Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.09.2004. Al-Ahram wünscht sich für Frankfurt auch politische Diskussionen - auch wenn das einen Verstoß gegen die arabische Etikette bedeutet. Die London Review streitet mit einer amerikanischen Republikanerin über Kultur. Der New Yorker porträtiert das Naturkind Teresa Heinz Kerry. Outlook India verreißt den neuen Naipaul. Das ungarische ES-Magazin besucht das Museum für Tragbare Intelligenz zum Quadrat. Der Economist forderte eine Fatwa gegen Osama Bin Laden. Im polnischen Plus-Minus diagnostiziert der Philosoph Zdzislaw Krasnodebski eine Ungleichzeitigkeit in Polen und Deutschland. In der New York Times schreibt Philip Roth über den Antisemitismus und Arthur Miller schweigt über Marilyn.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 16.09.2004

Al-Ahram setzt die Kritik am offiziellen Auftritt der arabischen Welt bei der Frankfurter Buchmesse fort. Gamal Zayda beklagt die "technokratische Mentalität" der Verantwortlichen, denen nur daran gelegen sei, einen guten Eindruck zu hinterlassen und sich als ebenbürtig darzustellen. Wie aber soll es zu einem sinnvollen Dialog zwischen der arabischen Welt und dem Westen kommen, wenn politische Themen - wie von Mohamed Ghoneim, einem Verantwortlicher für das Programm, gefordert - ausgeklammert werden? Wird es in Frankfurt also gegen die Etikette der arabischen Präsentation verstoßen, über die gegenwärtigen Konflikte zwischen dem Westen und den arabischen Ländern zu reden? Wann wird man etwas über die verkümmerte Lesekultur der Gastländer erfahren? Und wo sind sie, die jungen, aufstrebenden arabischen Schriftsteller der Zukunft? Auf der Teilnehmerliste stehen sie nämlich nicht - dafür, so der bittere Kommentar Zaydas, hat das Kulturestablishment gesorgt.

Optimistisch gibt sich dagegen Volker Neumann, der Präsident der Buchmesse, im Gespräch mit Jürgen Stryjak. Dina Ezzat hat sich die Gestaltung des arabischen Pavillons angeschaut (transparente Stellwände zur Signalisierung von Offenheit, Vermeidung heroisierender Darstellungen, dafür viel Kalligraphie als grundlegendes Zeichen von kulturellem Ausdruck und Vielfalt) und den Verantwortlichen auf deutscher und arabischer Seite zugehört, und hat ebenfalls Gründe für Zuversicht gefunden.

Was bedeutet der Sieg der Konsumgesellschaft, kombiniert mit immer stärkeren sozialen Unterschieden, für die Zukunft arabischer Großstädte? Die Soziologin Mona Abazza skizziert einen Entwurf, in dessen Zentrum das ausgedehnte, von der immer ärmlicheren Außenwelt isolierte Einkaufszentrum steht: die Mall als neues Symbol nationaler Größe, als Erholungsgebiet und Fluchtpunkt, als Themenpark, als eine "Welt simulierten sozialen Aufstiegs", als Arena geschlechterspezifischer Szenarien und als Generator neuer Jugendkulturen.

Ibrahim Nafie, Chefredakteur von Al-Ahram, hat ein Buch über die Dämonisierung des Islam in der westlichen Welt geschrieben ("Green Peril" Madness - the Campaign to Distort Islam), in dem er mit den Mitteln der historischen Analyse den gegenwärtigen und seit dem 11. September zugespitzten Antagonismus insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und der moslemischen Welt zu erklären sucht - und Möglichkeiten seiner Überwindung abzuleiten. Dina Ezzat fasst Nafies Argumentation zusammen, außerdem gibt es hier Auszüge aus dem Buch.
Archiv: Al Ahram Weekly

