Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
04.10.2004. In der New York Review of Books rechnet Joan Didion mit der "Neuen Normalität" in den USA ab. In der Lettre erzählen Chen Guidi und Wu Chuntao wie ein Dorfbuchhalter vier Bauern tötete. Im Espresso fordert James Noyes, Vizeverteidigungsminister unter Nixon, den Rückzug der Amerikaner aus dem Irak. Folio wittert das intellektuelle Fluidum im Namen einer Katze. Die kolumbianische Semana fragt, ob die rechten Paramilitärs im Lande nicht einfach stinknormale Drogenhändler sind. Al Ahram begeistert sich für das europäische Kino. In der Gazeta Swiateczna untersucht Maria Janion die nationalen Stereotypen in Polen. Die New York Times bereitet uns auf das umgebaute MoMA vor.

New York Review of Books (USA), 21.10.2004

In einem großen, bitteren, aber sehr lesenswerten Rundumschlag rechnet Joan Didion (mehr) mit der Politik im Amerika der "Neuen Normalität" ab. So bezeichnet Didion den Zustand, der Amerika nach dem 11. September erfasst habe, eine Art kollektive Amnesie, die jegliche politische Kultur als Luxus betrachte, und in der es möglich sei, ungehindert grundlegende begriffliche Neuprägungen in Umlauf zu bringen, mit nur allzu greifbaren Konsequenzen. "Selbst das Wort 'Wahrheit' war insofern neu definiert worden, als man sich entschieden von der empirischen Methode der Wahrheitsfindung verabschiedet hatte: 'Die Wahrheit' war jetzt genau das, was auch immer man als Wahrheit gebrauchen konnte, die Bestätigung der Vorschläge oder der Maßnahmen, von denen wir 'tief in unseren Herzen überzeugt waren' oder an die wir 'glaubten'. 'Überzeugung' und 'Glaube' waren ihrerseits zu Wörtern geworden, die man benutzte, um einen undurchsichtigen Schleier über das, was gesagt worden war, zu werfen und dessen Entschlüsselung (von einer Diskussion ganz zu schweigen) unmöglich zu machen.

Benjamin M. Friedman begutachtet das ökonomische Konzept der beiden amerikanischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry und George W. Bush (der nicht sonderlich gut abschneidet) und kommt zu dem Schluss, dass der Wähler, um sich für einen der beiden zu entscheiden, lediglich die Frage beantworten muss, wer Anregungen zum Sparen braucht: die von Zinsen lebenden oberen Zehntausend oder die breite, arbeitende Mittelschicht.

Weitere Artikel: Nur tiefes, persönliches Leid kann Shakespeare in solch schwindelnde künstlerische Höhen getrieben haben, glaubt Stephen Greenblatt. Und tatsächlich: Auf der Suche nach biografischem Humus für den "Hamlet" ist Greenblatt auf den im Sommer 1596 verstorbenen Sohn des Dichters gestoßen. Sein Name? Hamnet. Max Rodenbeck durchforstet eine ganze Reihe von Büchern, die uns Saudi-Arabien näherbringen wollen. Stanley Hoffman fordert einen unbedingten Rückzug der amerikanischen Besatzungstruppen aus dem Irak und entwirft dafür einen Plan. Darryl Pinckney lobt Edward P. Jones' Sklavereiroman "The Known World" als bislang "sonderbarste, traurigste Zusammenfassung dieses Themas".

Abgedruckt ist auch ein Auszug aus einem BBC-Interview vom 16. September, in dem Kofi Annan auf das Drängen von BBC-Reporter Owen Bennett Jones hin explizit erklärt, die militärische Operation im Irak sei illegal gewesen (hier das gesamte Interview als Videodatei).

Lettre International (Deutschland), 01.10.2004

Im neuen Heft sind lange Auszüge aus den Reportagen der sieben Finalisten für den Lettre Ulysses Award abgedruckt. Online lesen dürfen wir auszugsweise die Reportage der Preisträger Chen Guidi und Wu Chuntao über die Lage der chinesischen Bauern - in diesem Auszug erleben wir, wie der Dorfbuchhalter Zhang Guiquan vier Bauern tötet, um eine Überprüfung seiner Bücher zu verhindern. Weiter Tracy Kidders Reportage über Paul Farmer, einen Arzt, der die Haitianer medizinisch versorgt, und Daniel Bergners Reportage über Kinder im Bürgerkrieg von Sierra Leone. Paulo Mouras Reportage über afrikanische Flüchtlinge, die in einem Wald bei Tanger darauf warten, in die Festung Europa eindringen zu können, finden Sie hier.

Jacques Derrida antwortet auf Fragen von Jean Birnbaum über Leben und Überleben: "Um ohne weitere Umschweife auf Ihre Frage zu antworten: Nein, ich habe niemals leben-gelernt. Ganz und gar nicht! Zu leben lernen, das müßte bedeuten, zu sterben lernen, zu lernen, der absoluten Sterblichkeit (ohne Heil, weder Auferstehung noch Erlösung - weder für sich selbst noch für den anderen) Rechnung zu tragen, um sie zu akzeptieren. Seit Platon lautet der philosophische Imperativ: Philosophieren heißt sterben lernen. Ich glaube an diese Wahrheit, ohne mich ihr zu ergeben. Und zwar immer weniger. Ich habe nicht gelernt, den Tod zu akzeptieren."

