Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
09.08.2004. Kunst ist harmlos, verkündet Fernando Botero in Culturas. Folio liefert eine Livereportage von den Olympischen Spielen 416 v. Chr.. Der Nouvel Obs erklärt, was wir von den alten Ägyptern gelernt haben: Mode. Cees Nooteboom schlürft Kava auf Tonga. Wie's schmeckt, erzählt er in Le Monde des livres. Im polnischen Plus-Minus erklärt Jacek Kuron, warum wir in Europa "Demokratie nicht mehr können". Die New York Times Book Review ärgert sich mächtig über Nicholson Bakers Roman "Checkpoint". Der Spiegel warnt vor Patenten auf Software - die nützen nur Microsoft! Al Ahram stellt den ersten Strand in Ägypten nur für Frauen vor. Atlantic Monthly weiß, wieviel Hollywood an die Demokraten spendet.

Plus - Minus (Polen), 07.08.2004

"Verdanken wir Erika Steinbach wirklich so viel?" fragt sich in einem lesenswerten Artikel Dariusz Karlowicz in der Wochenendausgabe der Rzeczpospolita. Auf den Jahrestag des Warschauer Aufstandes zurück blickend, stellt er Überlegungen zum Stand der Erinnerungskultur in Polen an. Der Autor macht vor allem zwei Gründe aus, warum auch liberale Medien sich zunehmend dieses Themas annehmen: Zum einen hänge das mit der innerpolnischen Debatte um das der Dritten Republik zugrunde liegende Modell der nationalen Versöhnung ("schizophrene Identität") zusammen. Andererseits wurde die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen zu "einem Symbol der Lektion, dass wir keine einsame Insel sind, dass die polnischen Abrechnungen mit der Vergangenheit auch ihr internationales Auditorium haben. (...) Auch die weniger Gescheiten haben begriffen, dass Geschichtspolitik ein ungemein wichtiges Element der internationalen Politik ist", schließt der Publizist.

In einem Vorabdruck eines bald erscheinenden Buches des Mitte Juni verstorbenen Jacek Kuron (mehr hier), macht sich der frühere Dissident Gedanken über die Globalisierung und ihre Folgen für die Demokratie in Polen und der Welt. Die polnischen Erfahrungen haben gezeigt, "dass wir Demokratie nicht können. (...) Heute sieht man deutlich, dass die Bürger der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und anderer Länder der alten Demokratie" es auch nicht können. Jeder Versuch von "'Neuauflagen', die sich entweder auf den Kapitalismus oder den bürokratischen Sozialismus berufen, führt nur zu Pattsituationen. Wir müssen nach neuen Lösungen suchen".

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Adam Zagajewski erinnert in einem wunderbaren, langen Porträt an den vor hundert Jahren geborenen Schriftsteller Witold Gombrowicz (mehr hier und hier). Der Text stand letzte Woche in der NZZ: hier.
Archiv: Plus - Minus

Al Ahram Weekly (Ägypten), 09.08.2004

Lina Mahmoud hat vier junge SchriftstellerInnen (Iman Mersal, Ibrahim Farghali, Ahmed El-Aidi, Zahra Yousri), die zur Delegation der arabischen Welt bei der Frankfurter Buchmesse gehören, zu ihren Erwartungen befragt. Alle vier problematisieren die Bürde der Repräsentation arabischer Wirklichkeit, besonders angesichts der Stereotypen, die sie beim deutschen Publikum anzutreffen erwarten. Doch ihre Schlussfolgerungen sind verschieden: Während Farghali es als Aufgabe der Delegation ansieht, ein realistischeres Bild der arabischen Welt zu zeichnen, ist El-Aidi der Ansicht, die heterogene Literatur so gut als möglich zu präsentieren und das Urteil dem Publikum zu überlassen. Und apropos Stereotypen: Drei der vier loben die Effizienz der deutschen Organisation.

Im Gegensatz zu den meisten Frauen, die sie dort getroffen hat, ist Dena Rashed nicht so begeistert vom ersten ägyptischen Strand, zu dem Männer keinen Zutritt haben - und Frauen nur ohne Kameras. Die Sperranlagen, hinter denen die "Verschleierten" mal nicht verschleiert sind und in neuester Bademode promenieren und schwimmen, gleichen einem Hochsicherheitstrakt. "Seit sich immer mehr Frauen verschleiern, wächst der Markt, und die Geschäfte florieren. In den letzten Jahren haben überall Bekleidungsläden für die verschleierte Frau eröffnet, es gibt spezielle Friseurläden und gesonderte Abteilungen oder Zeiten in den Fitnesscentern." Nicht zufällig ist auch der Strand von Al-Yashmak kein billiges Vergnügen. Rasheds Fazit: "Religiös korrekter Spaß für die trendige Oberschichtsfrau."

