Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.09.2004. Im Schweizer Magazin DU beweisen Amerikaner, dass sie immer noch die besten und schärfsten Kritiker ihres Landes sind. Die New York Review of Books erklärt die Demokratisierung des Iraks für beendet. Im Nouvel Obs erläutert Gilles Kepel den Unterschied zwischen Dschihad und Fitna und was das alles mit Andalusien zu tun hat. In Plus-Minus erinnert sich Jadwiga Staniszki an die Gründung der Solidarnosc. In der Gazeta Wyborcza erklärt uns Jurij Lewada die Regeln von Putinistan. Al-Ahram stellt ein jüdisches Kochbuch vor. Im New Yorker lernen wir von Philip Gourevitch, warum George W. Bushs Körper die Wahlen gewinnen könnte. In L'Express konstatiert Alain Finkielkraut die Niederlage des antitotalitären Denkens.

DU (Schweiz), 01.09.2004

DU, das Schweizer Magazin für Kultur, hat seine Septemberausgabe ganz Amerika gewidmet. Der Schriftsteller Charles Simic hat sich aus dem gottfernen New York in den erzfrommen Süden gewagt. Angesichts seiner Eindrücke fragt er sich bange, "wie lange noch" die USA ein säkularisierter Staat sein werden: "Es heißt, als Präsident Bush diesen Sommer den Papst besuchte, habe er versucht, den Vatikan dafür zu gewinnen, ihn bei seiner Wiederwahl zu unterstützen. Bei der religiösen Rechten in den Vereinigten Staaten ist er auf solche Appelle nicht angewiesen. Während der vielen Stunden, die ich in Mississippi und Alabama im Auto unterwegs war und christlichen Rundfunk hörte, drängte sich mir der Eindruck auf, dass die Bibel die beste Informationsquelle zum aktuellen Geschehen und der einzige Führer sei, den man braucht, um seine Entscheidung für die Wahlen zu treffen. Die Kriege, die der Präsident uns versprochen hat, sind dort alle vorausgesagt. Der Antichrist ist unter uns, und er heißt Kofi Annan oder Jassir Arafat." (Diesen und die beiden folgenden Artikel finden Sie online hier - alle untereinander auf einer Seite.)

Peter Haffner führt ein langes Interview mit Joseph S. Nye, dem Dekan der John F. Kennedy School of Government in Harvard. Unter anderem beklagt Nye das "Aufmerksamkeitsmangel-Syndrom" der US-Außenpolitik und erklärt, warum Amerikaner viel "zu ungeduldig" sind, um ein Empire zu errichten. Er sagt aber auch: Europa braucht ein starkes Amerika. William Pfaff, Autor der International Herald Tribune, erläutert kenntnisreich und lesenswert die historischen Gründe dafür, dass Amerika momentan "zerrüttet, zerlegt, gespalten und sogar demoralisiert" ist.

Nur im Print: Martin Kilian porträtiert Tim Russert, den "berüchtigtsten Interviewer" Amerikas. Greil Marcus spricht im Interview über Politik, Kultur, die USA und Europa. Der Politologe Michael Walzer spricht im Interview über die Immigration - el futuro de los Estados Unidos. Jörg Häntzschel hat Yale University, Ltd. besucht. Und Ted Halstead und Michael Lind machen Vorschläge für eine amerikanische Sozialpolitik im 21. Jahrhundert.
Archiv: DU

Express (Frankreich), 30.08.2004

Haben wir das Gespräch letzte Woche übersehen, oder ist es jetzt erst online? Dominique Simonnet unterhält sich mit Alain Finkielkraut, der in gewohnter Brillanz gegen den Antirassismus als "Ideologie unserer Zeit" wettert, welche Lizenzen an den Antisemitismus durchaus einschließt (das Gespräch stand im Express vom 30. August). Die antitotalitäre Linke hat gegen die "progressive Linke" verloren, schließt Finkielkraut bitter. "Man hätte glauben können, dass der Mauerfall die Illusionen der progressiven Linken zum Einsturz gebracht hätte. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der Antitotalitarismus ist im selben Moment verschwunden wie die totalitären Systeme. Das Wort 'Totalitarismus' ist dabei allerdings nicht in Vergessenheit geraten. Damit bezeichnet man heute die 'Hypermacht' Amerika, die so böse ist, dass sie nicht nur ihre eigenen bösen Taten ausheckt, sondern auch noch die der anderen: Ist bin Laden nicht ihr Produkt, hat sie Sadddam Hussein nicht bewaffnet? Dieser Gebrauch des Totalitarismusbegriffs besiegelt die Niederlage des antitotalitären Denkens und die Rückkehr der absoluten Politik."
Archiv: Express