Weitere Artikel: Aus der London Review of Books wurde Andrew Hagans Reportagen über den Parteitag der Demokraten und den der Republikaner übernommen. Loretta Napoleoni beschreibt die intimen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und den USA. Und Peter Sellars schreibt über das Theater und die Freiheit.

Outlook India (Indien), 11.10.2004

Kulturpessimismus in Outlook: Prem Shankar Jha erinnert an den Schriftsteller Mulk Raj Anand, einen der großen Männer der neuen indischen Literatur, der am 28. September verstarb. Und er erinnert an das kulturell selbstbewusste Indien, dass nationalistische Idealisten wie Anand und Mahatma Gandhi zum Leitbild erhoben, dass aber, so der Autor, schon bald in der Trivialität der neuen Eliten versank, so dass heute Bollywood nationale Identität verkörpert: "Ihr Indien erwies sich als Totgeburt. Seinen Platz nahm ein anderes Indien ein - ein rohes, verwirrtes Land, dessen Bewohner nicht wissen, was sie in Ehren halten oder welche Richtung sie einschlagen sollen, und die diese Leere mit Selbstinteresse, Materialismus und Gier zu füllen suchen."

Der Panchayat oder "Rat der Fünf" ist eine traditionelle Institution der dörflichen Selbstverwaltung - eine ländliche Gemeindeverwaltung, die jahrhundertelang von den landbesitzenden Kasten dominiert wurde. Und das ist, so der erschreckende Befund von Soma Wadhwas Reportage, vielerorts noch immer so; obwohl es gewählte Panchalyats gibt, haben oft die Kasten-Panchayats große Macht und wenden sie vor allem gegen Frauen und Mitglieder "niederer" Kasten an: "Der Ältestenrat der Gemeinde - bestehend aus fünf oder mehr Mitgliedern, meist hochstehenden Kasten angehörend und ausnahmslos männlich - spricht Recht nach eigenen Maßstäben - um Streitfälle zu schlichten, die Regeln des Anstands festzulegen und die feudal-patriarchale Ordnung zu erhalten. Diese Kastengremien bestrafen auf der Basis einer mittelalterlichen Moral: durch Ächtung und öffentliche Entehrung. Sie zwingen schuldig Gesprochene, Exkremente zu kauen und sich auszuziehen, sie zwingen Frauen, nackt herumzulaufen, sie ordnen Folter und Verstümmelungen an, die lassen vergewaltigen und sogar töten."

Weitere Artikel: 62 Prozent aller Jungs in Delhi denken, dass ein Mädchen nicht schwanger werden kann, wenn sie nur ein- oder zweimal Sex hat, 29 Prozent aller indischen Teenager sind sich sicher, dass nur Schwule und Prostituierte Aids bekommen können, und Outlook macht sich Sorgen - die Titelgeschichte von Sanghamitra Chakraborty. Anniruddha Bahal sieht Anzeichen dafür, dass das Massaker von Beslan eine Introspektion in der islamischen Welt ausgelöst hat. Und Khushwant Singh hat eine atemlose Lektüre hinter sich: Lucy Moores "Maharanis: the Lives and Times of Three Generations of Indian Princesses".
Archiv: Outlook India

Espresso (Italien), 07.10.2004

Die Amerikaner müssen sich aus dem Irak zurückziehen, "ich sehe keine Alternative", sagt James Noyes, ehemaliger Vizeverteidigungsminister unter Richard Nixon und Gerald Ford und jetzt Analyst in der Hoover Institution. "Und wenn dann ein islamischer Staat wie der Iran herauskommt?", fragt Paolo Pontoniere. "Glauben Sie nicht, das wäre besser? Dann haben wir wenigstens einen Verhandlungspartner. Anstatt den Stock zu gebrauchen, können wir die Handelsbeziehungen und humanitäre Hilfe benutzen." Das Interview ist Teil eines Dossiers, in dem Enrico Pedemonte Analysten so verschiedener ThinkTanks wie Csis oder der Brookings Institution die Lage einschätzen lässt.

"Wir sind alle Veline", soll Umberto Eco einmal geschrieben haben. In einer ganzen Bustina wehrt er sich nun gegen diese Unterstellung. Veline sind die "seidigen", knapp bekleideten und meist stummen Helferinnen, die in keiner italienischen Fernsehshow mehr fehlen dürfen (im Internet hier und hier anscheinend auch nicht). "Ich gehöre zu einer Generation, die dazu erzogen worden ist, nicht daran zu glauben, was in den Zeitungen steht, die Todesanzeigen ausgenommen. Es ist wahr, dass wir nun in einer Diktatur leben, aber auch da glaube ich mir eine reservierte Haltung gegenüber allem, was ich lese, aufrechterhalten zu haben."