Und Lubna Abdel-Aziz nimmt die Fortsetzung der Geschichte um den amnesischen Agenten Jason Bourne auf der Leinwand - "The Bourne Supremacy", wieder mit Matt Damon und Franka Potente - zum Anlass für eine Hymne über seinen Erfinder, den 2001 verstorbenen Bestseller-Autor Robert Ludlum (mehr).
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The Atlantic (USA), 01.09.2004

Die Titelgeschichte klingt wie ein Märchen. Reporter Alan Cullisons Laptop ging 2001 in Afghanistan zu Bruch. Als er sich einen neuen Computer kaufte, stellte sich nach kurzem Gebrauch heraus, dass er zuvor im Hauptquartier von Al-Qaida benutzt worden war. Glück muss der Mensch haben! Auch nachdem der amerikanische Geheimdienst den Laptop auseinandergenommen hatte, blieben genug Dokumente, Briefe und Fotos auf dem Rechner, um "einen faszinierenden Einblick in das tägliche Büroleben und die privaten Angelegenheiten der Männer zu gewinnen, die Al-Quaida bilden." (Etwas mehr über den Hintergrund der Geschichte erfährt man aus einem Artikel von 2002 im San Francisco Chronicle. Einen Link zum vollständigen Artikel von Cullison aus Atlantic Monthly finden Sie hier.)

Eric Alterman liefert auf vierzehn Seiten eine detaillierte Reportage über Hollywoods Engagement für die Demokraten: "Von 1989 bis zum Start der jetzigen Wahlrunden hat Hollywood der Partei nur für überregionale Wahlen 100 Millionen Dollar gegeben - das kommt nahe ran an die 114 Millionen Dollar, die die Republikaner von ihren Freunden aus der Öl- und Stromindustrie erhalten." Und im Gegensatz zu fast allen anderen Spendern, erwarten die Leute aus Hollywood "keine so konkrete Gegenleistung wie Steuersenkungen oder eine Verwässerung von Regulierungen." Brad Whitford, Schauspieler in der Serie "The West Wing", hat sogar ein eigenes Anti-Bush-Commercial gedreht. "Hübsches Haus mit Palmen im Hintergrund, die Musik schwill an wie in Bushs post-9/11-Commercials. Whitford grüßt die Zuschauer: 'Willkommen in meinem Haus. Hi. Ich bin sehr glücklich in einer Fernsehshow arbeiten zu dürfen. In diesen Zeiten von Terror und steigenden Haushaltsdefiziten, wo unser Präsident Kürzungen in den Zuwendungen für Veteranen und Kinder angekündigt hat, habe ich eine Steuererleichterung von über hunderttausend Dollar erhalten! Unterstützten Sie die Hollywood Elite. Wählen Sie George Bush.'" 

Online lesen dürfen wir noch einen weiteren Artikel: Ryan Lizza erklärt, warum Barack Obama bei den Demokraten mehr Aufregung auflöst als John Kerry. Hier ein paar Gründe: Der 43-jährige Bürgerrechtsanwalt, der für Senatssitz von Illinois kandidiert, ist der Sohn eines Ziegenhirten aus Kenia, aufgewachsen in Hawai und Indonesien, erster schwarzer Präsident der Harvard Law Review. Erwähnten wir schon, dass er gut aussieht? Und außerdem hat er noch die Fähigkeit, "städtische Schwarze, Vorstadt-Moms und republikanische Zahnärzte gleichermaßen anzusprechen".