Nouvel Observateur (Frankreich), 02.09.2004

Im Debattenteil wird eine Studie des Islamwissenschaftlers Gilles Kepel vorgestellt, die sich mit der "Fitna", dem "Krieg im Herzen des Islam" beschäftigt (Gallimard). Djihad und Fitna, erfahren wir, bilden ein Paar. Während der Djihad eine "positive Bewegung" mit dem Zweck der Verbreitung des Islam sei, stelle die Fitna "das Chaos im Kern der gläubigen Gemeinde" dar, das die "Gewalt ins Innere der islamischen Welt" projiziere und zu ihrem "Ende" zu führen drohe. Für Kepel begannen seine Auseinandersetzungen mit diesem Thema vor zwanzig Jahren nach einem Gespräch mit einem weiblichen Mitglied der Gruppe Freres musulmans in Ägypten. "Sie erklärte, dass die Rückeroberung von Andalusien ein vorrangiges Ziel der Muslime sei. Dieser Anspruch erschien mir vollkommen grotesk. Später, während des Kriegs in Afghanistan, erklärte dann ein Vertreter des Dschihad, dass nun die Stunde gekommen sei, die derzeit von Gottlosen besetzten islamischen Länder zurückzuerobern: das von den Russen besetzte Afghanistan, das von den Juden besetzte Palästina und, unter anderem, das von den Christen besetzte Andalusien."

In einem weiteren Debattenbeitrag erläutert der in Kenia geborene Mitgründer der israelischen Organisation Gush Shalom (Friedensblock), Oren Medicks, seine Forderung, wonach die "Diaspora den Kampf gegen den Antisemitismus nicht mit der blinden Verteidigungshaltung des israelischen Staates Israel verwechseln" dürften. Die Juden in der Diaspora sollten sich vielmehr "ohne Scheu und Komplexe, ohne in die Falle des Gedankens zu geraten, ihre Solidarität mit Israel stünde auf dem Spiel" für Friedensverhandlungen einsetzen. Das wäre "ein Beweis wahrer und vernünftiger Solidarität" - im Gegensatz zu dem "Glauben, Konzessionen gegenüber der israelischen Politik stellten die einzig wirksame Strategie gegen den Antisemitismus dar".

In der Abteilung Livres geht es in dieser Woche sehr privat und (auto)biografisch zu. Mit einem Porträt und Interview wird der katalalanische Schriftsteller Enrique Vila-Matas vorgestellt, der jetzt seine Erinnerungen an zwei Jahre in Paris vorlegt, in denen er in Marguerite Duras? Dienstmädchenkammer wohnte ("Paris ne finit jamais", Christian Bourgois). Besprochen werden ein Band über die "Indiskretion der Brüder Goncourt" von Roger Kempf (Grasset), eine Biografie der Ehefrau von de Sade ("Renee-Pelagie, Marquise de Sade" von Gerard Badou, Payot) und eine Biografie der Mutter von Marcel Proust ("Madame Proust" von Evelyne Bloch-Dano, Grasset), ein Pro und Contra verhandelt den Roman "La Rebelle" von Benoit Duteurtre (Gallimard).

New York Review of Books (USA), 23.09.2004

Von den Ambitionen der USA, den Irak zu demokratisieren, scheint für Peter W. Galbraith nicht mehr viel übrig geblieben. Gefragt seien jetzt "Realismus" und Sicherheit, nicht Demokratisierung und Nation-building. "Innerhalb von wenigen Tagen nach seiner Designierung als Premier sprach Ijad Allawi offen davon, die Wahlen zu verschieben, und gab sich selbst das Recht, den Kriegszustand zu verhängen. Anfang August ließ er zur Strafe für unbotmäßige Berichterstattung das Bagdader Büro von al-Dschasira schließen. Währenddessen ließ die Bush-Administration die irakische Übergangsverfassung als Totgeburt fallen - zusammen mit dem ganzen Trara um den Schutz der Menschenrechte, Frauen und Demokratie."

Weiteres: Arthur Schlesinger empfiehlt zwei neue Bücher zur Frage, wie die USA in den irakischen Schlamassel geraten konnten: James Mann analysiert in "Rise of the Vulcans" die politische Agenda der Neocons, James Bamford konzentriert sich auf die Geheimdienste (wobei er sogar Hinweise haben will, dass der Mossad gewusst hat, dass der Irak über keine Massenvernichtungswaffen verfügt).