Großes Thema ist natürlich die Rückkehr der beiden italienischen Geiseln aus dem Irak. Denise Pardo erzählt die wunderreiche Geschichte noch einmal und hat exklusiv mit dem neuen italienischen Helden und Präsidenten des nationalen Roten Kreuzes, Maurizio Scelli, gesprochen.
Archiv: Espresso

London Review of Books (UK), 07.10.2004

Es passt, findet Adam Shatz, dass Algeriens bekanntester Schriftsteller der letzten zehn Jahre Kriminalromane schreibt - und dazu noch unter dem lange Zeit mysteriösen weiblichen Pseudonym Yasmina Khadra. Denn eigentlich sei das Algerien des letzten Jahrzehnts, mit all seinen Ermordeten und Vermissten, mit einem einzigen großen "murdery mystery" vergleichbar. Shatz interessiert aber in erster Linie, was Khadra zum islamistischen Terrorismus zu sagen hat. "'Binnen kurzem', schreibt Khadra, 'begannen die Leute zu glauben, spektaktuläre Attacken hätten Klasse und die Mörder eine geradezu aufregende Rücksichtslosigkeit.' Religiöse Prinzipien oder Ideologien sind nicht die treibende Kraft. Hier geht es um das Begleichen einer Rechnung und eine berauschende Ödipale Wut - um die Rache der Unterdrückten. In Ghachimat, wo 'das kollektive Gedächtnis den Groll nährt', sind die glühendsten Befürworter der islamischen Aufrührer entweder die Söhne der Harkis (Algerier, die im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite der französischen Armee kämpften), die die Verfolgung ihrer Eltern rächen, oder einfach junge Männer, die gegen die Älteren, die 'das Gesicht verloren haben' aufbegehren."

Weitere Artikel: A. L. Kennedy versteht es zu zeigen, "wie zwei Menschen hin- und hergerissen werden zwischen ihrem Bedürfnis geliebt zu werden und ihrer Angst, die Möglichkeit der Liebe aufs Spiel zu setzen, indem sie einander missverstehen oder - schlimmer noch - völlig verstehen", schreibt Thomas Jones. In Kennedys jüngstem Roman "Paradise" (Leseprobe) hat er mit einer neuen Variante dieser Situation Bekanntschaft gemacht - dem Alkohol. Tom Paulin erzählt uns etwas langatmig, unter welchen Umständen er Dean Godsons Biografie des nordirischen Freiheitskämpfers und Friedensnobelpreisträgers David Trimble ("Himself Alone") gelesen hat - und schließlich auch, was er darin gelesen hat. Angesichts einiger jüngst vor Gericht verhandelter Fälle, in denen das Münchhausen Syndrom by proxy zu einer Art Erklärungs-Zauberformel wurde, ermahnt John Sturrock den Ärztestand, sich nicht den "Idolen des Marktplatzes" hinzugeben, sondern der Vielfalt an Krankheitsbildern, die sich hinter einem modischen Krankheitsnamen verbirgt, Rechnung zu tragen. Und in der Tate Britain steht Peter Campbell staunend vor zwei Porträts desselben Modells, die bezeugen, wie sehr sich die Malerei der Geschwister Augustus und Gwen John voneinander unterscheidet: Hier ist Dorelia "stärker und exotischer", da "gewöhnlicher und interessanter".

Plus - Minus (Polen), 02.10.2004

Die Wochenendausgabe der Rzeczpospolita befasst sich diesmal mit dem neuen Buch des berühmten Reporters, Schriftstellers und Weltenbummlers Ryszard Kapuscinski (mehr hier), "Podroze z Herodotem" (Reisen mit Herodot). In einer umfangreichen Rezension beschreibt Krzysztof Maslon die unvergesslichen Momente des Buches, z.B. die Totenstille bei einem Louis-Armstrong-Konzert in Khartum oder das Eingeständnis Kapuscinskis, dass er Englisch während seiner ersten Auslandsreise nach Indien lernte, anhand von Hemingways "Wem die Stunde schlägt". Ein kurzer Ausschnitt aus der Rezension: "Und dann öffnet sich der Autor. Er blickt vierzig, fünfzig Jahre zurück. Und so, wie er die Gegenwart für uns offen legte, so zeigt er uns die Vergangenheit. Eine sonderbare Vergangenheit, aber er wundert sich mit uns. Er stellt die selben Fragen: so war das also, so hat das damals ausgesehen? So habe ich damals ausgesehen, als ich das erste Mal in diese andere Welt fuhr? Benommen, voller Angst, schlecht angezogen. 'Man musste keinen Pass bei sich tragen', sagt er, 'schon von weitem konnte man sehen, wer von welcher Seite des Eisernen Vorhangs kommt'"

Im Interview erzählt Kapuscinski, wie der antike Geschichtsschreiber Herodot sein Weggefährte während der Reisen in den Nahen und Mittleren Osten war, und dass er den West-Ost-Konflikt genauso wie den Aufstieg und Fall von Imperien auf eine bis heute beeindruckenden Art und Weise analysiert hat. "Herodot zeigt uns den Mechanismus, wie ein Imperium entsteht, was einen grenzenlosen Drang, eine Notwendigkeit zur Dominanz und Beherrschung zur Folge hat." Und zur eigenen Arbeitsweise: "Wissen Sie, dass ich meine Texte immer geglättet habe, weil ich dachte: wenn ich es so beschreibe, wie es wirklich war, wird man mir es nicht glauben und sagen 'das ist erfunden'? Ich habe gezielt Adjektive gestrichen, die Beschreibung getönt. Dabei war die Wirklichkeit viel dramatischer, furchtbarer...".
Archiv: Plus - Minus