Nur im Print: Reuel Marc Gerecht beklagt die Arroganz, den Dogmatismus und Antiamerikanismus der irakischen Schiiten und hofft, dass sie bei den Wahlen haushoch verlieren werden. Ein Interview mit Colin Powell über den Irak, den Kalten Krieg und seinen Platz in der Regierung. Alexandra Starr stellt uns Magnolien aus Stahl vor: Die Demokratinnen Inez Tenenbaum, Blanche LincolnMary Landrieu und Kathleen Blanco punkten in den Südstaaten, wo ihre männlichen Kollegen den Kampf gegen die Republikaner schon aufgegeben haben. Und Christopher Hitchens bespricht Edwin Williamsons "erstklassige" Borges-Biografie (Viking).
Archiv: The Atlantic

Outlook India (Indien), 16.08.2004

Seema Sirohi feiert eine Premiere: Hollywoods ersten Film mit gleich zwei asiatischen Amerikanern, indischer und koreanischer Abstammung, in den Hauptrollen. Und das ist noch nicht alles: Die beiden sind nämlich ganz normale Kiffer, die ununterbrochen an Mädchen denken und Hamburger in sich reinstopfen. Mit anderen Worten: "Desi ist kein Nerd, kein Kassierer bei 7/11, noch nicht einmal Motelbesitzer", sondern ein amerikanischer Slacker von der Stange und damit inmitten all der bewährten ethnischen Stereotypen Hollywoods ein kleines Wunder. Und das Allerbeste: Der Film - "Harold and Kumar Go To White Castle" - ist wirklich witzig.

Die Olympischen Spiele sind auch in Indien Titelthema, doch da die Chancen der sportlichen Delegation nur begrenzt Gesprächsstoff abwerfen, hat Sanjay Suri in Athen die Gedanken ein wenig schweifen lassen. Schließlich gibt es einige Gemeinsamkeiten zwischen Griechenland und Indien. "Es scheint den Griechen beinahe geholfen zu haben", schreibt Suri, "dass jeder sie als ewige Verlierer wahrnimmt - wie die Inder. Das Skript der Erwartung sieht für die Griechen vor, mit dem Bau der Stadien nicht rechtzeitig fertig zu werden und anschließend keine Medaillen zu gewinnen." Zumindest bis zur Fußball-EM - jetzt nämlich denken die Athener zwischen ihren Baustellen, dass nichts sie aufhalten kann. "Es ist schon komisch", sinniert Suri. "Ein Typ tritt gegen den Ball, ein zweiter köpft, und eine Nation fängt an, besser über sich selbst zu denken."

Sandipan Deb hat sich ein bisschen gefreut und ein bisschen geärgert über die zweite "Weekenders"-Anthologie - dieses Mal hat der Daily Telegraph die jungen und zumeist preisgekrönten britischen Autoren nach Kalkutta geschickt. Am meisten hat er sich über die Erzählung von Colm Toibin gefreut, am meisten geärgert hat er sich darüber, dass in quasi jeder zweiten Geschichte Straßenkinder auftauchen. Und so bleiben gemischte Eindrücke, und die "schreckliche Schönheit" der Stadt wartet auf genauere Beobachter. Allerdings: "Nicht das es Kalkutta kümmern würde."

Nur im Netz: ein Artikel des Independent-Reporters Robert Fisk über die "neuen Lügen", die die amerikanische und britische Regierung über den Irak verbreiten.
Archiv: Outlook India

Espresso (Italien), 12.08.2004

Der Schriftsteller Andrea Camilleri, der mit seinem Kommissar Montalbano im fortgeschrittenen Alter große Erfolge feiert, spricht in einem schönen Interview mit Stefania Rossini über zehn Millionen verkaufte Exemplare mit der Lässigkeit des Erfahrenen. "Ich fühle mich wie ein Straßensänger der mit dem Teller herumgeht und entdeckt, dass ein Haufen Leute zugehört haben. Aber wollen Sie wissen, was mir das Schreiben wirklich gebracht hat? Eine Wiederentdeckung des Lebens, aber disziplinierter. Zum Beispiel habe ich ab dem Moment, in dem ich entdeckt habe, dass ich mit Disziplin und Kontinuität schreiben kann, keinen Tropfen Whiskey mehr angerührt. Bis vor ein paar Jahren habe ich vormittags noch nüchtern eine Flasche getrunken. Ich mache keine Witze, eine ganze Flasche." 

"Die Regel zu finden, mit der man die Reihenfolge der Primzahlen vorhersagen kann, ist der einzige Weg, um nicht unbedingt die Existenx aber zumindest die Möglichkeit der Existenz Gottes zu beweisen", schlussfolgert Umberto Eco, nachdem er uns nachdrücklich ein Buch über dieses große Rätsel der Mathematik als Sommerlektüre empfohlen hat.