Thomas Powers moniert, dass der US-Senat in seinem Bericht zu Arbeit der Geheimdienste das Weiße Haus und George W. Bush völlig ausgespart hat. Anders der Bericht der 9/11-Kommission: Dafür, dass sich beide Parteien von vornherein darauf verständigt hatten, dem Präsidenten keine Schuld zuzuweisen, hat Bush doch noch eine Menge abbekommen, befindet Elizabeth Drew. Richard Horton sucht nach Gründen, warum noch immer kein Impfstoff gegen Aids gefunden werden konnte.

Besprochen werden unter anderem Ian Caldwells und Dustin Thomsons Campus-Thriller "The Rule of Four" und eine Ausgabe von Edward Albees sämtlichen Theaterstücken.

Outlook India (Indien), 13.09.2004

Der "dirty old man" der indischen Literatur kann es auch mit 90 Jahren nicht lassen: Khushwant Singh hat ein neues Buch mit Kurzgeschichten ("Paradise and Other Stories") veröffentlicht, in denen wie immer, schreibt der Rezensent Sam Miller, Brüste und Penisse prominente Rollen spielen, wobei sie dieses Mal hinter einem anderen Thema zurücktreten müssen. Denn Singh hat es auf "religiöse Irrationalität (inklusive Astrologie, Numerologie und Tarot-Karten)" abgesehen, und herausgekommen sind ein paar mäßige und ein paar richtig gute (und teilweise teuflisch komische) Erzählungen, die Miller zum Anlass nimmt, die Karriere des oft verkannten Autors zu bilanzieren. Er lobt ihn als glänzenden Stilisten und schließt wie folgt: "Wie der verstorbene Dom Moraes (...) ist er besessen von weiblichen Brüsten. (Wurden sie nicht lange genug gestillt?) Doch sollte man Singhs Beschäftigung mit Sex als Angriff auf die Heuchelei bei diesem Thema deuten. Schließlich ist das moderne Indien das Ergebnis von einer Milliarde Geschlechtsakten. Nicht zu vergessen die vielen Milliarden, die nicht zur Zeugung von Nachwuchs führten - wenn das kein Thema für Khushwant Singhs nächsten Bestseller ist."

Ein Fall für Singh wäre folgende Angelegenheit: "Selbst Götter kommen mit einem vorherbestimmten Schicksal zur Welt" - zumindest ist Arun K. Bansal dieser Ansicht, seines Zeichens "Vater der Computerastrologie in Indien". Bansal hat Programme entwickelt, mit deren Hilfe er das Geburtsdatum Krishnas bestimmt hat: Es ist der 21. Juli 3228 vor Christus. Smita Mitra hat sich angeschaut, was für den Göttlichen in Sachen Liebe, Partnerschaft und Laufbahn in den Sternen stand. (Mehr über Bansal hier und hier.)

Außerdem: Zwei Mal Indiens Gegenwart. Sheela Reddy beobachtet anerkennend, wie der neue Premierminister Manmohan Singh, angetreten als Ersatz für Sonia Gandhi, immer mehr an Profil gewinnt: entschlossen, sicher im Auftreten und standhaft, wenn es sein muss - "die Tage des gesichtslosen und schüchternen Manmohan sind gezählt." Und es sieht nicht so aus, als hielte er den Regierungsstuhl nur warm für Rahul, den jüngsten Gandhi mit Ambitionen aufs höchste Amt. Und Anita Pratap bricht eine Lanze für den Säkularismus, der wieder zu Kräften zu kommen scheint, nachdem er in den vergangenen Jahrzehnten in Misskredit geriet: "Der Kongress hat ihn in Verruf gebracht, die BJP hat ihm die Schlinge um den Hals gelegt." Immer wieder hieß es, Säkularismus diene nur der Beruhigung von Minderheiten oder sei religionsfeindlich. Nicht wahr, meint Pratap: Säkularismus bedeutet Trennung von Kirche und Staat - und Hinduismus Toleranz. Ganz im Gegensatz zur Hindutva-Ideologie (mehr hier und hier).
Archiv: Outlook India

Plus - Minus (Polen), 04.09.2004

In einem Interview mit dem Magazin der Rzeczpospolita erinnert sich die Soziologin Jadwiga Staniszkis an die Ereignisse auf der Danziger Lenin-Werft vor 24 Jahren: "Es war ein vor-politisches Moment. Die Menschen fühlten, dass sie etwas hatten, das sie verteidigen wollten. Sie wollten, dass diese neu entdeckte Würde und die Fähigkeit, Nein zu sagen, anerkannt werden. Es entstand eine Sprache des Kampfes zwischen Gut und Böse, und sie, die Arbeiter, fühlten sich auf der Seite des Guten." Staniszki, die damals dabei war, erinnert sich auch daran, wie allgegenwärtig das Gefühl war, alles aufs Spiel zu setzen, bevor am 31. August 1980 durch das Abkommen über die Anerkennung der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarnosc" ein Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte markiert wurde, und wie dankbar die Arbeiter dafür waren, dass Staniszki sich aus Anlass dieses feierlichen Ereignisses fein angezogen hatte.