London Review of Books (UK), 23.09.2004

Andrew O'Hagan war auf dem Parteitag der Republikaner in New York - und ihm ist gar nicht wohl. Voller Entsetzen schildert er, was er bezeugen musste, ob am Rednerpult oder auf den billigen Plätzen. "Die Muslime hassen uns doch bloß für unsere Freiheitsliebe, sagt eine Frau aus Iowa mit einem Stoffelefanten (dem Symbol der Republikaner) auf dem Kopf. 'Die haben überhaupt keine Kultur, und sie hassen uns dafür, dass unsere großartig ist. Und sie hassen die Bibel."
- 'Ach ja?, sage ich. 'Die Irakis hatten eine Kultur, noch tausende von Jahren bevor Jesus überhaupt geboren wurde.'
- 'Was sagen Sie?'
- 'Ich sage, dass Muslime schon Tempel bauten als New York noch ein Sumpf war.'
- 'Sind Sie für die Irakis?'
- 'Nein.'
- 'Sind Sie dafür, dass unschuldige Menschen auf der Arbeit umgebracht werden? Menschen, die aus dem Fenster springen müssen?'
- 'Sie hören mir nicht zu.'
- 'Nein, mein Freund. Sie sind derjenige, der nicht zuhört. Diese Leute, für die Sie sind, versuchen unsere Kinder in ihren Betten zu töten. Und wo sind Sie überhaupt her, von der New York Times?'

An Perry Andersons Ansicht, dass die Franzosen nicht nur die meisten, sondern auch die besten Bücher über Frankreich schreiben, hat sich seit der letzten Ausgabe nichts geändert. Diesmal widmet er sich in einer sehr lesenswerten Geschichte des intellektuellen Frankreich seit 1981 all jenen, die sich gegen Frankreichs Normalisierung wehren - worunter Anderson den Abschied von den in Frankreich so lange so virulenten totalitären Versuchungen meint. Aber bedeutet die Normalisierung auch eine Banalisierung? Anderson will's nicht hoffen und zitiert zum Schluss einen Satz Raymond Arons: "Dieses scheinbar ruhige Land ist immer noch gefährlich."

Weitere Artikel: Als politischen Roman von seltener Qualität lobt Andy Beckett David Peaces "GB84", der den britischen Bergarbeiter-Streik von 1984 und dort ebenso genüsslich wie gekonnt die feine Mechanik der Versammlungen beschreibt. In Short Cuts meldet Thomas Jones Zweifel an, ob die Kurzgeschichten, die Floyd Horowitz in alten literarischen Zeitschriften gefunden hat und jetzt als Henry-James-Geschichten veröffentlicht, ("The Uncollected Henry James: Newly Discovered Stories") auch tatsächlich von des Meisters Hand sind. Und die in der National Portrait Gallery ausgestellten Modefotografien von Norman Parkinson verleiten Peter Campbell dazu, ein Stockwerk hochzugehen und die Posen auf den älteren Porträtgemälden genauer zu betrachten.

New Yorker (USA), 27.09.2004

Als "unergründliches Element auf dem Weg ins Weiße Haus" charakterisiert Judith Thurman die Kandidatengattin Teresa Heinz Kerry in einem Porträt. Der direkte Nachfahre des von den Romantikern erfundenen "Naturkinds" sei der "Held unzähliger moderner Filme und Romane: der Gefangene in einem falschen Selbst, der sich gegen die Künstlichkeit der konventionellen Erzählung auflehnt. So betrachtet gebe Teresa Heinz Kerry - ein Kind der Gesellschaft im kolonialisierten Mozambique - eine "unglaubwürdige Rebellin" ab. Ihr Geschmack und ihre Hobbys seien traditionell, wenn nicht gar "viktorianisch". "Aber wenn sie sich selbst ein 'Kind Afrikas' nennt, kann man Rousseaus Echo hören ... Die natürliche Frau in ihr lehnt es ab, ihren Elan zu zügeln und ihren Charakter einer Rolle unterzuordnen. 'Ich will mich nicht verlieren', sagte sie mir kürzlich, 'weil ich glaube, dass dann auch mein Mann alles verliert'."

In einem Brief aus Ibiza stellt Nick Paumgarten die renommierten Modefotografen Mert Alas and Marcus Piggott (Bilder) vor. Adam Greene porträtiert die Klatsch-Autorin Kitty Kelly, deren neues Buch "The Family: The Real Story of the Bush Dynasty? derzeit Wellen schlägt, weil sie darin behauptet, George W. habe früher gesoffen und gekokst. Auch die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem diesem Buch. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Hanwell in Hell" von Zadie Smith.

Besprechungen: John Updike rezensiert den neuen Roman von Literaturnobelpreisträger Jose Saramago "The Double" ("Der Doppelgänger"). Alex Ross bespricht Neueinspielungen von Mozart, Bach und Bel Canto. John Lahr lobt David Hares "Stuff Happens? über die Genese des Irakkriegs als dessen bislang bestes politisches Stück. Es wird derzeit im Londoner Royal National Theatre aufgeführt. Und Anthony Lane sah im Kino "The Motorcycle Diaries" von Walter Salles, ein Film, der auf persönlichen Erinnerungen Che Guevaras basiert, und den Film "Shaun of the Dead" von Edgar Wright, eine Art Porträt und Spiegelbild des heutigen Großbritanniens.