Folio (Schweiz), 04.10.2004

Zürich, Zürichbergstraße 93. Unter dieser noblen Adresse würde man keine Studenten-WG erwarten, doch die Villa ist tatsächlich fest in studentischer Hand, wie der "NZZ-Folio-Onkel" Andreas Dietrich, der dort einige Monate zu Gast war, bezeugen kann. Und - wie sind sie so, die Studenten? Sind sie hingebungsvolle Bibliotheks- und Laborinsassen? Oder sind sie der Boheme und ihren Lastern verfallen? "In den kleinen Dingen enthüllt sich das intellektuelle Fluidum, das die studentische von der kommunen Kommune unterscheidet. Die Katze Löffel zum Beispiel: Sie hat nicht bloß einen Namen, sie hat eine Nomenklatur. Ursprünglich hieß das Sheba-verwöhnte Tier 'Josephine', was im mündlichen Alltagsausdruck zu 'Josy' verkürzt oder in einer inzwischen abgestorbenen Verästelung zeitweilig von 'Luchs' verdrängt wurde; dann setzte sich aufgrund eines auffälligen anatomischen Merkmals 'Flauschig' durch, das später mittels fremdsprachlicher Artikelerweiterung zu 'Le Flauschig' veredelt wurde; durch Verkürzung und Lautverschiebung, die von einem signifikanten Teil der Sprechgemeinschaft vollzogen wurde, entstand schliesslich die aktuell gültige Bezeichnung 'Löffel' - angewandte Linguistik für die Katz."

Weitere Artikel: "Gescheit oder gescheitert?" Folio hat Studenten in der Mensa mit einem Fragenkatalog auf ihre Allgemeinbildung hin getestet. Fazit: Durchwachsen. Peter Stücheli-Herlach, Dozent für Politische Kommunikation an der Zürcher Hochschule Winterthur, sinniert über die Zukunft der europäischen Universitäten im vielbeschworenen internationalen Wettbewerb. Die Studentin Pascale Bruderer, der Geisteswissenschaftler Ulrich Rudolph und der Naturwissenschaftler Gottfried Schatz gehen im Gespräch der Frage nach, inwieweit Auswahlverfahren an den Universitäten berechtigt sind. Markus Schneider führt eine Kosten-Nutzen-Rechnung aus der Sicht des Steuerzahlers durch. Trotz wachsender Studentinnen-Zahlen stellt sich die Frauenfrage immer noch, weiß Yvonne-Denise Köchli. Von Dario Venutti erfahren wir, warum die Leistungsbewertung an Universitäten zunehmend zum Problem wird. Schließlich stellt Jürg Ramspeck die Spezies des abgebrochenen Studenten vor und plädiert für dessen Recht, "seinen biografischen Knick als interessante Wendung in seiner Vita interpretatorisch nachzubessern".

Außerdem: "Welcher Duft atmet jene Stille, die auf langen Spaziergängen, auf denen man nur von seinem Schutzengel begleitet wird, nach und nach bis in die Fingerspitzen dringt?" Luca Turin hat "den Duft zum Sonntag" gefunden. Und Reto U. Schneider berichtet von einem bezeichnenden Experiment, bei dem ein ganzes Expertengremium auf den sinnlosen, aber brillanten Vortrag eines Schauspielers hereinfiel.
Archiv: Folio

Semana (Kolumbien), 03.10.2004

Weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit verhandelt derzeit die kolumbianische Regierung mit den rechtsradikalen paramilitärischen Verbänden des Landes über ein eventuelles Friedensabkommen. Vergangene Woche veröffentlichte das Nachrichtenmagazin Semana brisante Auszüge aus einem Mitschnitt der ansonsten geheimen Gespräche zwischen Regierungsunterhändler (und Psychoanalytiker) Luis Carlos Restrepo und den Anführern jener mehr als 10.000 Kämpfer, die mit brutalsten Methoden den linken Guerillagruppen entgegentreten. Seither gehen in der Redaktion düstere Drohungen ein und werden die Telefone der Journalisten abgehört.

Beides könnte damit zusammenhängen, dass Semana die Frage aufwirft, mit wem da eigentlich Gespräche geführt werden. "Sind das paramilitärische Gruppierungen mit sozialem Rückhalt und einem politischen Projekt zur Aufstandsbekämpfung? Oder handelt es sich um Drogenhändler, die die militärischen Strukturen der Selbstverteidigungsgruppen übernommen haben, um politischen Status zu erlangen, was es ihnen ermöglichen würde, mit der Regierung zu verhandeln, die Herkunft ihres Geldes zu verschleiern und ihr Strafregister zu bereinigen?", fragt das Magazin nun in einem sehr besorgten, außergewöhnlichen Leitartikel. Beispiele dafür, wie das funktioniert -die Drogenhändler kaufen sich tatsächlich für ein paar Millionen Dollar einen ganzen paramilitärischen Verband - hat Semana ebenfalls recherchiert (hier und hier, sowie ein Webdossier mit der bisherigen Berichterstattung über die Verhandlungen). Auch Experte Sergio Jaramillo findet, dass "der Begriff des Politischen" hier "an seine Grenzen" stößt. Trotzdem hält er ein Friedensabkommen noch für möglich.