In der monatlichen Literaturbeilage spricht die Schriftstellerin Olga Tokarczuk (mehr hier und hier), über ihr neues Buch "Letzte Geschichten" und versucht zu erklären, warum es für die Schriftsteller von heute so schwer ist, Realität zu beschreiben: "Ich habe oft das Gefühl, dass die Wirklichkeit zu derb, überzeichnet ist, ja, gar von schlechtem Geschmack zeugt, da sie arrogant und unkontrolliert daher kommt. Wenn Schriftsteller sie erschaffen würden, wäre sie viel balancierter und vorhersehbarer."
Archiv: Plus - Minus

Espresso (Italien), 09.09.2004

Was passiert, wenn aus einem Buch ein Film wird, fragt sich der Semiotiker Umberto Eco (eine randvolle Seite mit Ecos Spuren im Netz finden sie hier). Zum einen wird dem Zuschauer die Interpretationsarbeit abgenommen, die der Leser ganz alleine leisten muss. Die Sache ist aber noch komplizierter, schreibt Eco in der Bustina: "Der Unterschied scheint mir darin zu liegen, dass der Leser eines Romans, der nicht denkt (nicht mitarbeitet) alles verliert, und etwa von der flaubertinischen Melancholie der Schiffe in 'L'education sentimetale' überhaupt nichts mitbekommt. Der Kinozuschauer dagegen, der nicht denkt, ist am Ende der Vorführung überzeugt, etwas mitgenommen zu haben, wenn auch nur den Eindruck, dass diese Person dass Meer befahren hat, und darüber hinaus vielleicht noch ein paar schöne Reiseimpressionen. Das Kino scheint eine populäre Kunst zu sein, in Wirklichkeit aber ist sie außerordentlich klassenbewusst (und darin liegt der kommerzielle Vorteil): es belohnt kognitiv den Zuschauer, der denkt, und tröstet auf jeden Fall denjenigen, der nicht denkt (aber trotzdem zahlt)."

Weiteres: Aus New York berichten Enrico Pedemonte und Andrea Visconti vom Parteitag der Republikaner und dem Flirt George Bushs mit der wahlentscheidenden Mitte. Im Titel wertet Maurizio Maggi eine Wirtschaftstudie des Espresso aus, nach der immer mehr Italiener Angst vorm Armsein haben und deshalb sparen, was das Zeug hält. Hört sich sehr deutsch an.
Archiv: Espresso

New Yorker (USA), 13.09.2004

Mit ebenso gründlicher wie gnadenloser Beobachtungsgabe analysiert Philip Gourevitch (mehr), wie George W. Bush es schafft, mit seinem "derben Stil die Massen zu gewinnen". Über Bushs Auftreten schreibt er: "Bush betreibt seine Kampagne mit der eifrigen Selbstgefälligkeit eines geborenen Schmierenkomödianten. Wenn er sagt, dass er Ihre Stimme will, formt er die Worte nicht nur mit dem Mund, sondern folgt ihnen mit dem ganzen Körper, stellt sich auf die Zehenspitzen und neigt sich Ihnen sehnsüchtig entgegen. [?] Umfragen zeigen, dass die Amerikaner ihn offenbar sympathischer finden als seine Politik. Aber man muss ihn nicht einmal mögen, um zu bewundern, wie wahrhaft zu Hause er in seinem Körper zu sein scheint." Selbst die zahllosen Fotos, die ihn in "bizarren oder komischen Positionen" zeigen, könnten ihm nichts anhaben: "Auch wenn er dämlich oder einfach gewöhnlich aussieht, verfügt Bush stets über eine ausdrucksvolle Präsenz."

David Remnick porträtiert Al Gore, der jetzt "in einer Straße in Nashville" lebt. Paul Goldberger schreibt über einen neuen Trend in den Hamptons, sich Häuser von namhaften Architekten bauen zu lassen.