Monica Maggi freut sich auf Kunstausstellungen von Schiele, Mapplethorpe und Warhol, denen sie, wie soll's auch anders sein, einen erotischen Aspekt abgewinnt. Maggi stellt auch einen merkwürdigen Sommerworkshop vor, in dem Italiens Besserverdienende putzen und kochen lernen - mit professioneller Unterstützung. Im Auslandsteil examiniert Enrico Pedemonte die beiden Johns - Kerry und Edwards - noch einmal wohlwollend, bevor der Endspurt der Präsidentenwahl beginnt.
Archiv: Espresso

Spiegel (Deutschland), 09.08.2004

Marco Evers und Gerald Traufetter berichten über den Kampf von Microsoft gegen Linux: Die Stadt München, die ihre 14.000 Rechner auf Linux umstellen wollte, hat das Vorhaben jetzt gestoppt. "München protestiert damit gegen eine drohende EU-Richtlinie über Patente auf Software. Wenn diese verabschiedet werde, so die Befürchtung, könnten sich gegen die Münchner Software Ansprüche aus bis zu 50 Patenten richten. Geldschneider könnten die Stadt mit Prozessen überziehen und sogar alle Computer lahm legen." Das Europäische Patentamt hat "ohne eindeutige Rechtsgrundlage bereits mehrere tausend Software-Patente anerkannt. Wenn die EU ihre Richtlinie absegnet, dann erwarten Patentgegner auch in Europa eine Flut von Lizenzklagen." Gedient wäre damit einzig und allein Microsoft!

Weil Otto Schilys Idee, in Afrika Lager für Flüchtlinge einzurichten, in einigen EU-Ländern auf Zustimmung hoffen darf, hat der Spiegel gleich vier Autoren auf diese Idee angesetzt. Ihr Fazit: "Als Rettungsplan für Schiffbrüchige ist sie ehrenwert, als Kern einer neuen, schärferen Flüchtlingspolitik funktioniert sie nicht". Und dann gibt es noch ein Gespräch mit Finanzminister Eichel "über anhaltende Steuerflucht, undurchsichtige Managergehälter, eigene Fehler und seine Zukunftsaussichten in der rot-grünen Regierung".

Nur im Print: Ein Interview mit Oskar Lafontaine über "seinen Kampf gegen den Kanzler und die Gründung einer neuen Linkspartei". Im Kulturteil findet sich eine Meldung, wonach Andres Veiel Gerd Koenens Buch "Vesper, Ensslin, Baader" verfilmen will. Ein Artikel berichtet, wie die Wiener Gruppe Coop Himmelb(l)au die neue Euro-Bank in Frankfurt plant. Besprochen wird Nicholson Bakers Roman "Checkpoint". Der Spiegeltitel untersucht den Zufall aus physikalischer, psychologischer und biologischer Sicht.
Archiv: Spiegel

Monde des livres (Frankreich), 06.08.2004

Einen recht verträumten Reisebericht schickt Cees Nooteboom (mehr hier) für die Serie "Un lieu, un livre, un ecrivain" aus dem Königreich Tonga, einem Archipel, welches mitten im Pazifik genau auf der Datumsgrenze liegt. Dort trinkt man Kava, ein milchiges Getränk (mehr hier), das aus einer Abart des Pfefferbaums gewonnen wird: "Die Mischung wird in einem Holzgefäß mit vier aus massivem Holz geschnitzten Füßen gereicht, aus dem man mit einer halben Kokosnuss schöpft. Die Wirkung lässt sich nicht eigentlich als Trunkenheit beschreiben, sondern eher als ein schläfriges Wohlsein, als leichte Narkose und Auflösung aller Charakterunebenheiten und - nach einem gewissen Moment - als tiefer Wunsch, sich langsam in die Luft zu erheben, um mit majestätischem Flügelschlag weitere Inseln anzusteuern, wo andere Kavakalapus auf einen warten."

Nouvel Observateur (Frankreich), 05.08.2004

Nachdem die Bedeutung der Antike (hier), des Mittelalters (hier) und des alten Roms (hier) für die Jetztzeit analysiert wurden, untersucht in dieser Woche die Ägyptologin Christiane Desroches Noblecourt die Rolle des alten Ägyptens für unsere Gesellschaft. So schreibt sie unter anderem: "Es ist vielleicht ein untergeordneter Aspekt der Zivilisation, doch die Mode haben wir von den alten Ägyptern. (...) In den großen Epochen trugen sie einfache Kleidung aus weißem Leinen, dazu nur einen farbigen Gürtel. Diese Schlichtheit war eines der Kennzeichen eines elaborierten Geschmacks, und ihre Lebensweise war ebenfalls nüchtern, frei von allen Oberflächlichkeiten."