Nur in der Printausgabe: Porträts der kanadischen Inneneinrichterin Elsie de Wolfe und des Schneiders von George W. Bush, Georges de Paris (mehr), ein Artikel über das angesagte Pariser Cafe Dave und Lyrik von Elizabeth Spires und Katha Pollitt.
Archiv: New Yorker

Outlook India (Indien), 27.09.2004

Der neue Naipaul, und ein Verriss, der sich gewaschen hat: Shashi Deshpande sieht den Nobelpreisträger als Gefangenen seiner eigenen Themen, Exil und Heimatlosigkeit, und damit auf dem traurigen Altenteil der Selbst-Parodie angekommen. In "Magic Seeds" begegnet der Leser Willie Somerset Chandran wieder, dem Protagonisten aus "Ein halbes Leben"; Chandran geht nach Indien, um sich einer revolutionären Organisation anzuschließen, gerät aber versehentlich auf die falsche Seite und geht auch sonst wie ein Tourist durch die Szenarien seines Lebens - eine Distanz, die Deshpande dem Autor zuschreibt. Das Ergebnis: Belanglosigkeit, Umständlichkeit, Anfängerfehler. Deshpandes Fazit: "'Magic Seeds' bietet leider nicht mehr als unzusammenhängende Erfahrungen und Ideen in Romanform. Ist das unvermeidlich bei einem Autor, der einen solchen Status erreicht hat, dass niemand mehr seine Werke lektoriert? Ist das die tragische Einsamkeit des Erfolgreichen? Oder eher die Lässigkeit dessen, der sich seines Publikums sicher sein kann? Was auch immer die Gründe sind, der Roman lässt einen Autor erahnen, der seinen eigenen hohen Standards nicht mehr entspricht.

Smita Gupta fragt sich, ob der offizielle Säkularismus der Kongresspartei nicht heimliche Zugeständnisse an die Hindutva-Vertreter enthält. Minu Ittyipe hat die Lehren und liturgischen Praxen neuer christlicher Gemeinden unter die Lupe genommen, die den katholischen und syrischen Kirchen die Anhänger abspenstig machen. Der Erzbischof von Verapoly nennt das "Schafe stehlen". Ittyipe ist eher der Ansicht, dass die Hirten ihre Herden nicht richtig zusammenhalten.

Und nur im Web: der Wortlaut der Rede über die "Öffentliche Macht im Zeitalter des Empire", die Arundhati Roy kürzlich in San Francisco hielt.

Archiv: Outlook India

Elet es Irodalom (Ungarn), 10.09.2004

Die Geburt der ungarischen Neoavantgarde aus dem Geist der Musik erzählt in einem erfrischenden Beitrag der Dichter und Aktionskünstler Adam Tabor. Er stellt das Museum für Tragbare Intelligenz zum Quadrat (HI2M) vor, das den Budapester Beitrag zur Ausstellung "Eintritt frei" nach Wien lieferte, die von fünf mitteleuropäischen Hauptstädten anlässlich der EU-Erweiterung organisiert wurde. Das "tragbare Museum" zeigt eine umfassende Sammlung ungarischer neoavantgardistischer Kunst der "langen sechziger Jahre" im Zeichen von Pop Art, Aktionismus und Conceptual Art. Für Tabor war jedoch Dr. Laszlo Vegh, der "ungarische John Cage" die größte Wiederentdeckung der Ausstellung. Der "erste Komponist konkreter Musik" Ungarns und "Improvisationspianist" ist heute emeritierter Radiologe einer Budapester Klinik. Tabor hat noch in bester Erinnerung, wie Dr. Vegh 1963 in einem "kultischen Schildkrötenpanzer" als Gregor Samsa auf die Bühne trat und die ungarische Übersetzung von Kafkas "Verwandlung" in seiner "Wassermann-Maske" vorlas. (Hier einige Sounds der oppositionellen Underground-Szene, der sogenannten ungarischen "zweiten Öffentlichkeit" als Kostprobe.)