Ganz aus dem Häuschen ist Adam Gopnik über eine neue Shakespeare-Biografie des Harvard-Professors Stephen Greenblatt: "erstaunlich gut, die intelligenteste, feinsinnigste und bisher auch enthusiastischste Studie über Leben und Werk, die ich je gelesen habe" ("Will in the World", Norton, erscheint im September im Berlin Verlag). Deutlich gelassener bespricht Thomas Mallon eine Gesamtausgabe der Erzählungen von Truman Capote sowie einen Band mit Briefen des Autors (beide Random House). Die Kurzbesprechungen waren zumindest bis Redaktionsschluss leider nur als schwarzes Quadrat abrufbar. David Denby sah im Kino den neuen Film von Vincent Gallo "The Brown Bunny" und weist auf eine Murnau-Retrospektive hin.

Nur in der Printausgabe: die Beschreibung eines romantischen Sommernachmittags auf dem Land und Lyrik von Charles Simic und Anthony Hecht.
Archiv: New Yorker

Gazeta Wyborcza (Polen), 04.09.2004

"So war und ist unsere Gesellschaft - erbärmlich und eingeschüchtert". Im Gespräch mit der Wochenendbeilage der Gazeta Wyborcza berichtet der russische Soziologe Jurij Lewada, der frühere Leiter des inzwischen aufgelösten Russischen Meinungsforschungsinstituts WTZIOM-A, über die Realität des vom Terror erschütterten, von KGB-Kadern beherrschten und von korrumpierten Politikern und Richtern kontrollierten Putinistan. "Putin war nie ein höher gestellter Funktionär des Geheimdienstes. Er war daran gewöhnt, auf die zu hören, die über ihm standen. Man weiß nicht, ob er je jemanden befehligte. Überhaupt weiß man nicht, was er im Geheimdienst gemacht hat, aber es scheint, dass er nicht den Anderen nachspürte, sonern den Seinen." Zur Lage in Tschetschenien meint Lewada: "Noch niemand hat einen Partisanenkrieg gewonnen. Nicht in Algerien, nicht in Vietnam, nicht in Afrika. Wenn es überhaupt einen Weg gibt, solch einen Krieg zu beenden, dann müssen wir nach Europa schauen. Es ist doch nie jemanden in den Sinn gekommen, Nordirland mithilfe von Kampfflugzeugen in ein Tschetschenien zu verwandeln, auch wenn man aus englischer Sicht von einer terroristischen Aktivität in dem Gebiet sprechen kann. Aber wir sind nicht England, sondern ein etwas asiatisches Land." Die Lösung der Tschetschenienfrage erfordere entweder den Mut zum Rückzug wie ihn Charles de Gaulle hatte, oder eine internationale Lösung wie im Kosovo. "Aber dem wird unser Präsindet nicht zustimmen, und der Westen wird in der heutigen Situation keinen Streit darüber riskieren."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Point (Frankreich), 03.09.2004

Bernard-Henri Levy kommentiert in seiner Kolumne die Entführung zweier französischer Journalisten und die Reaktion der französischen Öffentlichkeit auf die Verhandlungskünste der Regierung. "Liegt nicht in unserer Freude über die Aufrufe zur Vernunft durch libanesische Hisbollah-Führer oder Kämpfer der palästinensischen Hamas etwas Seltsames, ja extrem Beunruhigendes? Warum behaupten diejenigen, die sonst zu Mord an 'Juden und Ungläubigen' aufrufen, hier habe man sich im Ziel geirrt?" Es entpuppe sich hier der geheime Sinn jener "famosen arabischen Politik" Frankreichs, so Levy weiter, der darin gelegen habe "uns vor den Schlägen zu schützen. Ist das nicht alles furchtbar beschämend?"
Archiv: Point

Economist (UK), 03.09.2004

Wenn Diplomaten den Mund aufmachen, kann es schon mal neblig werden. Damit müssen selbst (Sprach-)Kummer gewohnte Euro-Diplomaten leben, hat der Economist bei einem Streifzug durch den Europäischen Gerichtshof entdeckt. Zu seiner großen Überraschung fand er in einem der Bürozimmer einen Leitfaden vor, der den im Englischen so bewanderten Niederländern erklärt, wie sie bestimmte Redewendungen der Briten zu verstehen haben: "... wenn ein Brite 'übrigens' sagt, verstehen Ausländer dies meistens als 'das ist nicht so wichtig', während der Brite eigentlich 'Der eigentliche Zweck unserer Diskussion ist?' gemeint hat. Der Satz 'Ich werde darüber nachdenken' hingegen bedeutet 'Ich werde mich nicht darum kümmern', während 'Berichtigen Sie mich, falls ich mich täuschen sollte' heißt 'Ich habe Recht, bitte widersprechen Sie mir nicht'." Und jetzt der Test: "Wieviele Nicht-Briten würden die Ironie (und die literarische Anspielung) verstehen, die sich hinter dem Ausdruck 'up to a point' ('bis zu einem gewissen Punkt') verbirgt, der als 'nein, nicht im geringsten' gebraucht wird?"