Anlässlich des Erscheinens des zweiten Bands von Paul Claudels "Le Poete et la Bible. 1945-1955" (Gallimard) stellt der Nouvel Obs das fast 4.000 Seiten umfassende Projekt des Dichters vor. Dieser hatte nach 1935 "über nichts anderes mehr als die Bibel geschrieben. Auf seine Art, die eines Wüterichs. Der große katholische Gorilla, wie man ihn in Italien nannte, stürzte sich auf die Schrift Gottes wie auf eine Beute." Und aus Anlass der zweihundertjährigen Unabhängigkeit Haitis empfiehlt der aus Haiti stammende Schriftsteller und Neurologe Jean Metellus die Studie "Haiti, images d?une colonisation 1492-1804" von Elie Lescot Jr. (Orphie Editions).

Weiteres: Ein Artikel erzählt die Geschichte der Shaw Brothers, die das größte Filmstudio von Hongkong gründeten (mehr), und dem Kung-Fu-Film zu Kultstatus verhalfen. In der Sommerserie über Exzentriker wird in dieser Woche der Schriftsteller und Marineoffizier Pierre Loti (eigentlich Julien Viaud, mehr) porträtiert. Und wir lesen einen weiteren Brief von Emile Zola an seine Geliebte Jeanne Rozerot.

Culturas (Spanien), 04.08.2004

In Deutschland aus der Mode gekommen, in den USA von einer großen konservativen Partei vereinnahmt, anderswo aber durchaus noch aktuell: "Was den Republikanismus auszeichnet, ist sein Begriff von Freiheit", erklärt der irische Princeton-Politologe Philip Pettit in einem Interview mit der Kulturbeilage der katalanischen Tageszeitung La Vanguardia (Zugang nach kostenloser Registrierung). "Er ersetzt den liberalen Grundsatz der Freiheit als Nicht-Einmischung durch den Gedanken der Nicht-Herrschaft". Auch eine freiwillige Unterwerfung bedeute schließlich Freiheitsverlust. Hingegen sei die republikanische Ablehnung jeglicher Herrschaft und jeglicher Einmischung in das Leben anderer der wohl "älteste Wert westlicher politischer Kultur" schlechthin, so Pettit.

Ebenso interessant: ein Interview mit dem kolumbianischen Maler Fernando Botero. Der hat sich in den letzten Jahren erstmals systematisch mit der allgegenwärtigen Gewalt seines Heimatlandes auseinandergesetzt. "Ein wahrer Maler kann etwas Tragisches wie den Tod in etwas Dekoratives verwandeln", behauptet er im Gespräch mit Sergio Alvarez. Tatsächlich haben seine dem Nationalmuseum in Bogota überlassenen Bilder von Gefolterten, Trauernden und Massakrierten nach wie vor etwas Liebliches. Und füllig sind seine Figuren natürlich auch noch. Obwohl er durchaus hofft, dass diese Gemälde und Zeichnungen nachdenklich darüber stimmen, wie Kolumbien sich "gegen das Leben versündigt", macht sich Botero über ihre Wirkung keine Illusionen: "Politisch gesehen ist Kunst harmlos. Ihre Macht liegt in der Geschichte, in ihrer Fähigkeit, zum Symbol einer Epoche zu werden".

Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit Gedichten, die aus Werbe-Emails (Spam) zusammengewürfelt werden. Hier ein schönes Beispiel: "Amerikanische Patrioten / Was können wir für dich tun / Wir haben beschlossen, deinen Kreditrahmen zu erhöhen / Deinen Penis jetzt verlängern / Wir bieten kostenloses Geld / Wähle Bush / Deine Frau wird es nie erfahren". Autor Toni Blanco empfiehlt insbesondere den Weblog von Kristin Thomas sowie Spamradio.com, wo der ganze Müll auch noch vertont wird. Außerdem in Culturas: eine Besprechung neuer spanischsprachiger Bergsteiger-Literatur, eine wohlwollende Rezension des neuen Erzählbandes von Eloy Tizon sowie eine Liste der derzeit von spanischen Verlagen an Journalisten versandten Leseproben.
Archiv: Culturas

Folio (Schweiz), 02.08.2004

Thema ist Olympia. Der Archäologe Michael Siebler (mehr) liefert eine Livereportage von den Spielen 416 v. Chr., die im Vorspann Sensationen verspricht: "40.000 Besucher! Spiele zum zweiten Mal ohne Spartaner! Exaitos Sieger im Stadionlauf! Alkibiades mit acht Gespannen am Start! Xenophanes vom Publikum ausgebuht! Preise der Händler unverschämt!"