Nach Berlin wird jetzt auch in Budapest über ein Holocaust-Mahnmal debattiert. Der Theologe Tamas Majsai stellt die im April 2004 eröffnete Budapester Holocaust-Gedenkstätte vor, die 2005 eine ständige Ausstellung bekommen soll. Diese wird durch ein Projektbüro des Ungarischen Nationalmuseums in Leitung der renommierten Holocaust-Forscherin Judit Molnar im Auftrag einer Stiftung konzipiert. Majsai bedauert es sehr, dass die Erinnerung an den Holocaust in Ungarn zumeist nicht als Gegenstand gesamtgesellschaftlicher Diskussion, sondern als eine Angelegenheit der jüdischen Minderheit betrachtet wird. Deshalb sollte möglichst eine breite Öffentlichkeit in die Debatte um die Gedenkstätte einbezogen werden. "Ihr wesentlicher Inhalt darf kein statisches Verhältnis zur abgeschlossenen Vergangenheit, zum Gestern sein. Ihre Funktion darf nicht definiert werden als Heraufbeschwören einer wegen ihrer Gräuel heute noch erschütternden, doch fernen Vergangenheit, die im Besucher keine tiefere Spuren hinterlässt. Sie soll auch weder ein höflich-ethisches Kopfneigen mit leichter Gemütserregung bewirken noch eine inventarisierende Darstellung des Zerstörens und der Zerstörung werden."

Anlässlich des holländischen Ungarn-Festivals "Ungarn am Meer" werten Rebeka M. Herman und Laszlo Kalman die holländischen Literaturkritiken der Romane von Magda Szabo aus, und fragen sich, warum die Holländer gerade jetzt diese Schriftstellerin so umjubeln, obwohl ihre Romane bereits in den sechziger Jahren in holländischer Übersetzung vorlagen.

Espresso (Italien), 23.09.2004

Einst als Genie gefeiert, jetzt seiner Meinung nach von aller Welt verfolgt, ausgewiesen und schließlich ausgeliefert. Die Geschichte des Bobby Fischer (Biografie und eine Reportage aus Atlantic Monthly) scheint auf ihr trauriges Ende zuzusteueren, prophezeit Pio Rossi in einem langen Porträt des Schachmeisters. "In kürzester Zeit hat er es geschafft, die ganze amerikanische Schachwelt zu beleidigen und sich zu Feinden zu machen, Jounralisten und Sponsoren inklusive. Bei jedem Turnier drohte er, nicht weiterzuspielen, wenn nicht die Prämie hochgesetzt würde. Ständig beschwerte er sich über den Geräuschpegel im Saal und die Beleuchtung. Er war der Schrecken aller Veranstalter."

Ganz verzückt schwärmt Umberto Eco von Peter Hopkirks Geschichte des "Großen Spiels" zwischen England und Russland, als die beiden Mächte im 19. Jahrhundert um Einfluss in Zentralasien rangen. Cesare Balbo informiert über Deborah Koons in den USA erfolgreich angelaufenen Dokumentarfilm "The future of food", in dem sie die multinationalen Biotechfirmen angreift. Im Titel legt Paolo Forcellini in der Diskussion um die künstliche Befruchtung noch einmal einen Scheit nach: Laut einer Umfrage des Espresso ist sogar eine Mehrheit der Katholiken dafür.
Archiv: Espresso

Magyar Nemzet (Ungarn), 20.09.2004

Die Akteure der "Nationaler Rundtisch"-Gespräche haben vor fünfzehn Jahren eine historische Tat vollbracht, schreibt die konservative ungarische Tageszeitung im heutigen Aufmacher. "Sie beendeten die ödeste und schändlichste Phase der Geschichte dieses Landes und sie öffneten den Weg in Richtung einer freieren und gerechteren Gesellschaft, die den Wohlstand versprach." Dann bekommt die Nachfolgerpartei der Sozialisten eins aufs Auge: "Die Staatspartei MSZMP war sogar noch im Sommer 1989 sicher, dass sie die freien Wahlen gewinnen würde, wenn sie einige Krümmelchen für die lautstärkste Opposition fallen lässt. Sie hofften, ihre Macht, ihr Vermögen, ihren Einfluss und ihre Privilegien behalten zu können. So hat sich der Rechtsvorgänger der heutigen Sozialisten den Systemwechsel vorgestellt. Obwohl sich die Sozialisten heute eine Partei des Systemwechsels nennt, scheint sie auf diese grundsätzlichen Ziele nie verzichtet zu haben."
Archiv: Magyar Nemzet
Stichwörter: Systemwechsel, Privilegien