Dass kein Geiger der Welt eine Stradivari besitzen, sondern nur ein (hoffentlich würdiger) Meilenstein in ihrem langen Geigen-Leben sein kann, hat der Economist in Toby Fabers bemerkenswertem Buch über das Leben von sechs Stradivari-Instrumenten gelernt ("Stradivarius: Five Violins, One Cello and a Genius").

Weitere Artikel: Achtung, bitte loben Sie jetzt - Wie der Economist berichtet, bringt die Volksrepublik China anlässlich der Olympischen Spiele 2008 in Peking ein chinesisches Konversationsbuch heraus, in dem das Land der Mitte unablässig in den Himmel gehoben wird. Geradezu machiavellistisch - und dennoch nicht immer weise - erscheint Dick Cheney, "der andere US-Präsident" im Porträt. Der Economist möchte Elisabeth Kübler-Ross als die Frau in Erinnerung behalten, der es zu verdanken ist, dass das Sterben würdiger wurde. Jennifer McCoy, leitende Wahlbeobachterin in Venezuela, erklärt, warum der Volksentscheid, bei der Hugo Chavez in seinem Amt als Präsident bestätigt wurde, nicht manipuliert gewesen sein kann (das nämlich behauptet die Opposition). Deutschland braucht: Denkfabriken, lesen wir. Und schließlich langweilt Harvard durch seinen erneuten (und unangefochtenen) Platz 1 im weltweiten Universitäten-Ranking.

Der Titel behauptet: neue Arten von Autos produzieren eine neue Art von Autoindustrie. Dazu gibt es ein ganzes Dossier mit Artikeln, die Sie im Inhaltsverzeichnis finden und auch lesen dürfen.
Archiv: Economist

Times Literary Supplement (UK), 03.09.2004

Völlig erschöpft resümiert Keith Miller das Edinburgher Fringe Festival: "Es fällt schwer, nicht wie ein Intourist-Führer zu klingen, der eine Reisegruppe durch die Höhepunkte eines Fünf-Jahres-Plans führt: 1.695 Shows an 230 Orten, nicht berechnet all die Musikanten, Gaukler und Dudelsackpfeifer auf den Straßen. Wenn man all die Mimen aneinander legen würden, könnten sie vormachen, wie sie alle in eine Telefonzelle passen, die allerdings die Größe von Angkor Wat haben müsste. Die Spesen der akkreditierten Journalisten würden zusammen die Jahresmitgliedschaft von ganz Burkina Faso im Groucho Club ausmachen." Wie also Durchblick bewahren? "Als einzige sinnvolle Strategie erscheint mir, festzulegen, was man nicht tun sollte: keine Shows, zu denen man von Männern auf Stelzen oder Frauen in BHs eingeladen wird, oder von irgendjemandem mit einem bemalten Gesicht, keine Shows, bei denen der Produzent mit der Hauptdarstellerin verheiratet ist; keine Studenten-Aufführungen von Mamet." Peter Zadeks "Peer Gynt" fand Miller trotz einer gewissen "teutonischen Brutalität" gar nicht übel.

Clive James bemüht sich, Isaiah Berlins Briefen von 1928-1946 irgendwie "Lehrreiches" abzugewinnen, auch wenn sich Berlin darin mehr mit der Rivalität der beiden Oxford Colleges Balliol und All Souls beschäftigt als mit der Weltlage.

Besprochen werden außerdem David Lodges leider recht "undramatischer" Roman "Author, Author" über Henry James und Paul Murrays Bram-Stoker-Biografie "From the Shadow of Dracula", die zu Freude des Rezensenten Stokers Roman nicht noch einmal als "inzestuöse, nekrophile, oral-anal-sadistische" Fantasie interpretiert, sondern historisch.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 02.09.2004

Ein Kochbuch und die Erinnerung an andere, bessere Zeiten: Fatemah Farag hat Claudia Rodens "Book of Jewish Food: An Odyssey from Samarkand to New York" mit knurrendem Magen und mindestens einem weinenden Auge gelesen, denn es enthält nicht nur Rezepte, sondern erzählt die Geschichte der jüdischen Küche auch als Geschichte eines kosmopolitischen Nahen Ostens, der einstigen jüdischen Communities von Kairo und Bagdad. Es ist eine Geschichte, die in den Gerichten selber - ihrer Herkunft, ihren Zutaten, ihren Entwicklungen - enthalten ist. "Vielleicht liegt es daran", schreibt Farag, "dass ich nach dem Zuklappen des Buches, während ich mich daran mache, die Zwiebeln zu schmoren, die wir über unsere Bessara streuen, erkenne, dass Reden die Nostalgie dort entfacht, wo sie am spürbarsten ist - in der Magengrube."