Illustriert ist die gesamte Ausgabe mit Bildern des antiken Olympia, die auf einer virtuellen Rekonstruktion von Cliff Ogleby (mehr), University of Melbourne (Australien) basieren. Dazu gibt es ein Interview mit dem Archäologen Adolf Borbein, der erklärt, woher wir heute wissen, wie Olympia aussah. Außerdem gibt es einen Plan der Ausgrabungsstätte von Olympia. Michael Siebler erzählt die Geschichte der Ausgrabungen. Michael Gamper schildert, wie der Marathonlauf (in Olympia ging die längste Strecke über 4 Kilometer) und der Ringkampf im Laufe der Jahrhunderte umgedeutet wurden.

In der Duftnote erzählt Luca Turin von den "Nischenparfüms" JARs, der Parfümabteilung (mehr) eines Pariser Juweliers "von beinahe mystischer Aura" (mehr). Statt die Rohstoffe miteinander zu verschmelzen, wurden diese Parfüms "offenbar von einem Typen komponiert, der seine Tage damit zubringt, Rubine aus einer Schachtel zu klauben und sie neben große Perlen zu legen. Edelsteine sind nicht mischbar, Gott behüte, sie leuchten jeder für sich wie verrückt. Anstelle der üblichen Expertenmischung bekommen wir bei JAR sensationelle Rohstoffe, völlig offen, unter hellem Licht arrangiert, um der größtmöglichen Wirkung willen. Sie reichen von schlichter Grandeur bis hin zu dem, was P. G. Wodehouse mit leisem Understatement als 'ein wenig brüsk' bezeichnet hätte." Wer sich sein Leben lang "nach Andre Bretons beaute convulsive gesehnt" hat - hier wird er fündig, verspricht Turin.

Archiv: Folio

London Review of Books (UK), 05.08.2004

Diäterfolg ist eine späte, moderne Heilsgeschichte, in der sich Natur und Kultur aufs Neue auflauern, wie Steven Shapin in einem hintergründigen Artikel über Esskultur und Selbstbild erklärt. Denn niemals gehe es nur ums Überleben, sondern einerseits um ein ideales Menschenbild (zum Beispiel Ausgeglichenheit) und andererseits um die Vision einer Nahrung, die diesem Ideal entspreche, und dessen Eigenschaft (Ausgeglichenheit) sich beim Essen auf den Menschen übertrage. Damit nehme augenblicklich die Kultur am Tische Platz. So auch beispielsweise bei der Atkins-Diät: "Das rationale Ich, das Dr. Atkins' Botschaft befolgt, kann das irrationale, Kohlehydrat-abhängige Ich schnell bezwingen, und dieses Ich, das daraus hervorgeht, ist sofort stoffwechseltechnisch gesund und moralisch geläutert. Die Atkins-Diät ist eine heutiges Theater des Handelns: Sein Stoffverbrennungs-Luxus stellt eine entschiedene Abkehr von der alten Diät-Tradition der Selbstdisziplin dar, während das hybride Selbst, mit dem es arbeitet, ganz in diese Tradition gehört, sowie in die andauernden Traditionen des praktischen und moralischen Denken."

Weitere Artikel: Frank Kermode begrüßt das gelungene Revival, das dem Außenseiter B.S. Johnson von Jonathan Coe und seiner Biografie "Like a Fiery Elephant: The Story of B.S. Johnson" beschert wird. Alex de Waal rollt die verwickelte Vorgeschichte des Darfur-Konfliktes auf. In Short Cuts bemerkt John Sturrock, dass der Bericht der Butler-Kommission die eigentliche wichtige Frage auslässt, nämlich wer die der Regierung zugedachten Geheimdienstberichte aufgemotzt hat. Und Peter Campbell wandert berauscht durch russische Landschaften des 19. Jahrhunderts (in der National Gallery).
Stichwörter: Luxus, Darfur, Coe,jonathan