In einem weiteren Artikel versucht der Schriftsteller Hector Abad seinen Landsleuten das Schweizer Staatsbürgerrecht zu erklären, das wie das deutsche auf dem Abstammungsprinzip basiert: "Wenn eine türkische Familie 1910 in die Schweiz einwanderte, dort 1920 einen Sohn zur Welt brachte und dieser Sohn seit nunmehr achtzig Jahre dort gelebt und gearbeitet hat, heißt das noch nicht, dass seine Söhne Schweizer sind". Sein Kollege Antonio Caballero indes wundert sich über die Blauäugigkeit der jüngst im Irak freigelassenen italienischen Geiseln. Die beiden Frauen erzählten, ihre Entführer gehörten vermutlich keiner politischen Gruppe an, denn schließlich hätten sie sich "hauptsächlich" über Religion unterhalten. "Dass die beiden, obwohl Italienerinnen, noch nicht bemerkt haben, dass Religion nichts anderes als Politik ist, erinnert daran, dass im Koran, laut Borges, kein einziges Kamel erwähnt wird. Unnötig, über derart Offensichtliches ein Wort zu verlieren", spottet Caballero.
Archiv: Semana
Stichwörter: Abad, Hector, Borgen, Irak, Kamel

New Yorker (USA), 11.10.2004

In einer umfangreichen Reportage berichtet Michael Specter über die Bedrohung, die in Russland inzwischen von AIDS ausgeht. "AIDS ist keine Thema, über das die Leute in Russland reden. Obwohl es sich hier schneller ausbreitet als anderswo in der Welt, gibt es praktisch keine Informationsspots im Fernsehen, und die Regierung tut so gut wie nichts für Prävention, Behandlung, Aufklärung oder Betreuung. In diesem Jahr beträgt das Gesamtbudget für HIV-bezogene Belange etwas über fünf Rubel pro Person - weniger als der Preis für ein Päckchen Zigaretten."

Weiteres: John Cassidy untersucht, ob sich Amerika von fremdem Öl unabhängig machen kann. Adam Gopnik verabschiedet den Fotografen Richard Avedon, der noch bis zum Schluss in jedem New Yorker mit einem Porträt vertreten war. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Scheme of Things" von Charles D'Ambrosio.

Besprechungen: David Denby las eine Studie, die sich mit der Geburt des modernen Lebens aus dem intellektuellen Milieu in Edinburgh im 18. Jahrhundert beschäftigt ("Crowded with Genius", Harper Collins). Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer Biografie der Malerin Georgia O'Keeffe. Nancy Franklin stellt die vierteilige TV-Serie "Tanner on Tanner" über einen fiktiven demokratischen Präsidentschaftskandidaten vor, mit der Robert Altman und Garry Trudeau ihre Produktion "Tanner ?88" von 1988 fortsetzen, außerdem die Dokumentation "Diary of a Political Tourist" von Alexandra Pelosi, die fast zwei Jahre lang die Kandidatensuche der Demokraten für den Präsidentschaftswahlkampf begleitet hat. Und David Denby sah im Kino Mike Leighs Sozialdrama "Vera Drake", das in diesem Jahr in Venedig den Goldenen Löwen gewann, und den Historientheaterfilm "Stage Beauty" von Richard Eyre.

Nur in der Printausgabe: Porträts der ökologischen Marketingstrategin Mary Jane Butters und des religiösen Geldschefflers Creflo Dollar sowie Lyrik von Edward Hirsch und Mark Strand.
Archiv: New Yorker

Gazeta Wyborcza (Polen), 02.10.2004

Im Magazinteil der Gazeta Wyborcza analysiert die Kulturhistorikerin und Literaturwissenschaftlerin Maria Janion die bizarren Wiederbelebungsversuche von romantischen, nationalen Stereotypen in der gegenwärtigen politischen Debatte in Polen. Sie stellt fest, dass das nationale Bewusstsein von einer Konzeption dominiert wird, die sich aus einer Mischung von "Messianismus, Märtyrertum und Kreuzzugsmentalität" zusammensetzt, während die aufklärerische, rationalistische Tradition zunehmend an Boden verliert. Janion zitiert Imre Kertesz: "Es scheint, als ob die mit einem Vaterkomplex beladene, in einer sadomasochistischen Perversion lebende Seele eines kleinen, mitteleuropäischen Volkes ohne einen mächtigen Unterdrücker nicht leben kann, dem sie die Schuld für alle historischen Niederlagen zuschieben kann, oder ohne eine nationale Minderheit, diesen Sündenbock, an dem man sich ausleben kann um all dem, durch das alltägliche Versagen angestauten, Hass und den Ressentiments Luft zu machen". Besonders im Verhältnis zu den slawischen Nachbarn verfängt man sich in einer Art schizophrenen, postkolonialen Diskurs, so Janion: einerseits fühlen sich die Polen von Russland dominiert und bedroht, andererseits würde man gegenüber den Ukrainern und Belarussen auch gerne die Großmacht geben. "Bis heute fühlen wir uns ihnen überlegen, empfinden aber gleichzeitig eine Artverwandschaft mit ihrer Unterlegenheit".
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Kertesz, Imre, Sündenbock

Times Literary Supplement (UK), 01.10.2004

Der Schriftsteller Navid Kermani beschreibt in einem online leider gekürzten Artikel das Erfolgsgeheimnis Osama bin Ladens: die Sprache. "Als ich Osama bin Ladens erste Video-Botschaft nach dem Beginn der Luftoffensive gegen Afghanistan gesehen habe, war ich von dem exquisiten Arabisch beeindruckt, das er sprach. Nicht ein einziges Mal verfiel er in Dialekt, wie das üblich ist in der modernen Generation arabischer Führer, und er verwechselte auch nicht die komplizierten Beugungsendungen, ein Fehler, den sogar Intellektuelle machen. Er wählte ein antiquiertes Vokabular, das gebildete Araber aus der religiösen Literatur und der klassischen Poesie kennen, und er vermied Neologismen. Es war tatsächlich das steife, puritanische, konformistische, künstliche Arabisch, dass ich oben beschrieben habe, aber es war makellos. Und so, als ich bin Ladens Video sah, merkte ich, wie ich zum ersten Mal in seinen Bann gezogen wurde."