Die Frankfurter Buchmesse steht vor der Tür, und in den Büros der Arabischen Liga herrscht hektische Betriebsamkeit: Bücher müssen gepackt und letzte Übersetzungen fertiggestellt werden, außerdem fehlen noch Gelder von beteiligten Staaten. Die arabische Welt, Ehrengast in Frankfurt, will sich in ihrer großen Vielfalt präsentieren, um so dem negativen Bild, das im Westen vorherrsche, zu begegnen. Doch es gibt auch kritische Stimmen in den eigenen Reihen - Dina Ezzat erklärt, warum.

Michael Moores "Fahrenheit 9/11" ist, begleitet von einer enormen Werbekampagne, in Ägypten angelaufen: Hani Mustafa hofft, dass der Erfolg des Films die marginale Position von Dokumentarfilmen im ägyptischen Kino beendet. Und Amira Howeidy war zunächst erstaunt, dass der Film, nachdem er in einem Großteil der arabischen Welt verboten wurde, überhaupt anlief. Nachdem sie ihn jetzt sehen konnte, ist sie enttäuscht: Wenn Moore - mit gutem Grund - die negativen Auswirkungen von Bushs Politik auf die eigene Bevölkerung betont, wo bleiben in "Fahrenheit 9/11" die Hauptopfer des Patriot Act, die arabischen Amerikaner? Und könnte es sein, dass hinter der süffisanten Entlarvung der saudisch-amerikanischen Beziehungen ein klein wenig Rassismus steckt?
Archiv: Al Ahram Weekly

Encuentros (Spanien / Kuba), 02.09.2004

450 Kilometer von Havanna entfernt sitzt der kubanische Dichter und Journalist Raul Rivero eine zwanzigjährige Gefängnisstrafe ab. Obwohl der 59-jährige schwer krank ist, weigert sich die Gefängnisaufsicht, ihm die benötigten Medikamente zu übergeben. "Sie wollen ihn erniedrigen, um ihn innerlich zu brechen", hat seine Frau jüngst der Organisation Reporter ohne Grenzen zu Protokoll gegeben. In einem Offenen Brief an den spanischen Regierungschef, Jose Luis Rodriguez Zapatero, bittet nun der Chefredakteur der kubanischen Zeitschrift Encuentro, Manuel Diaz Martinez, gegen diese "menschenunwürdigen Haftbedingungen" zu intervenieren. Der Umgang mit Rivero kontrastiere nur scheinbar mit den in letzter Zeit anderen politischen Gefangenen zugestandenen Hafterleichterungen, wie Encuentro in einem weiteren Artikel zu diesem Thema berichtet: "Weltweit ist Kuba mit 26 Inhaftierten, nach China, mit 27, das zweitgrößte Gefängnis für Journalisten. Sie wurden im März 2003 zusammen mit rund fünfzig Dissidenten verhaftet und zu Haftstrafen zwischen 14 und 27 Jahren verurteilt".

"Das von Hugo Chavez gewonnene Referendum ist für Venezuela ein schlechtes Symptom. Nicht weil Chavez es gewonnen hat, sondern weil es überhaupt stattfand. Für die Demokratie ist eine zweigeteilte Gesellschaft die denkbar schlechteste Nachricht", schreibt Hector Aguilar Camin in einem kurzen pointierten Kommentar. Der mexikanische Romancier wundert sich sehr, wie jemand so unseriöses wie Chavez derart erfolgreich sein kann. Das "Mysterium Chavez ist das Mysterium des lateinamerikanischen Populismus. Irgendwer müsste mal erklären, wie ein für unsere Länder so schädlicher politischer Habitus weiterhin so erfolgreich sein kann und in der Vorstellung vieler Lateinamerikaner als stolze, würdige, in mancher Hinsicht heroische und wahrhaft volkstümliche Alternative gilt". Mehr aus der venezolanischen Innenperspektive analysiert Yamila Rodriguez Eduarte den Ausgang des Referendums. Nach all den politischen Turbulenzen müsse Chavez sich nun dringend der Wirtschaft zuwenden. "Die zu Vorwahlzeiten mit hohen Erdölpreisen finanzierte Spendierfreudigkeit wird nicht ewig andauern", mahnt sie an.