Economist (UK), 06.08.2004

Alle kamen sie um dem goldenen Kalb des Konsums zu huldigen, doch dann standen sie vor einer Kulisse mitten im Niemandsland. Der Economist berichtet belustigt über den riesigen Scherz, den sich Filip Remunda und Vit Klusak, zwei tschechische Künstler, mit Hilfe von Werbefirmen, PR-Agenturen und Sozialpsychologen erlaubten: Sie bewarben aufs Bombastischste die Eröffnung eines Discountmarktes, den es nie geben sollte. Tausende kamen, ärgerten sich, lachten dann über sich selbst "und wanderten friedlich davon, um im stattdessen im nahegelegenen Tesco-Laden zu shoppen". Und weil's so schön war, haben Remunda und Kit daraus auch einen Film gemacht: "Cesky Sen" (Der tschechische Traum).

Harte Männer oder weiche Memmen - die USA erleben einen wahren Testosteron-Wahlkampf, wundert sich der Economist und sucht Erklärungen für das Macho-Gehabe der Kandidaten.

Außerdem zu lesen: Als Aufmacher ein Bericht über Olympia und die große (vielleicht irrige) Offensive gegen Doping. Weiter Berichte über den Herausgeberstar Bonnie Fuller, die schon so manches Blatt aus dem Dreck gezogen hat (mehr über die Dame hier), über die Reaktionen der Verlage auf die Berlin Declaration (auf Englisch und auf Deutsch als pdf), in der führende Forschungsgesellschaften den freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur fordern, über einen Marktplatz für freie Journalisten im Internet (Mediabistro), über neue Erkenntnisse zu biologischen Merkmalen von Autismus. Und schließlich ein Nachruf auf den Fotografen Henri Cartier-Bresson.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 08.08.2004

"Dieses dreckige kleine Buch handelt von der Frage, ob die Probleme, die unser in Ehren gehaltenes und ängstliches Land plagen, durch das Erschießen des Präsidenten gelöst werden können", fasst Leon Wieseltier mit fühlbarem Sarkasmus zusammen. Auch wenn Nicholson Baker in seinem neuen - auch schon auf Deutsch erschienenen - Roman "Checkpoint" den mutmaßlichen Assassinen gehörig an seinem Vorhaben zweifeln lässt, für Wieseltier ist hier eine Grenze überschritten. "Die Radikalität der Rechten hat zu einer Radikalität der Linken geführt. Der amerikanische Liberalismus im Ganzen scheint seinen Kopf zu verlieren. Wenn die Befremdlichkeit gegenüber Bush zu einer Entschuldigung für eine große Vereinfachung wird, wird das schlimme Folgen für den Liberalismus und Amerika haben."

Weitere Besprechungen: Körperlich fit zu bleiben war auch eine Art der Selbsterhaltung, hat Bernhard Knox aus zwei Büchern über die antiken Olympischen Spiele gelernt. Historisch wertvoll, erzählerisch aber leider eine Niete, meint Ethan Bronner zu Dennis Ross' "The Missing Peace", eine Zusammenfassung der vergangenen zwölf Jahre Nahostpolitik. Theo Thait findet in Tony Epriles Debütroman "The Persistence of Memory" ein "fazinierendes Fenster" in das weiße Südafrika zur Zeit des Kalten Krieges. Vladimir Voinovich hat seine satrirische Feder über die Jahre gespitzt, und so wird sein Roman "Monumental Propaganda" (erstes Kapitel) rund um russische Exkommunisten, die sich sehnsuchtsvoll nach Stalin zurücksehnen, auf fast keiner Seite langweilig, lobt Ken Kalfus. Besonders gefällt ihm der Exkurs zur sowjetischen Latrinenkultur.

Das New York Times Magazine ist ganz der Mission Olympia im Schwimmbecken gewidmet. Daniel Mendelsohn stellt zuvor noch einmal richtig, dass es auch bei den Griechen nie um Ruhm und Ehre ging. Michael Sokolove fühlt mit Schwimmer Michael Phelps, der angetreten ist, um Mark Spitz' ewigen Rekord von sieben Goldmedaillen zu knacken. Maura Egan und Christine Muhlke haben die gewaltigen Diätpläne einiger Sportler zusammengetragen. Nur Deborah Solomon schert aus und unterhält sich mit Victoria Gotti, Tochter des Mafiabosses John Gotti, über ihre neue Reality Show.
Archiv: New York Times