Nepszabadsag (Ungarn), 18.09.2004

Mit drei zerbrechlichen Klauseln begann die Geschichte des ungarischen Rechtsstaates - erinnert sich die größte Tageszeitung Ungarns in ihrer Wochenendbeilage. Heute vor fünfzehn Jahren wurden die Gespräche am Nationalen Rundtisch beendet. Sie wurden im Frühjahr 1989 von den oppositionellen, heute noch maßgeblichen Parteien FIDESZ, MDF und SZDSZ initiiert, um mit der Staatspartei gemeinsam den friedlichen Wandel in ein demokratisches Mehrparteiensystem auszuhandeln. Am 18. September 1989 wurde bis in die Nacht diskutiert, bis sich die Staatspartei zögernd mit dem Prinzip der Volkssouveränität, den freien Wahlen und dem "Verbot des unmittelbaren Einsatzes militärischer Kräfte durch eine gesellschaftliche Organisation" einverstanden erklärte. Die Gespräche waren gespannt, obwohl die Staatspartei aus den Lauschangriffen alles wusste, was die Opposition sagte, schrieb, dachte und träumte: "Es ist fast sicher, dass sie alles mithörten, was wir hier sagten. Sie waren während der Rundtischgespräche sehr, sehr gut informiert. Sogar meine Formulierungen waren ihnen genau bekannt, die ich in die Vereinbarung aufnehmen wollte. Es war sehr peinlich" - berichtete der Bürgerrechtler Peter Tölgyessy am nächsten Tag der Opposition über die Gespräche am Runden Tisch.
Archiv: Nepszabadsag

Radar (Argentinien), 19.09.2004

Radar rührt die Werbetrommel für Mario Bellatin. Der Mexikaner und Peruaner leitet eines der "eigenartigsten literarischen Projekte Lateinamerikas der letzten Jahre", findet die Kultur- und Literaturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12. Nach kurzer Vorstellung kommt der Autor von "Der Schönheitssalon" und "Der blinde Dichter" auch selbst zu Wort. "Mein Anliegen ist es nicht, Botschaften zu übermitteln (...) Ich versuche Dinge zu benennen, aber ohne moralischen Ballast", meint er. Bellatin weiß auch einiges über die von ihm in Mexiko geleitete und tatsächlich so genannte "Dynamische Schriftstellerschule" zu berichten.

Ein weiterer Beitrag stellt den Chilenen Mauricio Electorat vor, der mit "La burla del tiempo" den diesjährigen Premio Biblioteca Breve gewann, jenen Literaturpreis also, der in den sechziger Jahren einiges zum Boom der lateinamerikanischen Literatur beitrug, dann aber eingestellt wurde. Seit nunmehr fünf Jahren wird er wieder vergeben - und hat wegen vermeintlicher Fehlentscheidungen schon einiges an Kritik auf sich gezogen . Bei "La burla del tiempo" scheint alles in Ordnung zu gehen. Rezensent Juan Sasturain jedenfalls bescheinigt dieser Schilderung einer Generation, die erst unter Diktator Augusto Pinochet erwachsen wurde, "triumphale literarische Qualitäten ". Handlungschauplätze sind nicht nur die chilenische Hauptstadt, sondern auch Paris, wo Electorat schon seit 1987 lebt.

Hochgelobt wird auch ein jüngst in den USA erschienener Band mit Interviews von Andy Warhol. "Warhol las keine Bücher. Er las Interviews. Seine Erklärung: Ich suche dort, was ich in meinen eigenen Interviews sagen könnte", erzählt Rezensent Rodrigo Fresan. Lesenswert ist auch die kurze, aber heftige Attacke des Franzosen Olivier Malnuit gegen die angeblich nicht nur amerikanische, sondern zu aller Unglück auch noch neoliberale "cyberculture". Toll schon der Leadsatz: "Das Problem mit der Zukunft ist, dass sie immer in den USA stattzufinden scheint."
Archiv: Radar

Economist (UK), 17.09.2004

Der "Kampf um das Herz des Islams" hat begonnen, bemerkt der Economist vor allem angesichts der Reaktionen auf das Massaker von Beslan. Denn obwohl auch die Medien fleißig am "Märchen des islamischen Opferdaseins" mitweben, regt sich in der islamischen Welt zunehmend Widerstand gegen die extremistische Vereinnahmung des Islam: "Warum, fragt ein ehemaliger Kuwaitischer Minister in der saudiarabischen Tageszeitung Al Sharq al Awsat, haben wir von keiner einzigen Fatwa gegen Osama bin Laden gehört, wo sich doch die Muslimen überschlagen haben, als es galt Salman Rushdie wegen seines 'flachen' Romans zu verurteilen? Wer hat denn dem Islam mehr geschadet?"