Thomas Dixon fragt sich nach der Lektüre zweier Aufsatzsammlungen und einer Monografie, zu was unsere Gefühle gut sind. Beherrschen Sie uns oder benutzen wir sie? Keith Miller liest zwei Bücher über Massenmedien, Fernsehen und die Gesellschaft und findet keines überzeugend. Richard Hoggarts maßlose Kritik missfällt ihm besonders: "Die Massenmedien in der Massengesellschaft bieten Hoggart eine lange Liste an Dingen, die seiner Meinung nach falsch laufen in England. Kultureller Relativismus, Starverehrung, (...) und zu wenig Flughafenlounges." Recht freundlich dagegen bespricht John Keegan Elizabeth Büttners Untersuchung eines Themas, das die Briten wohl übersehen haben, "weil es direkt vor ihrer Nase lag": die verwickelte Situation der Kinder britischer Beamter in Indien, die zur Erziehung nach England geschickt wurden.

Nepszabadsag (Ungarn), 01.10.2004

Wie sieht sich heute der kleine baltische Staat Lettland? Die Antwort, die der Dichter Knuts Skujenieks in der in mehreren europäischen Tageszeitungen erscheinenden Artikelreihe "Museum Europa" darauf gibt, ist unter anderem ein Foto aus dem Jahre 1958. Darauf ist eine aus der sibirischen Deportation zurückgekehrte Bauernfamilie zu sehen. Außerdem führt er auf: Eine lettische Käsesorte, deren Form die Sonne oder auch das Universum darstellt, einen nur für lettische Bauernhäuser typischen, von zeitgenössischen Designern wiederentdeckten Stuhl und eine Novelle von Vizma Belsevica, in der es um zwei einsame Greisinnen geht, für die in den Zeiten der kommunistischen Diktatur die Vorbereitung auf eine würdige Beerdigung zum Sinn ihres Lebens wird.
Archiv: Nepszabadsag

Figaro (Frankreich), 30.09.2004

Im Figaro litteraire fragt sich Jacques de Saint-Victor in einem Essay, ob die Intellektuellen am Ende sind, und warum sie - gleich, ob links oder rechts - nicht stärker den Vorteil der öffentlichen Bühne nutzen. Unter Hinweis auf eine lesenswerte Neuerscheinung ("Histoire des gauches en France", herausgegeben von Jean-Jacques Becker und Gilles Candar, 2 Bände, La Decouverte) und nach einem kleinen Rekurs auf intellektuelles Selbstverständnis geht Saint-Victor hart mit diesem ins Gericht: "Die Revolution steht nicht auf der Tagesordnung, die intellektuelle Kritik macht vielmehr mit dem gleichen Zynismus weiter, uns ihre ständig mitleiderregende Lage beizubringen. ... Kurz: Sie spielt immer beide Karten aus, den Moralismus und den Zynismus. Es gibt keinerlei Grund, dass dies aufhört. Zumal in einer Zeit die Mitgefühl und Opferhaltung zum Maßstab allen Erfolges gemacht hat ..."

Hingewiesen wird außerdem auf die Studie "Les Intellectuels en France" von Jean-Francois Sirinelli und Pascal Ory (Collection Tempus, Perrin) und zwei weitere Artikel: Einen Text über den "Fluch der intellektuellen Rechten " sowie ein Interview mit dem Geschichtswissenschaftler und Spezialisten für die Ideologiengeschichte des 20. Jahrhunderts, Michel Winock, der darin erklärt: "Wir brauchen eher Denker als Propheten".
Archiv: Figaro

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.09.2004

Der Schriftsteller Istvan Eörsi läutet in der prominentesten kulturellen Wochenzeitung Ungarns sämtliche Alarmglocken: "Unsere Geliebte, die Pressefreiheit, blutet aus mehreren Wunden, wir müssen schon um ihr bloßes Leben kämpfen". Eörsi wurde am 9. September wegen eines Zeitungsartikels angeklagt und hat in einem der spektakulärsten und vielleicht auch lehrreichsten Medienprozesse der neuesten ungarischen Geschichte verloren. Die erfolgreiche Klägerin ist Maria Schmidt, Direktorin des Budapester Museums "Haus des Terrors", die von Eörsi unter anderem "eine auf Geschichtsfälschung spezialisierte Geschäftsfrau" genannt wurde, weil sie laut Eörsi die Horthy-Ära der 1930-er Jahre in unterschiedlichen Foren schön zu reden versuche. So bezeichnete sie das Ungarn dieser Zeit als "eine auf einem Mehrparteiensystem basierende, parlamentarische Demokratie". Eörsi beklagt, dass das Gericht nicht den "Wahrheitsgehalt" seiner Äußerungen überprüfte, sondern ausschließlich ihren Stil.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 30.09.2004

Kairo hat das europäische Kino wiederentdeckt! Nachdem in den gesamten Neunzigern gerade man zwei (!) europäische Filme in Ägypten liefen, brachte ein zweiwöchiges Festival mit Filmen von Lars von Trier, Wim Wenders und vielen anderen die Erkenntnis, dass großes Interesse an Alternativen zu Hollywoods Big-Budget-Kino besteht - die Säle platzten aus allen Nähten, berichtet Hani Mustafa. Organisiert wurde das Programm von der Regisseurin und Produzentin Marianne Khoury, die von Yasmine El-Rashidi wunderbar porträtiert wird: als Energiebündel, Filmbesessene, Beobachterin des Lebens.

