorzustellen, für deren Lösung das
Clay Mathematics Institute eine Belohnung von
einer Millionen Dollar ausgesetzt hat (darunter auch der Beweis der berühmten
Riemannschen Hypothese über die Streuung von Primzahlen. Mit einiger Bitterkeit
berichtet daraufhin Karl Sabbagh, dass, obwohl es dem zu Unrecht verhassten
Mathematiker Louis de Branges gelungen sein könnte,
den Beweis für die Riemannsche Hypothese zu erbringen, die mathematische Welt sich weigert, seinen
121-seitigen Beweis zu lesen. Und schließlich
findet Thomas Jones es peinlich, wie einseitig und parteiisch
John Lloyd in seinem Plädoyer für einen
respektvolleren Journalismus ("What the Media are Doing to Our Politics", Constable) argumentiert (siehe auch Lloyds
eigene Darstellung in
Prospect).
Express, 22.07.2004
L'Express setzt seine Reihe von Gesprächen mit dem Kulturhistoriker
Michel Pastoureau über die Geschichte der
Farben fort. Heute ist
Grün dran, das lange als Farbe der Instabilität galt, weil die meist aus pflanzlichen Stoffen gewonnene Farbe am Licht schnell
verblasste, erklärt Pastoureau. Und eine Mischung aus
gelben und
blauen Stoffen wäre kaum in Frage gekommen: "Das ist eine ganz junge Idee. Niemals wären unsere Vorfahren vor dem 18. Jahrhundert auf die Idee gekommen, grüne Farbe durch solch eine Mischung zu produzieren. Sie wussten sehr gut, wie man sie direkt erzeugen konnte, und auf ihrer Farbskala situierten sie sie keineswegs zwischen Gelb und Blau. Die verbreitetste Farbskala war die des
Aristoteles: weiß, gelb, rot, grün, blau, schwarz.. Erst die Entdeckung des
Spektrums durch Newton gab uns eine andere Klassifizierung."
Für großen Ärger sorgte der Aufruf
Ariel Scharons an die französischen Juden, wegen des angeblichen
Antisemitismus im Lande nach Israel zu emigrieren. Jacques Attali
schreibt in der neuen Nummer des
Express einen empörten offenen Brief an den israelischen Ministerpräsidenten. Und Marc Epstein
versucht Scharons Attacke aus den
demographischen Problemen Israels zu erklären. Das Land braucht neue Bürger: "Und heute, da die Wellen der Emigration aus Mitteleuropa und der ehemaligen Sowjetunion beendet sind, sind die Länder mit der größten jüdischen Bevölkerung die
USA und
Frankreich. Folglich ist es im Interesse der israelischen Führung, das Gefühl der
Unsicherheit unter den Juden Frankreichs zu verstärken."