Weitere Artikel: Der Economist beobachtet, dass immer mehr Dienstleistungen auf den Kunden abgewälzt werden, und warnt davor, dass Selbstbedienung nicht immer gute Bedienung sein muss. "Wie hälst du's mit der Wissenschaft?" Die Zeitschriften Science (hier) und Nature (hier) haben George Bush und John Kerry die Gretchenfrage gestellt, der Economist resümiert das Ergebnis. Bei der Lektüre von Bee Wilsons "The Hive: The Story of the Honeybee and Us" hat der Economist die Biene als Quelle der kulturellen und moralischen Inspiration entdeckt.

Außerdem: Was nach der deutschen Wiedervereinigung falsch gelaufen ist, was das Besondere an der wiedererstarkten Versicherungsgesellschaft Lloyd's ist, wie technische Probleme mit den elektronischen Wahlgeräten die Wähler und Wahlbeobachter in den USA in Angst und Schrecken versetzen, was Christiaan Frederick Beyers Naude zu einem untypischen Apartheids-Gegner machte, und: "Hier ein Bäumchen, da ein Kühchen" - wie der virtuelle Tourismus in der Schweiz aussieht.

Leider nur in der Printausgabe zu lesen: ein Plädoyer für den türkischen EU-Beitritt.
Archiv: Economist

Plus - Minus (Polen), 17.09.2004

Im Magazin der Rzeczpospolita befasst sich der an der Universität in Bremen lehrende polnische Philosoph Zdzislaw Krasnodebski mit Geschichtspolitik. Nach einer eingehenden Analyse der polnischen Gedenkfeiern in den letzten Wochen, stellt Krasnodebski die Diagnose: "Die Missverständnisse zwischen Deutschen und Polen sind Konsequenz einer Ungleichzeitigkeit - wir leben quasi in anderen Epochen. In Polen ging der Zweite Weltkrieg in Wirklichkeit erst 1989 zu Ende. Erst jetzt fangen freie Debatten über die Geschichte an, erst jetzt kehren wir nach Europa zurück und müssen um unseren Platz kämpfen. In Deutschland wurden Fragen der eigenen Schuld schon oft durchgekaut und man stellte fest, dass die Zeit der Erlösung gekommen ist. Und obwohl große Bereiche, insbesondere solche, die Polen betreffen, noch nicht kritisch reflektiert wurden, glauben die Deutschen, dass in Sachen Schuld alles schon gesagt wurde". Der Autor kritisiert auch, dass bei den Feiern in der Normandie, wo eine "Wertegemeinschaft ex post" zum Leben erweckt wurde, Präsident Putin eingeladen worden war: "Es ist offensichtlich, dass weder die damals gegen Nazi-Deutschland kämpfende Sowjetunion noch das heutige Russland diese Werte repräsentieren".
Archiv: Plus - Minus

Gazeta Wyborcza (Polen), 17.09.2004

Michal Smolorz (Produzent einer schlesischen Talk-Show) sucht in einem Artikel der Wochenendausgabe der Gazeta Wyborcza nach Antworten auf die Frage, warum viele polnische Städte und Regionen ihr multikulturelles Erbe entdecken und ausgerechnet Oberschlesien im deutsch-polnischen Kleinkrieg versinkt. Eine mögliche Antwort: "Vielleicht, weil es in Szczecin, Gdansk, Lodz oder Wroclaw keine Deutschen mehr gibt. In Oberschlesien gibt es sie noch und das scheint für viele ein unüberwindbares Problem zu sein". Auch die Organisationen der deutschen Minderheit kriegen dabei ihr Fett weg. Sie unterstützen eine multikulturelle Veranstaltung "nur unter der Bedingung, dass sie deutsch ist... So etabliert sich in Schlesien immer mehr eine eigentümliche kulturelle Apartheid, in der jede Seite ihre unüberschreitbaren Grenzen markiert", schließt der Autor.