Mohamed Hassanein Heikal, einst ein enger Mitstreiter von Nasser, seit vielen Jahrzehnten Journalist und renommierter politischer Kommentator in der arabischen Welt, hat den Sommer über im Fernsehsender Al-Dschasira in einer wöchentlichen Sendung die arabische Gegenwart im historischen Kontext dargestellt. Al-Ahram veröffentlicht Auszüge, in denen Heikal den Verlust arabischer Einheit kritisiert, die imperialen Ansprüche der Vereinigten Staaten aus der amerikanischen Geschichte heraus erklärt und die Zukunft israelisch-arabischer Konflikte in einen geopolitischen Rahmen stellt.

Thema Buchmesse: Rania Gaafar hat sich angeschaut, was die deutschen Medien im Vorfeld über die arabische Welt zu sagen haben, und stellt fest: erstens, jede Menge, und zweitens, endlich mehr über Literatur und Kultur und weniger über Politik - den Themen, die seit dem 11. September in einem krassen Missverhältnis standen. Peter Ripken, Projektmanager und Leiter der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika, bestätigt diese Eindrücke und ist optimistisch, dass die Präsentation einen enormen und nachhaltigen Aufschwung arabischer Literatur und Kultur in Europa zur Folge haben wird - Anzeichen dafür hat er bereits im Vorfeld der Messe gefunden. Doch während Ripken die Kritik am offiziellen Programm abwehrt, wird sie vom Schriftsteller Bahaa Taher verstärkt, der hier seine Entscheidung begründet, die Frankfurter Präsentation zu boykottieren.

Schließlich, als Bonbon, ein Gedicht Mahmud Darwischs in Erinnerung an Edward Said - hier der Beginn:

"New York/ November/ Fifth Avenue
The sun a plate of shredded metal
I asked myself, estranged in the shadow:
Is it Babel or Sodom?
..."
Archiv: Al Ahram Weekly

Economist (UK), 01.10.2004

Mehr oder weniger belustigt beobachtet der Economist, wie die EU-Diplomatie in Sachen EU-Beitritt der Türkei ihre bewährte Methode anwendet: Sie treibt den Prozess in vielen kleinen Schritten voran, "die es einem fast unmöglich machen zu erkennen, wann die Linie tatsächlich überschritten ist." Und in der Tat sei niemand wirklich in der Lage zu sagen, ob der türkische Beitritt schon beschlossene Sache sei oder nicht. Insgesamt, beobachtet der Economist, beunruhigt diese Frage jedoch immer weniger Menschen, da vielerseits ein grundlegendes Umdenken stattgefunden habe. Auch wenn einige, wie das niederländische Kommissionsmitglied Frits Bolkestein, der Meinung seien, "eine unkontrollierte muslimische Einwanderung nach Europa würde bedeuten, das Zurückschlagen der Türken vor den Toren Wiens im Jahre 1683 sei umsonst gewesen."

Wachsendes Unbehagen hingegen bereitet dem Economist, dass die religiösen Wähler bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl zum Zünglein an der Waage werden könnten - zugunsten der Republikaner, deren Anziehungskraft jetzt auch auf die Katholiken überschwappt. "Die Republikaner werden zur Partei der engagierten Christen, die Demokraten zur Partei der engagierten Sekularisten. Es könnte gut sein, dass diese Wahl zu einer Entscheidung zwischen Michael Moores 'Fahrenheit 9/11' und Mel Gibsons 'The Passion of the Christ' wird. Nicht gerade eine appetitliche Entwicklung für diejenigen, die sich für keinen der beiden Filme erwärmen konnten."

Im Aufmacher: Böse Aussichten für die Weltwirtschaft.
Archiv: Economist

Spiegel (Deutschland), 04.10.2004

Petra Bornhöft und Tina Hildebrandt suchen nach den tieferen Gründen für die Heftigkeit der Auseinandersetzungen zwischen Otto Schily und seinen ehemaligen grünen Parteigenossen: "Schily, der schon als Kind in weißen Hosen Krocket spielte, regt die verbürgerlichten Grünen auch deshalb so auf, weil sie in ihm geradezu eine Karikatur ihrer selbst sehen."

Weitere Artikel: Inzwischen arbeiten in Deutschland die ersten Ein-Euro-Jobber. Caroline Schmidt hat ausschließlich zufriedene Leute angetroffen. Alle brannten darauf, überhaupt irgendetwas zu tun. Anders gesagt - und in den Worten von Schmidt: "Die Probe aufs Exempel - wenn die antreten sollen, die bisher wenig Lust aufs Arbeiten verspüren - steht demnach noch aus." Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nimmt sich im Interview der Ängste der Europäer an. Und Jürgen Kremb und Peter Wensierski erzählen die tragische Geschichte des letzten Toten am Eisernen Vorhang: Der 36-jährige Architekt Kurt-Werner Schulz aus der DDR starb an der ungarisch-österreichischen Grenze wenige Wochen, bevor diese endgültig geöffnet wurde. Als seine Frau "am 9. November 1989 den Fall der Mauer im Fernsehen verfolgt, wünscht sie, dass alles nicht wahr ist, 'damit Kurts Tod nicht so sinnlos war'."