Alejandro Armengol indes versucht aus kubanischer Sicht den Erfolg von "Lagrimas Negras" zu erklären, einer wunderschönen Aufnahme klassischer Boleros, die von Altmeister Bebo Valdes vertont und von Flamenco-Größe Diego "El Cigala" gesungen werden. In Spanien ist diese geradezu perfekte Platte schon seit bald zwei Jahren ein nur mit Buena Vista Social Club vergleichbares Phänomen. Obwohl auch von einem Kritiker der New York Times zur besten CD von 2003 erkoren, soll sie erst jetzt in Deutschland erscheinen. Entscheidend sei das auf das Wesentliche reduzierte Klavierspiel des Virtuosen Bebo Valdes, meint Armengol. "'Lagrimas Negras' lässt uns mit dem Gefühl zurück, noch ein bisschen in der Bar ausharren zu wollen, bis Sänger und Pianist zurückkehren". (Hier was zum Hören, einen Augenblick warten, dann geht's los)
Archiv: Encuentros

New York Times (USA), 05.09.2004

Eine jüdische Familie, die 1935 von Berlin nach New York zieht, der Vater ein Häretiker, die Mutter eine von den Nazis vertriebene Ärztin, fünf schwierige Kinder, und ein 18-jähriges Hausmädchen, die das alles erzählt. John Leonard preist Cynthia Ozicks neuen Roman "Heir to the Glimmering World" (erstes Kapitel) als "brillante Beschreibung zerstörter Welten". Wer jetzt noch zweifelt, dem schenkt Leonard nach: Das Buch sei "ein Märchen mit verschlossenen Räumen, irren Gesängen, geheimen Büchern und geraubten Babies. Und eine Kindergeschichte, eine Ödipus-Tragödie über den Mord am Vater und das Weitermachen danach. Und ein Nachfolger des viktorianischen Romans. Aber auch eine grimmige Parabel über 'Säuberungen'." Alles in einem Buch.

Weitere Besprechungen: Jeff Turrentine liest neu erschienene Kurzgeschichten als Analyse der kollektiven Gemütsverfassung seiner Landsleute nach dem 11. September. Bwundernswert, wie tief sich die Journalistin Lorraine Adams für ihren Erstling "Harbor" (erstes Kapitel) in die algerische Gemeinde der USA hineinrecherchiert hat, staunt Neil Gordon in seiner Besprechung. Der "herkuleanische" Eifer, mit dem Eli Zaretsky riesige Mengen an Material für ihre Geschichte der Psychoanalyse zusammengetragen hat, nötigt Daphne Merkin zwar Respekt ab. Allerdings stört sie neben dem "pedantischen Stil" auch der "Soziologenjargon", in dem "Secrets of the Soul" (erstes Kapitel) gehalten ist. Das "Letzte Wort" hat Laura Miller, die sich dem derzeit erfolgreichen Genre der alternativen Geschichtsschreibung zuwendet.

Das New York Times Magazine lohnt sich wieder mal: Lynn Hirschberg liefert ein Porträt der spanischen Regie-Ikone Pedro Almodovar, zum Ausdrucken und in Ruhe lesen. So fängt es an: "Im Stau in einer schwarzen Limousine auf dem Weg zum Palais des Festivals für die Cannes-Premiere seines neuen Films "Bad Education", wirkte Pedro Almodovar, wie so oft, ängstlich und neugierig zugleich. Er zappelte, er wuselte. Als er das Fenster herunterließ, schrien die Paparazzi, die in drei Reihen tief gestaffelt neben dem langsam fahrenden Auto herliefen: 'Pedro! Pedro!' und verdeckten seinen Blick auf die Straße, wo die Wände mit seinem Bild gepflastert waren und die Fans darauf warteten, ihn zu überrennen. Er versuchte daran vorbei zu sehen zu sehen. Ihn interessierte was eine Frau in der Menge anhatte, welche Beziehung zwei Männer zueinander hatten, die Eis aßen. Er suchte nach Einzelheiten, nach den ersten Anzeichen einer Geschichte, nach dem Film." Als Bonbon gibt es eine Bilderstrecke mit Almodovars Filmfrauen.

Außerdem: Samantha M. Shapiro stellt eine christliche Universität bei Los Angeles vor, wo zwar stramme Christen herangezogen werden sollen, aber auch die Moderne Einlass erhält. Roger Lowenstein leidet mit den Präsidentschaftsbewerbern, die versprechen müssen, was sie nicht halten können: Jobs. Im Leitartikel haut David Rieff in die gleiche Kerbe und beschreibt die Zwänge, in denen der zukünftig mächtigste Mann der Welt stecken wird. Deborah Solomon spricht schließlich mit Elizabeth Edwards, Frau des demokratischen Vizepräsidentschaftskandidaten.
Archiv: New York Times