Außerdem in dieser Ausgabe: die Fortsetzung des Interviews mit Tadeusz Mazowiecki von letzter Woche (hier).
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Apartheid, Talk Shows

Nouvel Observateur (Frankreich), 16.09.2004

Abgesehen vom Titeldossier, in dem die mögliche Wiederwahl von Bush als glatte "Katastrophe" beschworen wird, eine sehr literarische Ausgabe in dieser Woche. So bespricht der Schriftsteller Philippe Sollers (mehr) eine Gesamtausgabe der Werke von Antonin Artaud (Gallimard) und schreibt: "Sartre hatte Recht. Genet war ein Heiliger, Komödiant und Märtyrer, der, wie Gide, bis zum Schluss ein Prediger der reformierten fortschrittlichen Religion blieb. Doch Antonin Artaud (über den Sartre nie ein Wort verlor) ist ein Schauspieler im Theater der Grausamkeit, ein anders gearteter Märtyrer, ein Heiliger, den man keiner Kirche zuweisen kann, weil er sich Gott selbst und alle bekennenden oder okkulten Religionen vorknöpft, in der Absicht, sie in die Luft fliegen zu lassen." Neben der Rezension wird auf die Septemberausgabe des Magazine litteraire hingewiesen, das Artaud gewidmet ist.

Im Debattenteil spricht der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi (mehr) aus Anlass des Erscheinens seines neuen Romans "Tristano meurt" (Gallimard) über Berlusconi, sein Land und seine Lieblingsstädte. Auch der in Frankreich sehr verehrte amerikanische Drehbuchautor, Literaturkritiker und Journalist Jim Harrison ("Dalva", "Das leuchtende Feld", hier ein Interview mit ihm, leider nur auf Englisch) legt einen als "superb" gelobten neuen Roman über Michigan vor, wo er lebt: "De Marquette a Veracruz" (Christian Bourgeois) und erhält Gelegenheit, seine Gedanken über Bush, Moore, Selbstmord und Bären zu äußern. Gelobt wird schließlich noch eine Biografie von Alain Absire über Jean Seberg (Fayard).

Spiegel (Deutschland), 20.09.2004

Erika Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, weist im Interview jede Verantwortung ihrer Person und ihrer Organisation für die angespannte Lage zwischen Deutschland und Polen zurück: "Die Verantwortung liegt nicht bei denen, für die ich spreche. Das Ganze ist ein grandioses Versagen von Politik, in Polen wie in Deutschland. Keine der beiden Regierungen hat etwas unternommen, die Eigentumsfrage zu lösen." Außerdem bekräftigt Steinbach ihre Überzeugung, dass nun die Bundesregierung die Vertriebenen entschädigen müsse - dazu nämlich sei es "in Polen jetzt wohl zu spät". Es gehe dabei nicht vorrangig um finanzielle Entschädigungen, so Steinbach: "Wir wünschen uns eine Heilung des Vertreibungsschicksals, eine gemeinverträgliche Lösung. Und das hat mehr mit moralischer Anerkennung und Symbolik zu tun als mit Eigentumsfragen."

Weitere Artikel: Conny Neumann erzählt noch einmal die seit einer Woche durch die Medien geisternde Geschichte vom rätselhaften Verschwinden der srilankischen Handball-Nationalmannschaft. Es gibt einen Bericht zur Verschärfung des US-Embargos gegen Kuba. Und im Print dann auch noch ein Interview mit dem kubanischen Parlamentspräsident Ricardo Alarcon über "die neue Konfrontation mit Washington". Außerdem im Print: Der Teilchenphysiker Brian Greene erklärt, warum "nicht nichts ist". Und der Spiegel-Titel widmet sich dem Ende das Aufbaus Ost: "Der Aufbau Ost ist abgeschlossen, wo jetzt nichts blüht, da wird auch nichts mehr wachsen".
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 19.09.2004