Im Print: Artikel und Rezensionen zur Buchmesse und ein Porträt des Reporters Seymour Hersh.

Im Titel erklärt Volker Hage, warum Friedrich Schiller heute noch immer "so frisch wie vor 200 Jahren" wirkt - und Schiller-Biograf Rüdiger Safranski erläutert die "Bedeutung des Dichters als Philosoph".
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 04.10.2004

Vergangene Woche haben wir schon Philip Roths Bericht über die Entstehungsgeschichte seines neuen Buches "The Plot Against America" lesen dürfen, jetzt bestätigt ein begeisterter Paul Berman, was sich schon angedeutet hat. "Philip Roth hat einen grandiosen politischen Roman geschrieben, wenn auch in einer Weise, die seine Leser nie geahnt haben - die Fabel eines alternativen Universums, in dem Amerika faschistisch geworden ist und das Alltagsleben unter einer Dampfwalze von nationaler Politik und Massenhass plattgewalzt wird. Hitlers Alliierte regieren im Weißen Haus. Antisemitische Mobs beherrschen die Straße." Berman weiß gar nicht, wo er mit dem Lob anfangen soll. "Der Roman ist düster, lebendig, traumhaft, grotesk und gleichzeitig unheimlich glaubwürdig." Das Fazit: "Roth hat seinen Weg in einen archetypischen Alptraum gefunden - die bange, uralte Mitternachtsangst der amerikanischen Juden." Hier das erste Kapitel, hier mehr über den Autor.

Großartig! David Orr ist in die Tiefen des Netzes getaucht und hat knapp 25 Websites heraufgeholt, in denen sich alles um Literatur dreht. Von Maud Newtons Blog, das als eine der besten Quellen für Neuigkeiten aus dem Verlagswesen gepriesen wird, bis hin zu WordsWithoutBorders, deren norwegische Betreiber es sich zur Aufgabe gemacht haben, möglichst viele Bücher ins Englische zu übersetzen.

Tom Carson mag Jon Stewart nicht nur, weil er in der ersten Folge seiner täglichen Comedy Show nach dem 11. September geweint hat, sondern auch weil er Bücher schreibt wie "America (The Book). A Citizen's Guide to Democracy Inaction", in dem er "selbstironischen jüdischen Witz mit Ivy-League-Schickheit" verbindet. Nicht immer überzeugend findet dagegen Colm Toibin die Versuche Stephen Greenblatts, in seiner Shakespeare-Biografie "Will in the World" aus der Vita des Meisters sein Oeuvre zu destillieren. Ben Macintyre glaubt Jonathan Randal, wenn er Osama Bin Laden als Geschäftsmann in Sachen Terror sieht, der beinahe schon unsterblich ist. Die Printausgabe kommt in aufgefrischtem Gewand daher, neu ist eine Kolumne zur Welt der Bestseller. Dwight Garner nimmt sich zum Einstand die allererste Bestenliste aus dem Jahr 1935 vor, die es hier als Pdf gibt.

Aus naheliegenden Gründen ist diese Ausgabe des New York Times Magazine der Kunst gewidmet. Am 20. November öffnet das MoMa seine runderneuerten Pforten. Arthur Lubow schafft es in einer der längsten Reportagen der vergangenen Jahre, aus der monatelangen Vorbereitungsarbeit der Kuratoren eine spannende Geschichte zu machen. Lubow verrät auch schon einiges. So wird nicht mehr der Badende von Cezanne die Besucher in der Eingangshalle begrüßen, sondern Paul Signacs Werk "Vor dem Hintergrund eines Hintergrunds voller rhythmischer Hebungen und Winkel, Töne und Farben, ein Porträt von M. Felix Feneon im Jahr 1890". MoMA-Direktor Glenn Lowry soll begeistert gewesen sein, als er im April das briefmarkengroße Bild am Schaumstoffmodell des Museums entdeckte, das den Kuratoren zur Veranschaulichung dient. "Ich würde sagen, wir können den Vorhang heben." Hier kann man sich unterlegt von Schwenks durch das halbeingerichtete Museum die Erklärungen des Kurators John Elderfield anhören.

Weiteres: Mit glamourösen Fotos von Tina Barney stellt Maura Egan die Frauen vor, die New Yorks Kunstszene als Mäzene mit ihrem Geld nähren und lenken. Wo sind die großen Impresarios der Vergangenheit geblieben, fragt sich Jesse Green, wenn er sich die Anwärter auf den Chefposten des geschichtsträchtigen Public Theatre ansieht. In einer weiteren Galerie sind Porträts aus der Hand von Elizabeth Peyton zu sehen, eine der erfolgreicheren jungen Malerinnen New Yorks. James Traub grübelt, ob die Museen auch in Zukunft noch als Rückzugstätten aus dem hektischen Stadtleben taugen werden. Und Russell Shorto besucht Nonesuch Records, um herauszufinden, wie dieses kleine aber feine Label den Weg in die Zukunft der Musikindustrie weisen könnte. 
Archiv: New York Times