Die Vereinigten Staaten im Jahr 1940. Der Fliegerheld und Antisemit Charles A. Lindbergh kandidiert gegen Franklin D. Roosevelt, gewinnt und wird Präsident der USA. Vor dieser Kulisse entfaltet sich "The Plot Against America", der neue Roman von Philip Roth (mehr). In einem Essay beschreibt er, wie ihn die Memoiren Arthur Schlesingers inspiriert haben und was ihn persönlich mit dem Thema verbindet. "Noch bevor ich zur Schule ging, wusste ich schon etwas über den Antisemitismus der Nazis und den amerikanischen Antisemitismus, der von so bekannten Personen Leuten wie Henry Ford und Charles Lindbergh gepflegt wurde, die mit Filmstars wie Chaplin und Valentino in diesen Jahren die weltweit bekanntesten Berühmtheiten waren. Das Genie des Verbrennungsmotors und der Luftfahrtheld Lindbergh - und unser nationaler antisemitischer Propagandaminister, der Radiopriester Charles Coughlin (Lebenslauf, Reden und Hörprobe hier) - waren ein Hassthema sowohl für meinen Vater wie auch seine Freunde. Freiwillig besaß in unserer jüdischen Nachbarschaft praktisch niemand einen Ford, obwohl es das beliebteste Auto des Landes war."

T. C. Boyles (mehr) neues Stück nennt sich "Inner Circle" (erstes Kapitel) und handelt von den persönlichen, professionellen und sexuellen Beziehungen des legendären Soziologen Alfred C. Kinsey zu einem seiner ergebenen Mitarbeiter. Obwohl Boyle von Perfektionisten wie Kinsey fasziniert sei, erweise er sich selbst "immer wieder als Herold der menschlichen Unzulänglichkeiten", diagnostiziert A. O. Scott. Leider hören die Unzulänglichkeiten diesmal nicht beim Sujet auf. Der Roman, meckert Scott weiter, "hat eine verwischte, hastige, unfertige Art. Wir bekommen nicht genug Kinsey und gleichzeitig viel zu viel von ihm."

Weiteres: Die New York Times Book Review druckt den Titel von nicht mal zur Hälfte ab, Vendela Vida lobt die 81 kurzen experimentellen Kapitel von Nick Flynns Autobiografie als "kunstvolle Meditation". Der Titel des Buchs, den die Times nicht nennen mag, lautet "Another Bullshit Night in Suck City". Terrence Rafferty hat den aktuellen Reißer der produktiven Joyce Carol Oates gelesen und rät: "Lesen Sie 'The Falls' schnell und schauen Sie nicht zu genau hin, oder zu lange. Dann machen Sie was anderes. Oates wird es jedenfalls tun." Und Maud Casey windet dem "komisch-düsteren" Debüt "April Fool's Day" (erstes Kapitel) des kroatischen Schriftstellers Josip Novakovich einen Lorbeerkranz aus Druckerschwärze. Wie Novakovic alleine den serbischen Regen beschreibt, in diesem "leichten, eleganten Tempo"! Laura Millers Letztes Wort ist eine Suada gegen die Sitte, Bücher grundsätzlich zuerst als Hardcover herauszubringen. (Hm, werden Autoren von Taschenbuch-Tantiemen satt?)

Im New York Times Magazine berichtet Deborah Solomons Bericht von ihrem Treffen mit dem 88-jährigen Arthur Miller. Es geht um "Finishing the Picture" - nach "After the Fall" von 1964 der zweite Versuch Millers, seine Ehe mit Marilyn Monroe in einem Theaterstück zu beschreiben. Doch Solomon kann ihm kaum ein Wort über Monroe entlocken. "'Man tut, was man tun kann und den Rest muss man dem Zeitgeist überlassen', bemerkt er fröhlich. 'Vielleicht werde ich vollkommen vergessen. Die meisten Werke auf der Welt werden vollkommen vergessen; 99,99 Prozent aller Kunstwerke sind vergessen. Es gab so viele Autoren, die in ihrer Zeit berühmt waren, und die heute niemand mehr kennt. Geschichte ist wie ein gigantisches Biest - sie krümmt ihren Rücken und wirft einfach herunter, was drauf liegt.' Seine Bemerkungen waren bescheiden, aber unmöglich ernst zu nehmen. Die Wahrheit ist, nicht jeder wird in den Abgrund des Vergessens geworfen. Und als er sprach, musste ich daran denken, dass Monroe unvergessen ist."

Lynn Hirschberg unterhält sich mit dem brasilianischen Regisseur Walter Salles, dessen "Motorcycle Diaries" (mehr hier und hier) über den frühen Che Guevara demnächst herauskommt. Elizabeth Rubin zeichnet den Weg der jungen amerikanischen Anwältin Fern Holland, die sich im Irak für die Rechte der Frauen einsetzte und dafür ermordet wurde. Hingewiesen sei schließlich noch auf das opulente Style Magazine, das ganz der herbstlichen Männermode gewidmet ist.
Archiv: New York Times